Beilage z.Wildbader Chronik."

Urs. 19.

Ireitag, öerr 12. Jebruar: 1904

40. Jakvaana.

Ztntertzcrttsnöes.

Äus Nacht MM Licht

von Hugh Conway.

3) (Nachdruck verboten.)

Er war eine schwüle Augustnacht und die dicke Luft, welche durch das offene Fenster hercindrang, brachte kein» son­derlich bemerkbare Veränderung io der Temperatur des Zimmers hervor. Alles schien still, heiß und finster zu sein. Der einzige Laut, welchen ich hörte, war das regelmäßige Atmen der Schläferin hinter der Türe, welche sie ein, zwei Zoll weit offen hatte, damit sie auch meinen leise­sten Ruf hören möchte. Ich war zeitig zu Bett gegangen. Weshalb hätte ich jetzt auch lange aufbleiben sollen? Nur Schlaf, Schlaf allein konnte mir Ver­gessenheit bringen, aber heute Nacht wollte er nicht kommen. Ich ließ meine Repetieruhr schlagen, die ich mir gekauft hatte, um wenigstens die Zeit zu wissen. Das kleine Schlagwerk sagte mir, daß es kurz nach ein Uhr war. Vergebens nach Schlaf lechzend, seufzte ich und sank in meine Kiffen zurück.

Plötzlich überkam mich ein unbeschreib­liches, heftiges Verlangen, auszugehen. Es war Nacht; nur wenig Leute konnten auf der Straße sein. Vor der Häuser­reihe, wo ich wohnte, war ein breites Trottoir, auf dem ich in voller Sicher­heit auf und ab gehen konnte. Selbst wenn ich nur auf den Hausthorstufen saß, war es besser, als in diesem geschloffe­nen heißen Zimmer zu liegen und mich schlaflos umherzuwälzen.

Dieses Verlangen erfüllte mich so ganz, daß ich im Begriffe war, die alte Priseilla zu rufen und ihr dasselbe mit­zuteilen; aber da ich wußte, daß sie fest schlafe, zögerte ich.

Ich war den Tag über ungewöhnlich unruhig, barsch und anspruchsvoll gewe­sen, und meine alte Amme der Himmel lohne es ihr diente mir aus Ergebenheit und nicht für Geld. Wes­halb sollte ich sie stören? Ich mußte ja lernen, mir selber zu helfen, gleich andern in meiner elenden Lage. Ich hatte schon so viel erreicht, daß ich mich wenigstens ohne Hilfe anzuziehen ver­mochte. Wenn ich dies jetzt tun und das Zimmer ungehört verlassen konnte, dann würde ich, das wußte ich, ohne Mühe meinen Weg bis zur HauStüre finden, mir öffnen und nach Belieben zurück­kehren können. Der Gedanke einer wenn auch noch so kurzen Unabhängigkeit war verlockend, und ich wurde ruhiger, als ich beschloß, den Versuch zu wagen.

Leise stieg ich aus meinem Bette, zog mich langsam aber leicht und ohne Mühe an, wobei ich fortwährend die regelmä­ßigen Atemzüge der Schläferin hörte. Dan», vorsichtig wie ein Dieb, stahl ich mich an die Türe, welche aus meinem Schlafzimmer auf die Flur führte. Ich öffnete sie ohne Geräusch und stand auf dem dicken Teppich draußen, indem ich im voraus darüber lächelte, wie bestürzt die Schläferin sein würde, wenn sie auf- wachen und meine Abwesenheit bemerken sollte.

Ich schloß die Türe, ging dann, in- dem ich mich am Geländer forttappte, leise die Stiege hinab und erreichte die Haustüre ohne Unfall.

Es waren noch andere Parteien im Hause, unter ihnen junge Männer, welche zu allen Stunden nach Hause kamen, und so war das Tor nie verriegelt, nur ein­geklinkt, und ich hatte weiter keine Mühe, es zu öffnen. In einem Nu war ich auf der Türschwelle und die Türe war hinter mir geschlossen.

Eine kurze Zeit stand ich unentschlos­sen, fast zitternd über meine Kühnheit, da; war es doch das erste Mal, daß ich mich ohne eine leitende Hand aus dem Hause wagte.

Doch hatte ich nichts zu fürchten, denn die Straße, eine der ruhigsten der Stadt, war leer. Das Trottoir war breit und ich konnte ohne Hindernis auf und ab gehen, indem ich mich nach Art anderer blinder Personen durch Tasten mit dem Stocke an den Randsteinen und den Gittern, wie sie sich vor allen eng- lischen Häusern befinden, fortleitete.

Dennoch mußte ich einige Vorsichts­maßregeln ergreifen, indem ich mich der Länge und Breite meines Weges versi­cherte.

