„Oh nein! Viele würden Ihnen das Gegenteil versichern! Aber da müßte man ja schon ein Herz von Stein haben, wenn man sich nicht einmal um so ein verlassenes einsames Kind annehmen wollte."
Einen Augenblick fühlte das Mädchen an seiner Seite eine seltsame Versuchung, seine Hand zu fassen und ihm zu sagen: „Auch ich bin einsam." Aber sie bedachte sogleich, wie sonderbar dies erscheinen müsse. Dann blieb Mansuetos vor einem stattlichen Bau stehen und zog die Klingel an dem Eisengitter. Sie waren zur Stelle.
Die Galerie war nicht sehr besucht. Ungestört wunderten die Zwei umher. Mansuetos freute sich an Kittys unbefangenem Urteil, an ihren treffenden Bemerkungen, und sie meinte, noch nie so genußreiche Stunden verlebt zu haben, wie unter seiner Führung in dieser auserlesenen Sammlung.
Auch die Fahrt durch den englischen Garten mit den zwei alten Damen, von der sich Joachim freilich dispensierte, entzückte Kitty. Dann fand sie es fast schade, daß Tante Ulrike Billets für's Theater bestellt hatte und sie sich von Frau Mansuetos verabschieden mußte. Sie hätte so gern erfahren, wie es mit dem Sa- voyarden war.
Am folgenden Morgen um zehn Uhr ging die Reise weiter, und neue Eindrücke verdrängten fürs erste die eben gewonnenen. Eine andere Welt schien sich für Kitty aufzutun. und ihre schönheitsdurstigen Augen tranken sich förmlich satt daran. Das Kind der Ebene hatte nie einen wirklichen Berg gesehen. Nun weidete sich ihr Blick an den Höhen, nun hätte sie hundert Angen haben mögen, um all' die Schönheiten in sich aufzunehmen. Binnen wenigen Wochen erschien sie sich selbst älter, erfahrener und — besser geworden. Es dünkte ihr oft, als beginne sie wärmer zu empfinden, als wolle es in der gesegneten, farbenleuchten- den Welt um sie her auch in ihr glühen und blühen. , Sie schrieb begeisterte Briefe an Felix, der diese Ergüsse in keiner Weise zu würdigen verstand. Ja einmal stoß es ihr aus der Fe- der: „Ich bin Papa doch dankbar, daß er darauf bestanden hat, daß ich mit Tante Ulrike reise." Darüber lachte Thingen sein spöttisches Lachen. Aber Kitty hörte es ja glücklicher Weise nicht und schwärmte weiter.
Zum ersten mal seit langen Jahren genoß Ulrike die Genugtuung, einen anderen Menschen wirklich glücklich gemacht zu haben. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, auf dieser Reise die Erziehung des jungen Mädchens für die Welt und die ihm. darin von ihr zugedachte Rolle in die Hand zu nehmen. Das hieß nichts Anderes, als dem Kinde aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrungen die Eitelkeit, Torheit und Verworfenheit der Menschen so recht klar zu machen. Denn Fräulein von Thingen liebte die Menschen im Allgemeinen nicht und meinte auch keine Ursache dazu zu haben. Besser konnte man dies Mädchen, das ja nun erwachsen war, nach ihrer Ansicht gar nicht für den Eintritt in die Welt vorbereiten. Daß Kitty an und für hch eine kritische Ader hatte, war um so besser. Desto mehr würde sie die Lehren der Tante beherzigen. Nun aber erlebte es Ulrike zu ihrer eigenen, unbeschreiblichen Verwunderung, daß sie diese Lehren für sich behielt, daß sie Kitty genießen ließ und ihren rhapsodischen Schwär- Mreien lauschte mit dem Gedanken: „Stören
wir sie nicht! Der holde Traum wird bald genug vorüher sein . . ."
Die Fräulein von Thingen waren zwei Tage in Salzburg gewesen und kehrten nach ihrem Standquartier in Berchtesgaden zurück, als die Felswände des hohen Göll in der Purpurglut des Abends zu leuchten begannen. Kitty eilte auf den Balkon, der an ihr Zimmer stieß. Wie verzaubert stand sie dort und schaute, alles um sich her vergessend.
