veilage r. Äildbaütt Lkrsnik.
^ro. 124. _ freitag, üen rr. Oktober i-oz _ s-.73avrgang.
Untevhattenöes.
Im Banne der Rache.
Von O. Elster.
12) (Nachdruck verboten.)
Ratlos stand Johannes da. Er vermochte sich die tiefe Erregung Cläre's nicht zu erklären; sie hatte von sich als einer „Unwürdigen" gesprochen, sie hatte seine Zärtlichkeit zurückgewiesen, etwas Furchtbares mußte vorgefallen sein, daß das ruhige, klare und verständige Mädchen in solche Aufregung versetzt werden konnte. Doch nach und nach zog ein Gefühl der Beruhigung, ja, der freudigen Genugtuung in sein Herz. Was er im Geheimen schon seit langer Zeit gewünscht, es war eingetreten: Cläre hatte sich von ihren Verwandten losgesagt und flüchtete sich unter seinen und seiner Mutter Schutz. Ihre Liebe zu ihm hatte über die Anhänglichkeit an ihre Familie den Sieg davongetragen, sie hatte mit einem Male allen Zweifeln, allen Fragen ein Ende gemacht und den entscheidenden Schritt getan, welcher sie für immer mit ihm vereinigen mußte. Ein leichtes, glückliches Lächeln umschwebte seine Lippen und die freudige Erregung seines Herzens leuchtete in seinen Augen auf.
„Auch ich heiße Dich von ganzem Herzen willkommen, teure Cläre," sprach er, „und begrüße Deinen Entschluß, Dich von Deinen Verwandten loszusagen, mit freudigem Herzen. Ja, ich habe meiner guten Mama schon so viel von unserer Liebe erzählt, sie freut sich unserer Liebe und in ihrer Hut wirst Du ruhig uud sicher leben, bis ich das Recht erlangt habe, für Dich zu sorgen, Dich zu beschützen. Ich danke Dir aus tiefbewegtem Herzen, meine teure Cläre, für das Vertrauen, welches Du meiner Mutter und mir entgegenbringst."
Sie sah unter Tränen lächelnd zu ihm auf und reichte ihm die Hand, die er an die Lippen führte und innig küßte.
„Freue Dich nicht zu früh, mein Johannes," entgegnete sie, „und danke mir nicht. Ich habe Euch zu danken für Eure freundliche Aufnahme, für Euer Vertrauen, denn vielleicht habt ihr eine Verbrechecin ausgenommen . . ."
Johannes lachte auf.
„Eine Verbrechern»?! Du, meine gute liebe Cläre, eine Verbrecherin?! Wie sollte das wohl möglich sein?"
Cläre senkte den Blick; ein Schreckensschauder durchzitterte ihren Körper, als sie sich die Ereignisse der Nacht u d des heutigen Morgen zurückrief.
„Auch ich habe bis heute Morgen nicht gedacht, daß ich mich eines Berbre- chens schuldig machen konnte," sprach sie mit leiser, bebender Stimme. „Und doch umhüllt ein furchtbares Geheimnis die letzten Stunden Zeines Lebens, dessen Lösung vielleicht zu einer Berbre- cherin, zu der Mörderin der Kinder meiner Schwester macht."
„Cläre! Du bist wahnsinnig!"
..Hast Du niemals davon gehört, daß ein Mensch unter dem hypnotischen Eindruck eines Traumes, eines traumhaften
Seelenzustandes, eine furchtbare Tat begeht? Daß er, der Freiheit seines Willens beraubt, einen Menschen tötet, den er sonst zärtlich geliebt hat?"
Sie starrte mit großen, stieren Wahnsinnsaugen vor sich nieder. Ihre Stimme hatte einen dumpfen, furchtbaren Klang angenommen. Ein Starrkrampf schien ihre Glieder in Banden geschlagen zu haben. Sie saß da, gleich der Statue einer zum Tode Verurteilten, eines unschuldig dem Henker, dem schmachvollen Tode Üebergebenen.
„Ich hatte in der Nacht einen furchtbaren Traum —" fuhr sie mit rauher, seltsam veränderter Stimme fort. „Ich herzte und küßte die Kinder meiner Schwester, die liebkosend an meinem Halse hingen. Und dann war es mir, als müßte ich die Kinder von mir stoßen
— als sollte ich ihnen das scharfe Messer in das kleine, zuckende Herz stoßen, ein entsetzlicher Gedanke beschlich mich, der Gedanke: diese Kinder der Frau, die mich auf's Tödtlichste beleidigt, tödten zu müssen; ich wußte nicht mehr, was ich tat — ein bis dahin unbekanntes Gefühl des Hasses, der Rache schlich sich in meine Seele, vergiftete meine Gedanken, meine Handlungen. Ich sträubte mich gegen die finstere Gewalt des Traumes
— ich kämpfte mit ihm, wie mit einem körperlichen Wesen, ich glaubte ihn besiegt zu haben — ich sank erschöpft auf mein Lager — tiefe Nacht umhüllte meine Sinne — doch als ich erwachte, da gellte das Wort Mörderin! mir in die Ohren und meine entsetzten Augen sahen die Kinder meiner Schwester starr und todt auf ihrem Lager liegen — mein Traum war in Erfüllung gegangen — mein Traum hatte die Kinder getödtet und ich
— ich war die Mörderin!"
