Beilage z. „Wildbader Chronik.
Ireitag, öen 19. Jebrucrv 1904
Nro. 22.
Unterhaltendes.
Ans Nacht zum Licht
von Hugh Conway.
6) (Nachdruck verboten.)
Und es war gut, daß ich stillhalten und immer wieder schreien konnte: „Ich bin blind! Seht mich nur an!" Meine Regungslosigkeit, der Ton meiner Stimme mögen die Wage, in welcher mein Leben lag, gelenkt und meinen Zuhörern die Ueberzcugung beigebracht haben, daß ich die Wahrheit sprach. Jetzt drang der scharfe Lichtstrahl einer Lampe in mein umnachtetes Auge, einer Lampe, welche man mir so nahe hielt, daß ich deren Glut auf meinem Gesichte fühlte, und ich bemerkte, daß irgend jemand sich hcrab- beugte oder niederknieete und in meine Augen starrte. Sei» Atem berührte meine Wange, ein kurzer, rascher, erregter Atem; wie konnte es auch anders sein nach der Tat, an welcher der Mann soeben teilgenommen hatte!
Endlich erhob er sich, einen Augenblick später ließen mich die niederhaltenden Hände loS, und jetzt begann ich zum erstenmal zu hoffen, daß mein Leben verschont bleiben werde.
Bis jetzt hatte noch niemand um mrch herum geredet. Nun hörte ich Stimmen, aber so flüsternd, daß selbst mein geschärftes Gehör die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, obwohl lch bemerkte, daß wenigstens drei Personen sich an dieser gedämpften Beratung beteiligten.
Während dieser ganzen Zeit konnte ich gleich einer schrecklichen und passenden Begleitung jenes erstickte Stöhnen hören, das Stöhnen eines Weibes. Ich hätte alles, was ich besaß, dafür geben mögen, alles, außer meinem Leben, wenn ich nur einen Augenblick hindurch gesehen hätte, um zu begreifen, was vorgegangen und was noch um mich herum vorgiug.
Das Flüstern wahrte fort; heftig, rasch, sich überstürzend, als ob Menschen in eifriger, aber vorsichtiger Erörterung begriffen mären. Es war leicht zu erraten, waS sie verhandelten. Jetzt verstummte auch das, und das einzige, was ich hörte, war jenes schreckliche, erstickte Stöhnen, welches mit schauerlicher Monotonie fortwährte.
Ein Fuß berührte mich. „Sie können aufstehen!" hörte ich jemanden sagen. Als ich so tollkühn in das Zimmer stürzte, hatte ich mir eingebildet, daß der Ausruf, welcher mich empfing, von ausländischen Lippen käme, aber der Mann, welcher mich jetzt anredete, sprach in reinem Englisch. Erst jetzt gewann ich wieder Fassung und war fähig, dergleichen zu bemerken.
Dankbar dafür, daß mir erlaubt wurde, mein furchtbares Lager zu vcr- lassen, erhob ich mich und, da ich nichts Besseres zu tun wußte, blieb ich regungs los stehen.
„Gehen Sie daher — geradeaus — vier Schritte!" sagte die Stimme. Ich gehorchte. Der dritte Schritt schon ließ mich an eine Wand' anrennen. Ohne Zweifel war dies noch eine Probe, ob ich hie Wahrheit gesprochen hatte.
Eine Hand legte sich auf meine Schul- ter und ich ward zu einem Sessel geleitet. „Nun, mein Herr," sagte der Sprecher, welcher mich früher angeredet hatte, „sagen S>e uns, in so wenig Worten, als möglich, wer Sie sind, wie und warum Sie hierher kamen? Seien Sie rasch, wir haben keine Zeit zu verlieren !"
Ich wußte wohl, daß sie keine Zeit zu verlieren hatten. Sie hatten ja viel zu tun, viel zu verbergen! Ach, nur kür einen Moment sehen können! Durch Jahre der Blindheit würde ich's haben erkaufen mögen.
So kurz und gut ich eS vermochte, sagte ich ihnen, was mich in diese Lage gebracht. Das einzige, was ich verschwieg, war mein wahrer Name. Wozu brauchten diese Mörder ihn zu wissen? Wenn ich denselben nannte, hätten Sie mich recht leicht überwachen und sobald es ihre Sicherheit verlangte, das Schicksal dessen teilen lassen welcher nur wenige Schritte von meinem Sessel lag. So gab ich also einen fingierten Namen an, aber alles andere, was ich ihnen sagte, war Wahrheit.
Solange ich sprach, hörte ich stets jenen qualvollen Ton vom andern Ende des Zimmers her. Er trieb mich fast zum Wahnsinn. O! hätte ich durch diese Finsternis hindurch einen dieser Männer fassen und töten können, ich glaube, ich hätte es getan, selbst um den Preis meines Lebens!"
