Beilage z. „Wildbader Chronik."
Nro. 37. I
Alnterhcrttenöes.
Ans Nacht Mm Licht.
von Hugh Conwoy.
20) (Nachdruck verboten.)
Ich kannte die Hausleute gut und wußte, daß sie während meiner Abwesenheit in guten Händen sein werde; denn ich wollte schon nach einigen Stunden der Rast auf meine Suche nach Ceneri aufbrechen. Ich hatte von Edinburgh aus in die Wohnung geschrieben und den guten Leuten gemeldet, daß sie mich und meine Ge- mahlin erwarten sollten; überdies hatte ich meiner treuen alten Dienerin Priscilla geschrieben und sie gebeten, bei meiner Ankunft zugegen zu sein, wußte ich doch, daß sie mir zuliebe dem armen Mädchen alle Freundlichkeit erweisen werde. So gingen wir denn nach Wal- pole-Street, wo alles für unS in Bereit- schüft war. Priscilla empfing uns mit Augen voller Neugier und Verwunderung, und ich sah, daß sie Paulinen auf der Stelle lieb gewann. Nachdem wir etwas zu uns genommen hatten, bat ich Priscilla, meine Frau auf ihr Zimmer zu führen, damit sie sich auSruhe. Pau- line, in ihrer kindlichen, folgsamen Weife, erhob sich und folgte der Alten.
„Wenn du Mrs. Naughau bedient hast, komm zu mir,* sagte ich. „Ich muß mit dir sprechen.*
Priscilla hatte selber Eile, zu mir zu» rückzukomme»; ich fühlte, daß sie vor Begierde zitterte, mich mit Fragen über meine unerwartete Heirat zu überschütten; doch ließ ich sie nicht zu Worte kommen. Mein Gesicht mußte ihr gesagt haben, daß ich ihr nichts Angenehmes mitzuteilen habe. So setzte sie sich und hörte meiner Erzählung, wie ich sie gebeten hatte, ohne jede Bemerkung zu. Ich bedurfte einer vertrauten Seele, und die Alte, das wußte ich, war verläßlich und würde schweigen. So sagte ich deun alles, oder doch fast alles; ich erklärte ihr, so gut ich konnte, Paulinens Seelen- zustaud, gab ihr alle Ratschläge, die mir nach meiner kurzen Erfahrung nützlich schienen, und bat Priscilla bei ihrer Liebe zu mir. mein geliebtes Weib in meiner Abwesenheit zu pflegen und ihr freundlich zu begegnen. Als sie wir das versprochen hatte, warf ich mich aufs Sofa und schlief einige Stunden.
Nachmittags sah ich Pauline wieder. Auf meine Frage, ob sie wisse, wohin ich Ceneri schreiben könne, schüttelte sie das Haupt.
„Denke nach, meine Liebe,* sagte ich.
Sie drückte ihre zarten Fingerspitzen an ihre Stirne. Ich hatte schon bemerkt, daß das Nachdenken ihr sehr beschwerlich war.
„Teresa hat es gewußt," sagte ich, um ihr zu helfen.
„Ja, frage sie.»
„Aber sie hat uns ja verlassen, Puu- liue. Kannst du mir sagen, wo sie ist?»
Wieder schüttelte sie hoffnungslos das Haupt.
„Er sagte mir, er wohne in Genf,* Versetzte ich. „Weißt du die Straße?*
eitag, öen 2S. März 1904
Sie schaute mich verwirrt an. Ich seufzte, da ich sah, daß meine Fragen vergeblich seien.
Und doch mußte ich ihn finden. Ich wollte nach Genf gehen. Wenn der Mann ein Arzt war, wie er behauptet, io mußte man ihn kennen, und sollte ich seine Spur in Genf nicht finden, wollte ich es mit Turin versuchen. Ich ergriff die Hand meiner Gattin.
„Ich gehe für einige Tage fort, Pauline, und du bleibst hier, bis ich wieder- komme. Man wird dich freundlich be- handeln und Priscilla wird dir alles verschaffen, was du bedarfst.»
„Ja, Gilbert,» sagte sie sanft. Ich hatte sie gelehrt, mich bei meinem Namen zu nennen.
Nachdem ich Priscilla noch einige Verhaltungsmaßregeln gegeben hatte, reiste ich ab. Als mein Cab vom Thore wegfuhr, warf ich einen Blick auf das Fenster des Zimmers, in welchem ich Pauline verlassen hatte. Sie stand da und schaute auf mich herab, und eine große Freude erfüllte mein Herz, denn eS schien mir, als sei ihr Blick traurig, wie der eine- Menschen, welcher einen lieben Freund verliert. Vielleicht war eS nur eine Einbildung, aber da ich früher auch nicht die Ahnung eines solchen Blickes bei ihr gesehen, war er mir ein kleiner Trost auf meinen Weg.
Und jetzt nach Genf zum äottors Ceneri! ...
6 Kapitel-
Unbefriedigende Auskünfte.