Mit einem Jammerschrei brach Cläre, die sich in furchtbarste Erregung hineingeredet, zusammen und schlug schluchzend und wimmernd die Hände vor das Antlitz. In jähem Erschrecken, in entsetzlicher Ahnung, daß der Wahnsinn den Geist der Geliebten umnachtet, stürzte Johannes vor ihr auf die Knie und umschlang ihre Gestalt mit den Armen. „Cläre, Cläre," rief er in namenloser Angst, „was ist geschehen? Was sprichst Du für furchtbare Worte? Sie mich zu Deinen Füßen
— fasse mein Haupt — erwache aus dem unheilvollen Traum, aus dem entsetzlichen Wahn! Du eine Mörderin?! Gedanke des Wahnsinns ..."
Cläre ließ die Hände von dem Antlitz sinken. „Auch ich glaubte anfangs, ich müßte wahnsinnig geworden sein," sprach sie starr vor sich hinblickend. ,Jch bin unschuldig — ich bin keine Mörderin — aber die Leute sagen es — die Leute glauben es — die Leute beweisen es unwiderleglich und der Fluch bleibt auf mir haften . . ."
„Ich wollte heute Morgen, als ich das Haus meiner Schwester verließ, meinem elenden Leben ein Ende machen," fuhr sie fort, „abe, die Erinnerung an Dich, mein Johannes, hielt mich ab, den entscheidenden Schritt zu mn, unwillkür- lich lenkten sich meine Schritte hierher,
ich wollte wenigstens von Dir Abschied nehmen, Dir sagen, daß ich keine Mörderin bin, daß ich unschuldig sterbe . . ."
Sie schlang die Arme um seinen Nacken und schluchzte, als solle ihr Herz zerspringen. Johannes fand keine Worte, er preßte die Geliebte fest an sich, er strich ihr über die wirren Locken, er küßte ihre bleiche Stirn — plötzlich fuhr er mit einem Schreckensschrei empor. Schwer und starr lag Cläre in seinen Armen, eine tiefe Ohnmacht umhüllte ihre Sinne.
„Mutter, hilf mir . . ."
„Laß uns das arme Kind auf mein Bett bringen," sagte die alte Frau voller Mitleid. „Sie scheint nur krank zu sein, schwer krank. Und dann cile nach einem Arzt und zu dem Hauptmann Oettekint. Dort wirst Du Aufklärung erhalten — irgend etwas Furchtbares muß geschehen sein."
Johannes hob den starren Körper der Geliebten empor und trug ihn auf das Bett seiner Mutter, wo er Cläre sanft niederlegte.
„Ich werde bei ihr bleiben, Johannes," sagte Frau Peukert. „Eile Du zu dem Arzt und zu dem Schwager Cläres."
Noch einen verzweifelten Blick warf Johannes auf die Ohnmächtige, dann stürzte er davon.
8. Kapitel.
Einige Stunden vergingen. Unter der sorgsamen Pflege der Frau Peuker, erwachte Cläre aus der Ohnmacht. Dank bar lächelte sie der alten Frau entgegen ergriff ihre welken Hände und küßte sie ehe es Frau Peukert verhindern konnte
„Entziehen Sie mir Ihre Hände nicht," bat Cläre. »Ich habe schon seit Jahren die treuen Mutterhände entbehren müssen, jetzt ist mir, als hätte ich meine Mutter wieder gefunden."
„Mein liebes Kind . . ."
„Ja, nennen Sie mich immer so. Noch nie habe ich mich so heimisch, so wohl, so sicher gefühlt, wie bei Ihnen, wie hier in der trauten Stille Ihres Zimmerchens. Ich will bei Ihnen bleiben, will ihre Tochter sein, eine treue, gehorsame Tochter."
„Ich nehme Sie gern als meine liebe Tochter auf und biete Ihnen meine arme Wohnung als Heimat an, wenn Sie bei Ihren Verwandten keine Heimat mehr finden können. Aber nun, mein liebes Kind, müssen Sie sich ruhig verhalten, liegen Sie ganz still, bis der Arzt kommt ..."
„O, ich gebrauche keinen Arzt! Ich bin stark und gesund . . ."
Sie erhob sich rasch von dem Lager. „Sehen Sie, ich vermag mich schon wieder aufrecht zu halten. Meine törichte Schwäche von vorhin ist vollständig überwunden."
In der Tat schien neues Leben das junge Mädchen zu beseelen. Sie schritt einige Male in dem kleinen Gemach a»s und ab, blieb dann vor der alten Frau stehen, dieser freundlich zulächelnd.
(Fortsetzung folgt.)