6. Jahrgang
SAMSTAG, 21. OKTOBER 1950
Nummer 164
Der Ruf Schlesiens
Die Schlesische Heimatwoche Köln
H. Sch. „Ich bin überzeugt, daß Ihre Heimat eines Tages wieder zu uns gehören wird“, so hatte Bundeskanzler Dr. Adenauer in seiner Grußadresse an die heimatvertriebenen Ostdeutschen anläßlich des 1. Bundestreffens der Schlesier in Köln gedrahtet. Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, hatte noch eindrucksvoller die Solidarität der freien Welt für die Wiedergutmachung des Unrechts an Ostdeutschland angerufen: „Aus Menschenrecht und Menschenwürde hätten die Alliierten Königsberg, Breslau, Stettin den Deutschen lassen müssen.“ Aus der weltpolitischen Entwicklung der letzten Jahre habe man die Meinung gewonnen, daß wir dem Tag vielleicht näher sind, als viele glauben wollen, wo das Recht auf den ostdeutschen Boden verwirklicht und die Rückkehr deutscher Menschen in ihre angestammte Heimat jenseits der Oder-Neiße-Linie in die Tat umgesetzt werden wird. Auch der Kirchenfürst Kardinal Dr. Frings hatte in seiner ergreifenden Festpredigt vor dem Kölner Dom auf die „natürlichen Rechte“ der Heimatvertriebenen auf ihre deutsche Heimat hingewiesen und die Einheit Deutschlands in- Frieden und Freiheit als Ziel herausgestellt.
Die Schlesische Heimatwoche Köln 1950 wurde das große Hoffnungssignal für die 12 Millionen Heimatvertriebenen von denen die Schlesier mit drei Millionen das größte landsmannschaftliche Kontingent darstellen. Zähe und geduldig warten die Schlesier auf die Stunde, die ihnen die Heimkehr beschert. Zwei Ziele stehen vor ihnen: das Nahziel, in ihren westlichen Fluchtquar- tieren heimisch zu werden. Wohnraum und Arbeitsplatz zu finden und allenthalben in der Bundesrepublik als gleichgeachtete und gleichberechtigte Bürger behandelt zu werden — das Fernziel, in das seit 700 Jahren deutsche Ostland zum Wiederaufbau der alten Heimat zurückzukehren. Zurück in das Land von Rübezahls Bergen, Gerhart Haupt- manns und Hermann Stehrs,
Die Schlesier haben als Bewahrer und Verfechter abendländischer Rechtsgrundsätze gegenüber dem Osten ein Mandat! Sie sind, wie vor 700 Jahren, bereit, Schlesien von neuem zu kolonisieren und e9 für die freie Welt zu retten. Die Westmächte sehen heute ein, welches Unheil sie angerichtet, welches Unrecht sie durch Jalta und Potsdam begangen und gebilligt haben. Aber auch die klarblickenden und gutwilligen Polen nationaler Prägung lassen erkennen, wie wenig sie mit dem jetzigen Zustand einverstanden sind, und daß das „Unrecht an Schlesien“ Polen nicht zum Segen gereichen kann, Jakob Kaiser sprach das in Köln vor den 200 000 aus und wies auf die
Herbstbauprogramm 1950
TÜBINGEN. Aus Mitteln der Soforthilfe ist ein zweites Sonderbauprogramm unter der Bezeichnung „Herbstbauprogramm 1950“ aufgestellt worden. Die geplanten Wohnungen dienen nur zur Unterbringung von Lastenausgleichsberechtigten, insbesondere von solchen, die durch den Schadensfall ihre Wohn- möglichkeit verloren haben. Schwerkriegsbeschädigte und Kinderreiche werden bevorzugt. Bauträger kann jeder Lastenausgleichsberechtigte sein, d. h. Heimatvertriebene, Kriegs- sachgeschädigte und politisch Verfolgte. Als Eigenkapital müssen mindestens 15 v. H. der Gesamtherstellungskosten eingebracht werden.