Ich stieg die vier Stufen vor der Haustüre herab, wandte mich nach rechts und begann mit Hilfe der Gitter die Straße hinabzugehen. Ich zählte meine Schritte. Nach dem zweiundsechzigsten trat mein Fuß auf eine Querstraße hin­aus und ich wußte, daß ich das Ende meines Weges erreicht habe. Ich wandte mich nun um, zählte zweiundsechzig Schritte zurück und dann fünfundsechzig weitere in derselben Richtung, bevor ich mich wieder am Ende des Trottoirs befand. Meine Berechnung wurde durch den Umstand bestätigt, daß ich wußte, das Haus, in welchem ich wohnte, befinde sich beiläufig in der Mitte der Häuserreihe. Ich war nun ganz beruhigt, denn ich wußte, wie weit ich in dieser leeren Straße auf und ab gehen durfte und daß ich durch Ab­zählen der Schritte meine Wohnung nicht verfehlen konnte.

Stolz auf meinen Erfolg spazierte ich dann eine Weile auf und weder. Ich hörte ein oder zwei Wagen vorüberrollen und auch ein oder zwei Personen an mir Vorbeigehen. Da diese letzteren keine Notiz von mir zu nehmen schienen, schloß ich ganz befriedigt, daß meine Erschein­ung und die Art und Weise meines Ganges ganz unauffällig seftn. Die meisten Menschen lieben eS, ihre Uebel zu verbergen.

Dieser nächtliche Ausflug -tat mir sehr gut. Vielleicht war es die Entdeck­ung, daß ich doch nicht gar so hilflos und abhängig sei, was in wenigen Mi­nuten meine ganze Stimmung veränderte. Bon tiefster Entmutigung erhob ich mich zur Hoffnung, zu übertriebener Hoff­nung, ja fast zur Gewißheit, und wie eme Offenbarung kam es über mich, daß meine Krankheit heilbar sei, daß sich trotz i meines Vorgefühls das, was meine Freunde mir zum Tröste gejagt, erfüllen werde. So erhoben, fühlte ich mich, daß ich mein Haupt aufrichtete und, meine

Blindheit fast vergessend, mit festen, raschen Schritten vorwärts ging. Ich begann an verschiedene Dinge zu denken und meine Gedanken waren heiterer, als sie seit Monaten gewesen waren. Ich hörte auf, die Schritte zu zählen; ich ging Weiler und weiter und machte Pläne, was ich anfangen, wohin ich gehen wollte, wenn ich ich wieder sehen würde. Ich weiß nicht, ob ich mich manchmal an der Mauer oder am Rande des Trottoirs weiterfühlte; aber wenn es so war, tat ich es instinktmäßig oder mechanisch, ohne darauf zu achten oder mich später daran zu erinnern.

Ob es für einen blinden Menschen, welcher sich der Furcht vor dem Zusam­menstöße mit ungesehenen Hindernissen entschlogen kann, möglich ist, so gerade­aus und accurat zu gehen wie ein Sehender, kann ich nicht sagen, ich weiß nur, daß ich in meiner gehobenen und gedankenvollen Gemütsstimmung es getan habe. Berauscht und entrückt von der wiederkehrenden Hoffnung, mag ich wie ein Nachtwandler oder wie ein Verzückter gegangen sein. Sicher ist, daß ich, ganz mit meinen frohen Gedanken beschäftigt, immer weiterging, ohne an meinen fehlen­den Sinn zu denken, bis mich ein Zu­sammenstoß mit einer Person, welche in entgegengesetzter Richtung einherkam, wieder ganz zum Bewußtsein meines Elends brachte. Ich fühlte, wie der Mann, welchen ich begegnet hatte, sich loSmachte; ich hörte ihn murmeln: Blöder Narr!" und dann rasch weiter- gehen, indem er mich an der Stelle unseres Anprallens zurückließ, regungs­los und mich fragend, wo ich mich wohl befände und was ich jetzt anfangen solle.

Es wäre nutzlos gewesen, wenn ich versucht hätte, meinen Weg ohne Hilfe zurückzufinden. Da ich meine Repetier­uhr nicht mit hatte, konnte ich nicht einmal sagen, wie lange ich so herumge- gangen sei, und es konnte ebensogut zehn Minuten al» eine Stunde her sein, seit ich es aufgegeben hatte, die Schritte zu zählen. Wenn ich nach der Menge von Dingen urteilen wollte, an die ich seit meiner erhobenen GcmütSstimmung gedacht, schien mir das letztere wahr­scheinlicher. Jetzt, wo ich wieder auf die Erde zurückgekehrt war, mußte ich mich damit begnügen, an diesem Fleck derselben zu weilen, bis ich den Schritt eines Polizeimannes oder eines andern Indi­viduums hörte, welches sich zufällig zu ! dieser ungewöhnlichen Stunde noch außer I Hause befinden mochte, ungewöhnlich wenigstens für diesen ruhigen Teil Lon­dons. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer und wartete geduldig. Bald hörte ich einen nahenden Schritt; derselbe war aber so schwankend, unsicher und schlürfend, daß ich schon nach dem Schall desselben allein auf den Zustand des Nahenden schließen konnte und mir gestehen mußte, daß derselbe nicht der Mann sei, dessen ich bedurfte. Ich mußte ihn Vorbeigehen lassen und auf einen andern warten. Aber die Schritte kamen und schwankten auf mich zu und eine lustige, aber gleich den Füßen un­sichere Stimme rief: