Nr. 16. Amis- und Anzeigeblüli für den Oberamisbezirk Calw. 93. Jahrgang.
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Scmstag, den 19. Januar 1918.
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Die hungernde und kriegsmüde russische Armee.
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Drei Jahre und ein halbes sind seit dem Ausbruch de8 Krieges verflossen, und es steht heute wie am ersten Tage mit unvertilgbaren Leitern die Frage im Hintergrund: Wer trug die Schuld? Ueber diese Frage hinweg, scheint es. kann auch das Friedensproblem nicht recht zur Entwicklung gelangen. Sonderbarerweise wird sie von »mserer, der Mittelmächte, Seite fast niemals oder wenig genug, von der Gegenseite bei jedem Anlaß aufgerührt. Es Ist, als ob daS gute Gewissen in seiner Selbstgenüoiomkcit keinen Wert darauf legte, alte Rechnungen stets aufs neue vo zulegen, die Not der anderen auf schwacher ethischer Grindlage aber bei jeder Gelegenheit nach dem Worte dränge, in besten Geltungsbereich sie nun einmal die Oberherrschaft besitzen. Dieses Wort beißt: Ihr wäret eS, die den Frieden gestört habt, und deshalb müßt ihrSühne leisten. Ist einmal dieser Paß erstritten, so führen alle Wege der Logik zur Forderuna. Die Welt muß Bürgschaften erhalten, -damit-sie vor der Wiederholung eines solchen Frevels gesichert bleibe. In diese Kerbe schlagen mit unermüdlicher Ausdauer die Kundgebungen der feindlichen Staatsmänner, vor allem die der angelsächsischen Genossenschaft; Lloyd George mit der Machtschreiergeberde des Demagogen, Professor Wilson mit der seligen Verbohrtheit des Theoretikers Nichts könnte logischer und überzeugender sein als ihre Folaerungen, die sie ziehen — wäre nicht der Untergrund falsch, auf dem sie diese aufbauen. Mit gleicher Emphase und gle'^-r Festigkeit, nur mit besserer Anlehnung M- die Wahrheit, müssen wir gegen diesen babylonischen Turmbau der Entstellung angehen, und wiederum und abermals es betonen: die Schuld an diesem Frevel, der die gesamte Menschheit leiden macht, lag nicht bei denen, die den Krieg erklärt, sondern die den Krieg geschaffen haben. Wer sich nur einmal der Mühe unterz'ebst die beloben Divlomaten- berichte mit Ruhe und Objektivität, als ob sie beispielsweise der Römerzeit ungestörten, durchzustudieren, hat den Prozeß der Einkreisung Deutschlands klar vor seinen Augen, der nur die eine Alternative zuließ: Entweder Deutschland wird ausgeschaltet durch politische Pressionen, dann sind England und seine Trabanten den gefährlichsten Rivalen los; oder Deutschland wagt es, dann bürgt die erdrückende Koalition welche die Einkreisungspolitik umfaßt hat, für seine blutige Niederwerfung. Das war Logik. Und Logik war es von deutscher Seite, sich zu sagen: Wir halten den Frieden um jeden menschenmöglichen Preis; aber wir können nicht mit verschränken Armen stehen, wenn der Krieg doch beschlossene Sache und namentlich von einer Macht bereits unentrinnbar vor unsere Grenzen gerückt lst.
Der Suchomlinowprozeß hat die nur allzu begründet gewesene deutsche Befürchtung vor aller Welt gerechtfertigt; das verwüstete Ostpreußen war als traurige Rechenprobe darauf zurückgeblieben, daß wir wahrlich nicht um einen Tag zu früh das Schwert gezogen haben
Der Streit dreht sich heute im wesentlichen um die Ent- schädigungsfrage; nicht um die eigentliche Kriegsentschädigung, über deren Nichtbeanspruchung man sich nach allen Seiten einigen könnte, sondern um Restitution und Reparation, Wiedereinsetzung und Wiedergutmachung, die von der Entente gefordert werden. Diese beiden Forderungen beziehen sich, wie man weiß, hauptsächlich auf Belgien und Frankreich; sie umfassen Belgiens volle Wiederherstellung und Vergütung des durch den Krieg dort verursachten Schadens und die Herausgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich.