Ich reiste in fieberhafter Eile, so schnell mich der Dampf weiterbringen wollte, nach Genf, wo ich sogleich meine Nachforschungen nach Doktor Ceneri begann. Ich hatte gehofft, ihn leicht finden zu können, denn seine Worte hatten mir die Meinung beigcbracht, er übe in der Stadt seine Praxis aus, und wenn dies der Fall war, mußten ihn viele Leute kennen. Aber er hatte mich irregeleitet oder ich hatte mich getäuscht. Einige Tage hindurch suchte ich ihn in allen Ecken und Enden, aber keine Seele kannte den Mann. Ich besuchte jeden Arzt der Stadt, aber auch von diesen wußte keiner etwas über diesen Kollegen. Endlich war ich überzeugt, daß er mir einen erdichteten Namen angegeben habe oder daß er nicht in Genf wohne. So unberühmt ein Arzt auch sein mag, von einigen seiner Kollegen in derselben Stadt wird er doch gekannt. Ich beschloß also, nach Turin zu gehen und dort mein Glück zu versuchen.
Am Vorabend meiner beabsichtigten Abreise schlenderte ich verdrießlich umher und versuchte es, mich zu überreden, daß ich in Turin besseren Erfolg haben werde, als ich einen Mann bemerkte, welcher die andere Seile der Straße entlang ging. Da mir sein Gesicht und seine Haltung bekannt vorkamen, ging ich über die Straße, um ihn genauer sehen zu können. In die unvermeidliche Touristentracht gekleidet, bot er den Anblick eines gewöhnlichen britischen Reisenden, und zwar so genau, daß ich mich getäuscht zu haben
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glaubte. Aber ich hatte doch recht ge- habt, denn trotz seines fremden Anzuges erkannte ich in ihm, in dem Augenblicke, da ich ihm näher kam, den Herrn, mit welchem Kenyon vor der Kirche San Giovanni einen Wortstreit gehabt hatte, den Herrn, welcher uns wegen unserer unverhohlenen Bewunderung Paulinens zur Rede gestellt hatte, den Herrn, welcher dann Arm in Arm mit Ceneri fortgegangen war.
Dieses Zusammentreffen mußte ichauS- nützen, denn sicher wußte er, wo der Doktor zu finden sei. Ich hoffte, sein Phyfiognomiengedächtnis werde nicht so gut sein wie das meinige, und daß er mich nicht mit jenem unangenehmen Vorfälle in Verbindung bringen werde. Ich trat auf ihn zu, und indem ich meinen Hut lüftete, bat ich ihn, mir eine kurze Unterredung zu gewähren. Ich sprach englisch. Er warf einen raschen, durchdringenden Blick auf mich, dann erwiderte er meinen Gruß und stellte sich, in der- selben Sprache, ganz zu meiner Verfügung.
„Ich suche die Adresse eines Herrn zu erfahren, welcher, wie ich glaube, in dieser Stadt wohnt. Vielleicht könnten Sie mir dabei helien?*
Er lachte. „Mit Vergnügen. Da ich aber selber ein Engländer bin wie Sie und wenig Leute hier kenne, fürchte ich. Ihnen nicht von Nutzen sein zu können.»
„Ich suche nämlich einen Arzt Namens Ceneri.*
Wie er zusammenfuhr, als er diese Worte hörte, der fast drohende Blick, den er auf mich warf, zeigte mir, daß er den Namen kannte. Doch war er augenblicklich wieder ganz gefaßt.
„Ich erinnere mich nicht, diesen Namen gehört zu haben, und bedaure. Ihnen nicht behilflich sein zu können.»
„Aber", sagte ich auf italienisch, „ich habe Sie doch schon in seiner Gesellschaft gesehen!»
Er schaute mich fast zornig an. „Ich kenne keinen Herrn dieses Namens. Guten Tag!"
Er lüftete seinen Hut und entfernte sich. Ich gab ihn aber nicht so leicht auf, beschleunigte meine Schritte und holte ihn ein.
„Ich muß Sie ersuchen, mir zu sagen, wo ich ihn finden kann, denn ich habe Wichtiges mit ihm zu sprechen. Sie können doch nicht leugnen, daß Sie ihn kennen?"
Er zögerte und blieb dann stehen. „Sie sind sehr zudringlich, Slr. Wollen Sie mir vielleicht gütigst mitteilen, wo- her Sie so bestimmt wissen wollen, daß der Herr, den Sie suchen, mit mir bekannt ist?"
„Ich sah Sie Arm in Arm mit ihm.*
„Wo, wenn ich fragen darf?*
„In Turin — voriges Frühjahr. Vor San Giovanni.»
Er schaute mich aufmerksam an. „Ja, jetzt erinnere ich mich Ihres Gesichtes. Sie sind einer von den beiden jungen Herren, welche unartig gegen eine Dame waren und die ich zu züchtigen mir vornahm."
(Fortsetzung folgt.)