Als ich mit meiner Erzählung zu Ende war, fand ein anderes geflüstertes Gespräch statt. Dann forderte der Sprecher den Schlüssel von mir, welcher mir fast das Leben gekostet hätte. Ich glaube, sie versuchten ihn und fanden, daß ich die Wahrheit gesprochen. Er wurde mir nicht zurückgcgeben, aber wieder hörte ich jene Stimme:
„Zum Glück für Sie wollen wir Ihre Geschichte glauben. Stehen Sie auf!" Ich tat so und man führte mich in einen andern Teil deS Zimmers, wo man mich wieder niedersitzen ließ. Als ich nach der Weise der Blinden meine Hände ausstreckte, fühlte ich, daß ich mich in einer Zimmerecke befand, mit dem Gesichte dem Winkel zugekehrt.
„Wenn Sic sich bewegen oder um- sehen," sagte die Stimme, „glauben wir nicht mehr an Ihre Blindheit."
ES war nicht möglich, die fürchterlich» Drohung mißzuverstehen, welche in diesen letzten Worten lag. Ich konnte nichts tun als ruhig sitzen und mit allen mei- nen Ohren lauschen.
Ja, sie hatten viel zu tun. Sie bewegten sich geschäftigt hin und her. Ich hörte Kasten und Schränke öffnen, vernahm das Geräusch von Papieren, welche man zerriß, und verspürte den Geruch von Papieren, welche man verbrannte. Ich hörte sie irgend eine leblose Masse vom Boden aufheben, hörte das Rascheln des Zerreißens von Tuch oder Leinwand,
!hörte das Klingeln von Geld, selbst das Ticken einer Uhr, welche man irgendwo hervorzog und auf einen Tisch ganz in der Nähe legte. Daun fühlte ich einen Lufthauch und wußte, daß man die Türe
40. Jahrgang.
aufgemacht habe. Ich hörte Fußtritte auf der Stiege, die Tritte von Männern, welche eine schwere Last trugen, und ich schauderte bei dem Gedanken, was für eine Last das sei.
Bevor diese letzte Arbeit vollbracht wurde, hatte das Stöhnen des Frauenzimmers, nachdem es immer schwächer und nur mit Unterbrechungen hörbar geworden, aufgehört. Dieses Verstummen war eine große Erleichterung für meine überreizten Nerven, aber mein Herz bebte bei dem Gedanken, daß es nun zwei Opfer sein möchten, anstatt eines.
Obwohl wenigstens zwei Männer jene Last hätten wegtragen müssen, wußte ich doch, daß ich nicht allein geblieben sei. Ich hörte, wie jemand sich mit einem müden Seufzer in einen Stuhl warf und erriet, daß er znrückgelassen worden sei, um mich zu bewachen. Ich sehnte mich, von hier fortzukommen, sehnte mich, zu erwachen und zu finden, daß ich nur geträumt habe. Da diese Beängstigung oder dieser Alp unerträglich wurde, sagte ich, ohne meinen Kopf zu wenden:
„Wie lange will man mich noch in diesen Schrecknissen festhalten?"
Ich hörte den Mann sich in seinem Stuhle bewegen, aber er gab mir keine Antwort. „Darf ich nicht fortgehen?" bat ich. „Ich habe nichts gesehen. Führen Sie mich auf die Straße hinaus, wo immer hin. Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch länger hier bleibe."
Noch immer keine Antwort. Ich sagte nicht- weiter. Gleich darauf kehrten die Abwesenden zu ihrem Gefährten zurück und ich hörte hinter ihnen die Türe zumachen. Dann folgte wieder Geflüster und ich vernahm das Herausziehen eines Korkes und das Geklirr von Gläsern. Sie erfrischten sich nach ihrem düsteren nächtlichen Werke.
Jetzt wurde ein seltsamer Geruch, der irgend eines Gebräues, bemerkbar. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ein voller Glas ward mir in di« Hand gegeben.
„Trinken Sic!" sagte die Stimme, die einzige Stimme, welche ich gehört.
„Ich will nicht," rief ich, „eS könnte Gift sein." Ich vernahm ein kurzes, scharfes Lachen und fühlte einen kalten, metallischen Ring meine Stirne berühren.
„Es ist kein Gift. Es ist ein Schlaftrunk und wird Ihnen nichts schaden. Aber das da — und als er sprach, fühlte ich den Druck der kleinen eisernen Rundung — ist ein anderes Ding. Wählen Sie!"
Ich trank das Glas aus und war glücklich, als ich fühlte, daß die Pistole von meinem Haupte entfernt wurde. »Jetzt," sagte der Sprecher, mir das leere Glas aus der Hand nehmend, „wenn Sie vernünftig sind, sagen Sie morgen beim Erwachen: ,Jch war betrunken oder habe geträumt? Sie haben unS gehört, aber nicht gesehen. Wir jedoch kennen Sie, erinnern Sie sich daran!"
Er verließ mich und kurze Zeit darauf verfiel ich trotz meines Sträuben* in Betäubung. Meine Gedanken wurden unzusammenhängend, meineVernunft schien mich zu verlassen und mein Haupt sank zuerst auf eine Seite, dann auf die