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Berlin, 26. Juni. Das offiziöse Wolff'sche Telegraphenbureau erfährt: Ein Telegramm des kaiserlichen Gouverneurs aus Kiautschou von gestern meldet, nach chinesischen Quellen seien die Entsatztruppen unter Admiral Seymour in Peking ein- getroffen.
London, 26. Juni. „Daily Expreß" meldet aus Tschifu vom 25.: Nach soeben eingetroffenen Nachrichten sind 3000 chi- nesische Truppen in Eilmärschen von Taku kommend, in Tientsin eingetroffen zur Verstärkung der Boxer und der chinesischen Truppen.
Berlin, 22. Juni. Der „Vossischen Zeitung" geht aus London ein Telegramm zu, welches besagt, daß bei Pretoria eine zweitägige Schlacht stattgefunden hat. Nachdem die fünftägige Waffenruhe abgelaufen war, machte die Armee Roberts am Montag einen allgemeinen Vorstoß, um General Botha, der sich mit 6000 Buren auf einem Höhenzuge befand, an- zugreisen. Die Schlacht dauerte bis Mittwoch. Die Buren leisteten verzweifelten Widerstand, aber die englischen Truppen drangen unaufhaltsam vor. Stellung um Stellung wurde genommen. Die Buren wurden mit erheblichen Verlusten geschlagen. Am Mittwoch fand auch bei Kronkohrst. Spruit ein Gefecht statt. Auch bei Donker- brook wurde gekämpft, wobei die Buren von starken englischen Streitkräften aus ihren verschanzten Stellungen vertrieben wurden. Eine Anzahl Führer wurden gefangen genommen. Die englischen Verluste werden aus 120 Tobte und Verwundete angegeben. Die Buren zogen sich in der Richtung auf Middelberg zurück.
— Ein Seitenstück zu der Meldung, daß der deutsche Gesandte Freiherr von Ketteier schon vor Monaten auf die Ge- fahren, die sich für die Ausländer in China vorbereiteten, hingewiesen habe, ist der Brief eines chinesische» Berichter- statterS in Peking, den die WochenauS- gabe der North China Daily News schon am 16. Mai veröffentlichte. Darin heißt eS: In allem Ernst und aller Aufrichtigkeit schreibe ich, um Sie von einem umfassenden geheimen Plan in Kenntnis zu setzen, der bezweckt, alle Ausländer in China zu vernichten und die .verpachteten" Gebiete zurückzuerobrrn. Die Häupter der Bewegung sind die Kaiserin-Regentin, Prinz Tsching, Prinz Tuan, der Vater des Thronfolgers, Kanyi, Tschuoschutschiao und Lipingheng. Die Streitkräfte, die dazu verwandt werden sollen, sind alle Mandschu, nämlich die Besatzung von Peking (50 000 Mann) unter Prinz Tsching, des Huscheng-KorpS oder die „glorreichen Tiger" (10000) unter Prinz Tuan, und verschiedene Bannertruppeu der kaiserlichen Garden (12 000) unter Kanyi und andern. Diese 72000 Mann bilden den Stamm des „Heeres der Rächer", während aus die Boxer als Hilfstruppen bei der großen Schlacht gezählt wird, die näher bevorsteht, als die Ausländer in Peking oder sonst sich träumen lassen.
Unterhaltendes.
Gesühnte Schuld.
Von Hans Schack.
(Nachdruck Verb.)
Brausend fuhr der Schnellzug in den Potsdamer Bahnhof ein. Das gewohnte lebhafte Treiben, das bei der Ankunft
jedes Durchgangszuges in der Reichs- Hauptstadt herrscht, entwickelte sich. An der geöffneten Thüre eines Frauenabteils stand eine junge Dame und schaute einen Moment mit schwermütigem Blick hinaus in das Gewoge und Gedränge, als suche auch sie Jemand, der ihr zum herzlichen Willkomm die Hand entgegenstreckt. Tann, wie aus tiefem Sinnen auffahrend, nahm sie den Reiseplaid aus dem Netz und verließ den Wagen.
Sie war eine stattliche. Erscheinung. Das eng anliegende Helle Reisekleid ließ ihre schlanke und doch volle Figur ganz zur Geltung kommen, auf dem üppigen Blondhaar saß ein einfacher Hut. Ein unendlicher Liebreiz sprach aus den reinen Zügen der jungen Dame, denen der sinnende, schwermütige Blick der schönen, blauen Augen noch etwas besonders Anziehendes verlieh. Hastig schritt sie durch die Hallen dem Ausgang des Bahnhofs zu und ließ ssich von einem der dort harrenden Wagen nach einem nahen Hotel fahren.
Doch nicht lange litt es sie auf ihrem Zimmer. Sie vertauschte das einfache Reisekleid mit einer eleganten Promenade- toilette und verließ das Hotel. Die scheidende Sonne umflutete mit ihren goldenen Strahlen das Häusermeer der Riesenstadt, linde Früslingslüfte wehten in den Straßen und öffneten die Fenster und die Herzen. Ein eigev wehmütiges Gefühl beschlich die langsam dahinschreitende junge Dame, aber je mehr sie sich dem Tiergartenviertel näherte, desto stärker pochte ihr Herz. Nun stand sie, einen Augenblick nur, an dem Garten- thvr einer großen, eleganten Villa still und ließ den Blick über die stattliche Fa^ade des Gebäudes gleiten, in dessen hohen Fenstern die Sonnenstrahlen golden sieb wiederspiegelten.