„Soll ich noch etwas helfen?" ließ sich die Stimme der Jungfer vernehmen. „Gott, gnädiges Fräulein haben ja noch nicht einmal angefangen, Toilette zu machen, und es wird gleich zum Abendessen läuten!"
„Ach, das habe ich gar nicht bedacht! Es ist zu schön draußen, Martha."
Eilig trat Kitty ins Zimmer zurück und begann mit Hilfe des Mädchens ihr Reisekostüm mit einem einfachen weißen Kleide zu vertauschen.
„Da liegt ja auch ein Brief für mich!" rief sie, als ihr Blick zufällig auf den Tisch fiel. Sie wollte eilen, ihn zu holen.
Aber Martha schalt: „Stehen gnädiges Fräulein mir noch einen Augenblick ruhig, bis ich die Schleife gebunden habe! Gnädiges Fräulein sind immer viel zu hastig beim Ankleiden."
Und Kitty mußte stille stehn und sich begnügen, den lange erwarteten Brief von Serne mit den Blicken zu liebkosen.
„Endlich fertig — Gott sei Dank! Ach, klingelt ihr nur! Ich lese erst meinen Brief. Aber wie hat denn der Junge geschrieben? Das sieht ja so anders aus."
Sie riß den Umschlag ab. Nein, das war wohl eine ungelenke, steife Kinderschrift, aber nicht Felix' Schrift! Sie las!
„Liebe Kitty! Ich soll dir heut' schreiben, will Felix, weil er nicht kann wegen seinen umbündelten Hände. Er läßt aber sehr schön danken und für die feinen Blumen, die du ihm geschickt hast, solche habe ich noch nicht gesehen Weil wir gehört haben, er liegt im Bett, ist Mutter heute mit mir hergefahren, da hat er mich gebeten. Er mag nicht viel sprechen wegen Schmerzen und den Brief steck' ich am Bahnhof ein, wenn wir zurückkommen. Wir grüßen beide sehr, liebe Kitty, und wünschen glückliche Reise. Dein Freund Heinz Reichmann. Nachschrift. Der Doktor sagt: es kommt von dem feuchten Zimmer, wo er geschlafen hat. Nochmals dein Heinz."
Mit Wangen, fast so weiß wie ihr Kleid, stand Kitty vor ihrer Tante.
„Großtante lies! Was kann es sein? Felix ist krank."
Fräulein Ulrike las kopfschüttelnd den Brief. „Das sieht nach Rheumatismus aus."
„Und ich bin nicht da. Laß mich nach Hause. Großtante!"
„Nicht so hitzig, Kind! Wenn es sehr schlimm wäre, hätten es dir deine Eltern schon geschrieben. Morgen werden wir wohl weitere Nachrichten erhalten."
Als aber die Morgenpost keinen Brief brachte, depeschierte Kitty. Angstvoll harrte sie aus die Antwort, die erst am Nachmittag eintraf:
„Felix an Gelenkrheumatismus erkrankt. Brief nnterwegs. — Thingen."
Das war Alles. Vergebens ' flehte Kitty Uhrike an, sie sofort abreisen zu lassen. Diese blieb dabei: „Der Brief wird abgewartet."
Am nächsten Morgen kam er, an Baronesse
Ulrike gerichtet un d von Oswald selber geschrieben. Felix lag seit vierzehn Tagen. Nun war sein langes Schweigen erklärt. Der Arzt hätte den Unfall anfangs für leicht angesehen; es sei aber immer schlimmer geworden. Der Patient habe hohes Fieber und viel Schmerzen. Thingen hätte absichtlich nicht früher geschrieben, um Kitty die Freude an der schönen Reise nicht zu trüben. Jetzt aber würde es Unrecht sein, länger zu schweigen. Der Zustand des Kindes sei, wenn auch nicht lebensgefährlich, doch immerhin besorgniserregend. Auch erfordere seine Pflege so viel Sorgfalt, daß Alwine, die augenblicklich selbst der Schonung bedürfe, eine Unterstützung haben müsse. So leid es ihm also tue — er müsse seine Aelteste Heimrufen.