Die Gesamtherstellungskosten je Wohneinheit von-50 qm Grundfläche sind mit 12 000 DM angenommen. Zugelassen sind sowohl Neubauten als auch Ein-, Um- und Ausbauten, soweit dadurch selbständige Wohnungen mit eigener Küche und Toilette entstehen. Einzelheiten im „Staatsanzeiger für Württem- berg-Hohenzollern“, Nr. 5.
wurde ein großes Hoffnungssignal
Wirkung des Freiheitskampfes der tapferen Stadt Berlin hin, deren Haltung die Welt sehend gemacht hat. Die Oder-Neiße-Grenze ist nicht die Friedensgrenze, denn erst der Friedensvertrag mit Deutschland kann die endgültige deutsche Ostgrenze bestimmen.
Köln hat die Patenschaft für Breslau, das Land Niedersachsen die Patenschaft für die Landsmannschaft Schlesien übernommen. Die Ostdeutschen fordern Sitz und Stimme im Bundesrat, sie erstreben die Errichtung einer ostdeutschen Universität, sie erwarten,
BONN. Das am Donnerstag vom Bundestag verabschiedete Kriegsopferversorgungsgesetz gewährt jedem Anspruch auf Versorgung, der während einer militärischen oder militärähnlichen Dienstverrichtung von Kriegshandlungen oder Unfall gesundheitlichen Schaden erlitten hat. Dazu zählen auch Schäden aus der Kriegsgefangenschaft, durch unrechtmäßige Straf- oder Zwangsmaßnahmen und durch Internierung im Ausland. Als unmittelbare Kriegseinwirkung gelten alle Kampfhandlungen und militärische Maßnahmen im Zusammenhang mit beiden Weltkriegen mit Ausnahme der allgemeinen Verdunkelungsmaßnahmen. Dazu zählen ferner Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt war und nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge.
Die soziale Fürsorge hat sich der Beschädigten und Hinterbliebenen in allen Lebenslagen anzunehmen. Für Kriegsblinde, Verletzte ohne Hände und sonstige Empfänger einer Pflegezulage sowie für Hirnverletzte ist eine wirksame Sonderfürsorge sicherzustellen.
* Der Beschädigte hat Anspruch auf eine Grundrente, solange seine Erwerbsunfähigkeit um mindestens 25 •/< gemindert ist. Beschädigten mit einer Minderung der Erwerbsunfähigkeit um 50’/» oder mehr (Schwerbeschädigten) wird außerdem
FRANKFURT. Die Linie 39 der Frankfurter Straßenbahn, die das „amerikanische Viertel“ und das amerikanische Hohe Kommissariat im IG-Hochhaus mit dem Hauptbahnhof verbindet, kann jetzt auch von Deutschen benützt werden.
WIESBADEN. In der Zeit vom 1. Januar 1946 bis 31. Juli 1950 haben im Bundesgebiet 33 030 . Menschen Selbstmord verübt, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Den höchsten Anteil hat Nordrhein-Westfalen mit 7695 und Bayern mit 5732 Selbstmorden zu verzeichnen.
BONN. Der Bundestagsausschuß für Geschäftsordnung und Immunität hat entschieden, daß sich Abgeordnete bei selbstverschuldeten Verkehrsunfällen nicht auf ihre Immunität berufen können, wenn die Verkehrsdelikte durch Polizeistrafen geahndet werden.
BONN. Die FDP-Fraktion des Bundestages hat beschlossen, keine größere Zahl an Bundesministerien anzustreben. Die Fraktion will sich dafür einsetzen, daß beim Abbau der Verwaltung auch die einzelnen Ministerien verkleinert werden.
MÜNCHEN. Der bayerische Landtag forderte am Donnerstag das Finanzministerium einstimmig auf, sofort entsprechende Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium aufzunehmen, damit die diesjährigen Weihnachtsgratifikationen bis zu 400 DM steuerfrei bleiben.
WIEN. Das Wiener Gesundheitsamt hat ein Anwachsen der Fälle von „Europäischer Schlafkrankheit“, die nicht mit der afrikanischen Schlafkrankheit identisch ist, bekanntgegeben. Zurzeit werden 12 daran erkrankte Personen behandelt.
daß Westdeutschland die Aufklärung über den deutschen Osten planmäßig betreibt, daß die Vorstellung von Ostdeutschland beispielsweise durch Benennung von Straßen und Plätzen in westdeutschen Städten nach schlesischen Persönlichkeiten, Städten und Landschaften verlebendigt wird. Nie soll Schlesien aus unserem deutschen Herzen fallen, nie das gewaltige Kulturwerk deutscher Arbeit in den Ostprovinzen verloren gehen. Wo heute griechische Partisanen und chinesische Kulis werken, soll wieder deutscher Geisit einziehen, sollen deutsche Menschen schaffen, deutscher Glaube eine Heimstätte finden.
Das Treuebekenntnis zur ostdeutschen Heimat vor der Welt soll und wird den Ruf der Schlesier aus Köln über den Erdball tragen.
eine Ausgleichsrente gewährt. Die Grundrente beträgt monatlich bei einer Erwerbsminderung um 30 */. 15 DM, um 40 */. 20 DM, um 50•/» 25 DM, um 60 '/• 35 DM, um 70 */• 45 DM, um 80 •/« 55 DM, um 90'/» 65 DM. Wer in seiner Erwerbsfähigkeit mehr als 90 beeinträchtigt ist, wozu ln jedem Falle Blinde zählen, gilt als erwerbsunfähig und erhält monatlich 75 DM Grundrente. Schwerbeschädigte erhalten eine Ausgleichsrente, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes oder hohen Alters eine ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfange ausüben können und ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Die volle Ausgleichsrente beträgt monatlich bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 bis 60 •/< 40 DM, um 70 •/« 50 DM, um 80 •/• 60 DM, um 90 75 DM und bei Erwerbsunfähigkeit 90 DM.
Die Ausgleichsrente erhöht sich für den Ehegatten und für jedes unterhaltene Kind bis zum 18. Lebensjahr um 10 DM, bei Erwerbsunfähigkeit um 15 DM. Sie kann auch für Kinder über 18 Jahre unter den gleichen Voraussetzungen gewährt werden, unter denen Steuerbegünstigungen gegeben werden.
Die Ausgleichsrente ist nur so weit zu gewähren, als sie zusammen mit dem sonstigen Einkommen folgende Monatsbeträge nicht übersteigt: bei Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 und 60’/. 80 DM, um 70 */. 90 DM, um 80 ’/» 100 DM, um 90 */• 115 DM und bei Erwerbsunfähigkeit 130 DM. Diese Monatsbeträge erhöhen sich für die Ehefrau und die Kinder um je 15 DM. Bei Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit bleiben 69 DM monatlich und von dem
STRAUBING. Ein Stoßtrupp von sechs tschechoslowakischen Soldaten — alles slowakische Bauernsöhne — ist am Dienstag in voller Bewaffn, ung über die Grenze nach Westdeutschland geflüchtet.
LONDON. In einer Note an die UN hat die ungarische Regierung die Vereinigten Staaten und Großbritannien beschuldigt, den Sturz der kommunistischen Regierung in Budapest zu planen. Ungarn protestierte ferner gegen eine Diskussion über die Einhaltung der fundamentalen Menschenrechte in Ungarn, Rumänien und Bulgarien durch die UN, weil es sich bei dieser Frage um innere Angelegenheiten der drei Staaten handele.
LONDON. Der Gatte der britischen Thronfolgerin, Prinzessin Elisabeth, Prinz Philipp, ist am Donnerstag in London eingetroffen, um heute an der Taufe seines zweiten Kindes, Prinzessin Anne, teilzunehmen.