„Hier wohnt sie, die mir das.Liebste war auf Erden lange Jahre hindurch," sprach das junge Mädchen leise vor sich hin, „die ich verehrt habe wie eine Heilige und die mich mit ihrer schweren Schuld Hinaustrieb in den Kampf des Lebens, in dem ich zum Glück siegreich bestand. Noch einmal will ich sie sehen, meine Mutter, bevor ich auf lange Zeit mein schönes Heimatland yerlafse, um in dem sonnigen Italien meine Ausbildung zu vollenden."
Wie gerne wäre sie schon heute ein- getreten in die ihr wohlbekannten Räume, aber die Erinnerungen an vergangene schwere Tage stürmten so mächtig auf sie ein, sie fühlte sich ruhig und gefaßt genug, um jetzt schon der Mutter gegenüber stehen zu können und so wandte sic sich dann wieder ihrem Hotel zu. Sie bemerkte nicht die frohen Gesichter der Grrßen und Kleinen, die an ihr vorübereilten, sie vergaß, ganz mit ihren Gedanken beschäftigt, daß heute der Vor- abend des Pfingstfestes war, das Jubel und Freude in alle Herzen trägt.
Und nun saß sie an dem großen Balkonfenster ihres Zimmers und sann und sann. Allmählich senkte sich der Abend nieder; draußen^ erglänzten die Straßen in einem wahren Lichtmeer, das hastige Leben am Vorabend eines großen Festes wogte unter ihr vorüber, aber Hertha Freiberg sah und merkte von allem nichts. Ihre Gedanken führten sie weit zurück in die Vergangenheit und
ließen mit erschreckender Deutlichkeit ih ganzes Leben noch einmal an ihrem geistigen Auge vorüberziehen.
Heiter und sonnig waren ihr die Tage der Kindheit verflossen. Als einziges Kind eines reichen und angesehenen Fabrikanten hatte sie die Not und den Ernst des Lebens nie kennen gelernt. Der Vater war ihr früh entrissen worden, sie ahnte damals kann, was dieser Verlust für sie bedeutete, und so schloß sie sich an ihr gutes, schönes Mütterchen mit um so innigerer Liebe an. Daß ihre Gefühle nicht mit der gleichen Wärme erwidert wurden, kam ihr wohl hier und da zum Bewußtsein, aber sie grübelte darüber nicht nach. Dann kam die Trennung; sie mußte, weil ihre Mutter es so wünschte, in ein Schweizer Pensionat eintreten, und verlebte an den Ufern des Genfer Sees einige glückliche Jahre.
Hier war es, wo das Schicksal'ihres Lebens sich entschied. Bei einer Boot- fahrt, die ohne Erlaubnis unternommen, wurde sie vorn Sturm überrascht und hätte ihren Tod in den Wellen des Sees gefunden, wenn sie nicht ein auf Urlaub dort weilender junger preußischer Garde- Offizier gerettet hätte. Die liebreizende, eben zur Jungfrau herangereifte Hertha machte auf Bruno einen tiefen Eindruck, und was Wunder, wenn die Dankbarkeit Herthas für ihren Lebensretter sich bald in innige, heiße Liebe verwandelte. In Berlin sahen sie sich dann wieder und wurden ein glückliches Brautpaar.
Da nahte das Verhängnis. Ein Schauer durchrieselte Hertha, als sie jener schrecklichen Tage vor drei Jahren gedachte. Wie selig hatte sie sich damals als die Braut des schönen und edlen Mannes gefühlt! Und nun! Mit furchtbarer Deutlichkeit traten die Ereignisse jener Zeit in ihre Erinnerung. Auch in jenem Jahre verkehrte, wie jedesmal im Sommer, ein berühmter Schauspieler eines süddeutschen Hoftheaters viel in dem gastlichen Hause ihrer Mutter und einunbekanntesGefühl zogHerthamächtigzu ihm hin. Nur zu bald und schrecklich sollte sich ihr die Wahrheit enthüllen. Ohne es zu wollen, wurde sie Zeugin eines Gespräches zwischen jenen Beiden und erfuhr, daß der Schauspieler ihr wirklicher Vater war. Auf Drängen ihrer Eltern hatte Herthas Mutter, mit der Liebe zu ihrem Jugendfreund im Herzen, den reichen Fabrikanten Freiberg ge- heiratet. Als sich aber die Liebenden im Sommer des folgenden Jahres wieder sahen, war das Unglück geschehen.-
Diese Entdeckung vernichtete mit einem Schlage alle Träume vom zukünftigen Glück in Herthas Seele. Natürlich dürfte sie nun nicht mehr die Frau eines ehrlichen Mannes werden, sie war ausgestoßen aus der Gesellschaft und mußte aus eigener Kraft sich ein neues Leben schaffen. Das war das Ergebnis ihres Nachdenkens in jener Nacht, die dem für sie so verhängnisvollen Tage folgte. Ohne 'ihrer Mntter Lebewohl zu sagen, hatte sie Berlin verlassen und war mit geringen Mitteln nach Münchens übersiedelt, wo sie, auf ihr schönes Zeichentalent gestützt, sich dem Malerberuf wid- mete. Und wider zogen all die Kämpfe und Entbehrungen, die sie während dieser Jahre erduldete, an ihrem Geiste vorüber, aber auch die Erfolge, die sie nach rast-