Forts, folgt.
— Am 1. Okt. ist die Winterausgabe des schwarz-roten Kursbuchs erschienen. Dieses amtliche, von der Generaldirektion derStaats- eisenbahnrn bearbeitete Kursbuch ist als bestes Kursbuch für den Gebrauch des reisenden Würt- tembergers anerkannt, da es diefür ihn in Betracht kommenden Verhältnisse, so eingehend berücksichtigt, wie kein anderer Fahrplan. Es enthält sämtliche Eisenbahn- und Postverbindungen in Württemberg und Hohenzollern samt Anschlüssen, ferner Eisenbahn- und Dampfschiffsverbindungen von Baden, Bayern, Elsaß-Lothringen, Mittelund Norddeutschland, Oesterreich u. der Schweiz, sowie eine Eisenbahnkarle von Mitteleuropa u. eine solche von Südwestdeutschland. Es orientiert ferner über die wichtigsten Verkehrsbestimmungen und enthält eine besondere 20 Seiten umfassende Zusammenstellung der schnellsten Reiseverbindungen zwischen Stuttgart und den bedeutenden Orten Europas, Hoteltelegraphenschlüssel urd vieles andere. Das Württemberg. Kursbuch ist ausreichend für die Reise in ganz Deutschland, der Schweiz, Österreich und auf den Hauptlinien der Nachbarstaaten. Preis nur 70 Pfennig.
Kaiser Wilhelm im Romau. Kaiser Wilhelm, der M seinem Regierungsantritt so viele Federn in Bewegung gesetzt hat, ist nun auch der Held eines Romans geworden, allerdings nicht als Kaiser, sondern als Prinz Wilhelm. Charles Lowe, der bekannte langjährige Vertreter der Londoner Times und Verfasser einer trefflichen Bismarck-Biographie behandelt in seinem demnächst bei Emil Felder in Berlin V/ 57, Elßholzstraße t9, erscheinenden Roman „Des Prinzen Streiche" unbekannte Erlebnisse des Prinzen während seines Aufenthalts in London anläßlich des goldene» Re- gierungs-Jubiläums der Königin Victoria.
Obstpreiszettel.
Stuttgart, 2. Okt. Laut marktamtlicher Zusammenstellung waren heute im ganzen 121 Wagen zum Verkauf aufgestellt. Neu zugeführt waren heute 85 Wagen. Die Zufuhren verteilten sich auf folgende Länder: 4 aus der Schweiz 670—750 Mk., 3 aus Oesterreich (Tirol) 800—900 Mk., 77 aus Italien 720 bis 940 Mk. (erzielte Preise per 10 000 Kg. bahnamtliches Gewicht Stuttgart), 1 aus Belgien. Nach auswärts wurden 56 Wagen versandt. Kleinverkauf 4.50—5 Mk. Marktlage: etwas lebhafter. — 4. Okt. Heute stehen im ganzen 98 Wagen auf dem Markt. Neu zugeführt ivareu 63 Wagen und zwar 4 aus Belgien, 2 'aus der Schweiz, 1 aus Oesterreich, 55 aus Italien und 1 aus Bayern. _
Militärverein Wil d imd gßLLL
Der Kamerad
kritr I-iitr
Maurer
ist gestorben und findet die Beerdigung morgen
7 , den 6. Okt. 1909
Nachmittags 3 Uhr
statt.
Antreten vor dem Rathause präcis °ft3 Uhr. Zahlreiche Beteiligung erwartet.
Den 5. Okt. 1909.
Z)er Worstanö.
Ireiwitlige Jeuerwehr Wldbad.
Die Beerdigung des verstorbenen Kameraden vom
III. Zug
Fritz L«tz
Maurer
findet morgen
Mittwoch, den 6. Mt. l909,
Nachmittags 3 Uhr statt.
Hiezu werden die Kameraden zu recht zahlreicher Beteiligung eingeladen.
Antreten vor dem Trauerhause, (Löwenbergstraße).
Den 5. Okt. 1909. Das Commaudo