WASHINGTON. Die Sowjetunion nahm am Donnerstag wieder ihren Sitz in der Femost- kommission ein. Gut unterrichtete Kreise in Washington sehen darin ein Anzeichen, daß sich Rußland für die Vorverhandlungen über einen japanischen Friedensvertrag interessiert.
WASHINGTON. Der ägyptische Außenminister Mohammed Salam El-Din teilte mit, er habe die USA um militärische Hilfe für Aegypten ersucht; zu „schlüssigen Ergebnissen“ sei man noch nicht gekommen.
TEL AVIV. Präsident Chaim Weizmann beauftragte am Donnerstag den Führer der fortschrittlichen Partei, Dr. Pinehas Rosenblüth, mit der Neubildung der israelitischen Regierung.
„Aus purer Dummheit “
cz. Seit einigen Tagen tagt ein Bundestagsausschuß, um auf Grund von Artikeln im „Spiegel“ — daher Spiegelausschuß — festzustellen, inwieweit Bundestagsabgeordnete sich bei der Wahl der Bundeshauptstadt durch Geld „umstimmen“ ließen.
Das haben wir schon berichtet. Im einzelnen darauf einzugehen, verlohnt sich nicht, da aus solchen Anlässen auch die schwärzesten Böcke am Ende zu weißesten Lämmern zu werden pflegen. Nur wenn es grotesk wird, muß man eben doch Notiz davon nehmen.
Das ist der Bundestagsabgeordnete Wilhelm Schmidt (WAV), der behauptete, eine Liste der bestochenen Abgeordneten zu besitzen. Was bekommen wir von ihm zu hören: Er habe diese Abgeordneten nur „frozzeln“ wollen, habe nur „Spaß“ gemacht. Es sei alles von ihm „frei erfunden“, aus „purer D "nm- heit“ geschehen. Auf Vorhaltungen des Ausschusses antwortete er: „Es war damals doch gar kein Darandenken (!), daß hier mal ein Ausschuß tagen würde.“
So haben wir uns nun die Bundestagsabgeordneten nicht vorgestellt. Wir dachten, sie hätten andere Aufgaben als „aus purer Dummheit“ zu „frozzeln“. Da ist wirklich kein „Darandenken“.
Für Herren von der Art dieses Schmidts bedarf es anscheinend der Aussicht auf einen Untersuchungsausschuß, um sie von „frei erfundenen“ Behauptungen abzuhalten.
Die neueste Attraktion sei nicht vergessen: Jetzt ist Bundesfinanzminister Schäffer an der Reihe. Komisch, daß die Bayern sich gegenseitig so krachledern begeifern und das noch in Bonn, also gewissermaßen bei den „Prei- ßen“.
Es sieht so aus, als ob der Ausschuß noch mehr Schmidts zutage fördern würde. Nicht sehr schmeichelhaft für den Bundestag.
Dem Ausschuß wünschen wir viel Glück. Was wirklich vor sich ging, werden die Eingeweihten schon zu verschweigen wissen.
darüber hinausgehenden Betrag tyio außer Ansatz.
Ist der Beschädigte so hilflos, daß er nicht ohne fremde Wartung bestehen kann, wird eine Pflegezulage von 50 DM monatlich gewährt. Sie kann bis auf 150 DM erhöht werden. Blinde erhalten in der Regel eine Pflegezulage von 100 DM, erwerbsunfähige Himverletzte von mindestens 50 DM.
Die Grundrente für den verwitweten Ehegatten beträgt monatlich 40 DM. Eine Witwe, die weder erwerbsunfähig ist, noch für rentenberechtigte Kinder zu sorgen und das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erhält eine Grundrente von 20 DM. Ausgleichsrenten erhalten Witwen, die erwerbsunfähig sind oder das 50. Lebensjahr vollendet haben oder für mindestens ein Kind des Verstorbenen oder ein eigenes Kind zu sorgen haben, das nach dem Gesetz Waisenrente bezieht, wenn ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Die volle Ausgleichsrente beträgt in den beiden ersten Fällen 50 DM, im letzten Falle 30 DM. Voraussetzung für die Ausgleichsrente ist, daß sie zusammen mit dem sonstigen Einkommen 80 DM monatlich nicht übersteigt. Von Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit bleiben 40 DM monatlich und von dem darüber hinausigehenderi Betrag */io außer Ansatz.
Die Grundrente beträgt bei Vollwaisen 15 DM, bei Halbwaisen 10 DM monatlich, die Ausgleichsrente bei Halbwaisen 21 DM bei Vollwaisen 45 DM monatlich. Die letztere wird nur so weit gewährt, als das Gesamteinkommen bei Halbwaisen monatlich 36 DM und bei Vollwaisen monatlich 60 DM nicht übersteigt.
Die volle Elternrente beträgt monatlich bei einem Eltempaar 70 DM, bei einem Eltem- teil 50 DM. Sie darf mit dem sonstigen Einkommen 100 bzw. 70 DM nicht übersteigen.
NEW YORK. Auf Grund des Bestechungsskan- dales ist seit fünf Wochen in New York eine umfassende Säuberung der größten Polizeiorganisation der Welt im Gange. Sie begann mit dem Rücktritt des New Yorker Polizeichefs William O’Brian und hatte den Rücktritt von mehreren Detektiven und Polizeioffizieren zur Folge.
Das Versorgungsgesetz
Die wichtigsten Punkte des Kriegsopferversorgungsgesetzes
Nachrichten aus aller Welt
De. IHaßmd £d$te* Spiet
| Roman »in.» Dimont von Norb.ti Jacqu.t I 32] Copyright by HoKmann und Camp* Varlag, Hamburg
Sein ganzes Verhalten während des Gesprächs mit der Regierungsrätin hatte bewiesen, daß er eher in seelischer als in materieller Not war. Er hatte zwar „Arbeit“ geschrien, aber gemeint hatte er etwas anderes: Frieden vielleicht, oder innere Freiheit, Er hatte den Eindruck eines Menschen gemacht, der hilfesuchend um sich schlug, weil eine polypen- hafte Macht ihn würgend umschlang und ihm das Herz abdrückte. Nicht nach Brot hatte er geschrien, sondern nach Luft zum Atmen. Es mußte sehr schlimm um ihn stehen, wenn er trotzdem „Arbeit“ gerufen hatte, wenn er die Macht, die ihn würgte, nicht mal zu nennen wagte.
Was Helli Born von seinen früheren Vergehen und von seiner Gefängnisstrafe gehört hatte, legte freilich gewisse Deutungen nahe, besonders wenn sie die beiden persönlichen Erlebnisse hinzurechnete, die sie mit Kent gehabt hatte: seinen flehenden Auftrag, den er aus dem Gefängnisfenster gerufen hatte, und den Vorfall mit dem zurückgezogenen Hundertmarkschein am Blumentag.
Für diesen Vorfall gab es eigentlich nur zwei Erklärungen: entweder hatte er in ihr das Mädchen erkannt, dem er aus dem Gefängnis seine Bitte zugerufen hatte, und schämte sich nun... oder sein Hundertmarkschein war gefälscht gewesen, und er hatte es für gefährlich gehalten, ihn jemandem zu geben, der über das Gefängnis leicht seine Personalien feststellen und ihn damit vielleicht für Jahre ins Zuchthaus bringen konnte.
Daß falsche Banknoten im Umlauf waren, «fand jeden Tag in der Zeitung, und bei Kents
gegenwärtigen Lebensumständera war es durchaus möglich, daß er mit der Fälscherbande in Verbindung stand oder gar zu ihr gehörte.