Hat irgend ein Land, außer Frankreich, zum Krirqs- brginn daran gedacht, daß es das Ziel des Weltkriegs fein würde, die Wiedercroberung der beiden von Deutschland geraubten Provinzen in der Geschichte abermals rückgängig zu
Vor einer Antwort Czernius aus Wilsons Botschaft.
Berlin, 19. Jan. Graf Czernin beabsichtigt, einer Meldung des „Berliner Tageblatt" aus Wien zufolge, demnächst in Brest Litowsk auf die Botschaft Wilsons eine Antwort zu geben.
Zwei englische Torpedojäger untergegangen.
(WTB.) London, 19. Jan. (Reuter.) Die Admiralität teilt mit: Zwei britische Torpedojäger sind böi der Rückkehr zu ihren Stütmunkton während heftigen Schneesturmes in der Nacht vom 12. Januar an der schottischen Küste gescheitert und mit Mann und Maus untergegangen. Nur ein Matrose wurde gerettet.
machen? Selbst das .Journal des DSbats" muß heute gestehen, daß Wilson vor drei Jahren nicht so gesprochen hätte und nicht auf den Gedanken gekommen wäre, daß ein dauernder Weltfrieden ohne die volle Wiederherstellung Frankreichs unmöglich wäre. Diese Geistesrichtung hat sich erst ausbreiten und Halt bekommen können durch die unablässige Betonung von der Sühne und „dem großen Bruch des Völkerrechts", worauf Lloyd George in seiner neuesten, von manchem Neutralen als so maßvoll hingenommenen Rede bingewiesen bat. Es ist derselbe alte Trugschluß, den man inwendet, daß die Nakon, die den Frevel verschuldet, Beratung leiden und Sühne leisten müsse, und daß diese Nation eben Deutschland mit seinen Bundesgenossen sei.
Triefend von vorgefaßter Meinung, anscheinend bestrebt, einen billiaen Ausgleich vorzuschlagen, sedoch nur Ungerechtigkeiten häufend, indem Völker zur Sühne und Wiedergutmachung aufgerufen werden, die ihrerseits allen Anlaß dazu basten, „sich vor einer Wiederholung gegen sie verübter Frevel zu schnhen", ist auch Wilsons jünaste Botschaft ungeeignet, iene Grundlage zu bilden, aus der ein Frieden erwachsen kann. Ohne weiter auf die Einzelheiten des Programms einzugehen, das für Deutschland unter anderem als Schlußeffekt der EinkreUung den Verlust von Elsaß-Lothringen, für Oesserreich als Sühne für Saraftwr» die staatliche Desorgani- '"tion. und für die Türkei die Abgliederunq wertvoller Gebete fordert, ge^en wir noch einmal aufs Ganze mit der Erklärung, daß ein Volk das sich um Dasein und Entwicklung verteidigt, wohl sich mit dem Feinde zum Ende verständigen kann, wenn Zeit und Waffenerfolge eS erlauben, dies aber niemals tun kann um den Preis des Zugeständnisses eines nicht beganaencn Unrechts, das In solchen Jnsi '»Mionen einbegriffen ist. Solange diese Forderung Losung sst, scheint uns eine Friedensverständigung mit den westlichen Gegnern ausgeschlossen.
Me MMge!- -Want.
Die Zustände an der russischen Front.
Berlin, 18. Jan. Don gut unterrichteter Seite erhält die „Nat.-Ztg." über die Zu stände anderrussischen Front folgende Darstellung: Die Lage des russischen Heeres an der Front kann vom russischen Standpunkt aus beute nur als trostlos bezeichnet werden. Die Auflösung der Armeen macht von Tag zu Tag Fortschritte. Offiziell ist schon die Entlassung einer größeren Anzahl von Jahrgängen bis zu dm 86-Jährigen herab erfolgt, was oder nicht ausschließt, daßmassenhafteEinzeldesertionen stattfinden. An verschiedenen Stellen der Front ist es sogar vorgekommen, daß Truppenteile geschlossen ihre Stellung ge räumt haben, so daß unseren Soldaten an diesen Stellen, und es handelt sich zusanimengenommen vielleicht um niest rere Kundert Kilometer, überhaupt kein Feind mehr gegen
Übersicht. Das Material ist entweder abtransportiert oder vielfach auch einfach zurückgelassen worden. Bei den Frontabschnitten einer großen Einzeldivision hat man sogar beim Räumen der Stellungen das Geschützmaterial, und zwar vorzugsweise die Geschütze der großen Kaliber, im Stick, gelassen. Von einem Munitionsnachschub kann überhaupt keine Rede sein, zumal sich die Industrie vollständig demobilisiert, und mit der Anfertigung von Friedensartikeln beschäftigt. An der ganzen Front findet rin lebhafter Pferdeverkauf statt, der wohl durch den Mangel an Futtermitteln seine Erklärung findet. Ueberläufer finden sich massenhaft bei unicrn Truppen ein, besonders die russischen Soldaten polnischer Nationalität scheinen es nunmehr an der Zeit zu halten, in das andere Lager überzugehen. Die Offiziere sind zum großen Teil abgesetzt, zum Teil haben sie es vorgezogen, sich ins Hinterland zu begeben. Bei einem russischen Armeekorps sind nicht weniger als 500 Offiziere nach zuverlässigen Meldungen fahnenflüchtig geworden. Von Disziplin kann nirgends mehr die Rede sein. Vielfach herrscht völlige Anarchie. Bei den ukrainischen Truppenteilm. die sich anfangs besser gehalten halten, nähern sich die Zustände von Tag zu Tag mehr denen bei der russischen Armee. Am wenigsten berührt zeigt sich die rumänische Front, die noch heute den Truppen der Mittelmachte gegenüber eine zurückhaltende, wenn nicht gar feindliche Haltung zeigt. Es ist auch nirgends zu einem Bruch des Waffenstillstandes gekommen, nur in Rumänien befinden sich auch mehrere amerikanische Militärmissionen, die mit viel Eifer urO viel Gedie Offiziere für das amerikanische -i-ee- au,- uer'u.! suchen. Nicht weniger fieberhaft ist die Arbeit englischer Agenten hinter der Front, doch ist nach übereinstimmenden Meldungen ihr Erfolg gering. Die Gründe hierfür dürften u. a. auch darin zu suchen sein, daß bei dm Russen das Vertrauen zu den Deutschen im Wachsen begriffen ist. Die Frontsoldaten bringen deutscher Art und deutscher Geradheit von Tag zu Tag mehr Vertrauen entgegen und fordern vielfach mit großer Ungeduld den sofortigen Abschluß des Friedens. Die Forderungen der Mittelmächte werden als berechtigt anerkannt, und man kann nicht einsehen, welche Schwierigkeiten sich dem Friedensabschluß entgegenstellen könnten. Zusammenfassend ist zu bemerken doch mcki nur eine Wiederaufnahme der kriegerischen Ereignisse se'lcns der Russen auf Jahre ausgeschlossen ist. sondern daß bei den Russen überhaupt nickt mehr von einem Heere in unterem Sinn die Rede sein kann. Auf der andern Seite sind die Truppen der Mittelmächte jederzeit in der Lag- die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen.
Zürich, 18. Jan. Der „N. Z. Z." zufolge erklärte der russische Regierungskommissar auf der Konferenz über die Demobilisierungsfrage, die Soldaten würden zu Hunderttausenden an der Front sterben und der Hunger werde sie allmählich inS Land Hineintreiben, wo sie alles verwüsten werden, was sie auf ihrem Wege antreffen.
Die hungernde russische Armee.
(WTB.) Berlin, 19. Jan. Folgender für die Auslösung in Rußland typischer Spruch wurde hier aufgefangen:
An alle Stationen, mit allen Mitteln und auf jedem Wege an alle Eisenboh-.r!
Kameraden! In schwerer Stunde wenden wir uns an Euch im Namen der hungernden Armee. Nur noch eine geringe Anstrengung, nur ein wenig Geduld in diesen furchtbaren Minuten! An der Front ist keine Verpflegung vorhanden. Es gibt keine Zufuhren. Die Regimenter leiden buchstäblich Hunger. Die Zukunft des Landes, die Zukunft der Revolution ist in Eurer ''and! Eure Geduld ist durch die Ilcberfällc marodierender Banden erschöpft. Aber beißt die Zähne zusammen!