Helli wußte nämlich mehr. von Kent, al9 daß er wegen Unterschlagung eine zweijährige Strafe verbüßt hatte. Die polizeilichen Auskünfte, die die Regierungsrätin über ihn dienstlich eingeholt hatte, lauteten ziemlich bedenklich: obwohl Kent ohne Stellung sei und kein Vermögen, keine Ersparnisse besitze, kleide er sich auffallend gut und kostspielig und treibe einen, wenn auch maßvollen Aufwand, dessen Kosten von dunkler Herkunft sein dürften.
Es sei von ihm bekannt, daß er in einem gewissen Spielklub im Westen verkehre, und es bestehe sogar der Verdacht, daß er Teilhaber oder einer der leitenden Angestellten dieses Spieluntemehmens sei. Ferner stehe Kent im Verdacht, an den Wahlattentaten teilgenommen zu haben; er sei auch vermutlich mit Hilfe eines bestochenen Gefängniswärters av.s der provisorischen Haft im Strafgefängnis Plötzensee ausgebrochen oder befreit worden.
Alles Erwähnte deute darauf hin, daß Kent eine kapitalkräftige Unterweltsgruppe hinter sich habe; beim Auftauchen überzeugender Beweise sei er zweifellos als eine „öffentliche Gefahr“ anzusehen. Man empfehle dem Genannten gegenüber Vorsicht, obwohl es nicht den Anschein habe, als neige er zu Gewalttätigkeiten, und bitte um Nachricht, wenn die soziale Betreuung Kents etwas ergebe, was zur Aufklärung über die Herkunft seiner Mittel beitragen könne ...
Ein schöner Bericht war das nicht gerade, und Helli empfand dunkel, daß es in den meisten Punkten schon so sein werde, wie die mißtrauische Kriminaipolizei vermutete. Dann war also Kent eine Art Berufsverbrecher, ein asozialer Mensch, und dazu bestimmt, den größten Teil seines Lebens, vielleicht sogar
sein ganzes noch vor ihm liegendes Leben, hinter Zuchthausmauem zu verbringen.
Und wenn seine Verbrecherbande erst einmal unschädlich gemacht war, dann fand sich nicht so leicht ein „bestochener Wärter“, der ihm die Freiheit wiedergab.
Mit einem nachträglichen Schreck fiel Helli ein, daß sie selbst, durch ihren Anruf bei der Nummer, die Kent ihr zugerufen hatte, an seiner Befreiung aus der Haft miitgewirkt hatte — wenn auch ohne bösen Vorsatz. Eigentlich müßte sie jetzt den Vorfall bei der Polizei melden.
Mit Erleichterung stellte sie aber fest, daß sie die fragliche Telefonnummer nicht mehr sicher wußte; es hatte also keinen rechten Sinn, würde zu nichts führen, wenn sie so spät mit einer unbrauchbaren Meldung kam.
Wie düster es aber auch um das Leben dieses jungen Mannes aussah: es sprach doch vieles dafür, daß er, wenn er wirklich solche verbrecherischen Verbindungen hatte, sehr entschieden darum kämpfte, sich aus ihnen zu lösen. Er schien unter einem gefährlichen Drang zu stehen und diesen Drang zu hassen.
Weshalb sonst wäre er im Wohlfahrtsamt erschienen, und hätte Arbeit, eine bürgerliche Stellung gefordert? Nein, darin glaubte Helli sich nicht zu täuschen: Kent war entschlossen, dem ganzen Verbrechermilieu den Rücken zu kehren und sein Leben neu und anständig zu beginnen. Er war aus Not in diese Krise geraten, nicht aus eigener Neigung. Vielleicht hielten ihn diese Leute mit Drohungen und Gewalt... man mußte ihm helfen, — wenn er sich helfen ließ. Freilich machte er einen starrköpfigen Eindruck, es würde vielleicht schwer sein, ihn davon zu überzeugen, daß man es gut mit ihm meinte...
Kent tat ihr in der Seele leid, und sie war Sicher, daß er ihrer Hilfe wert war. In diesem Augenblick fand Helli Born ihren Beruf wieder schön.
Als sie die Treppe zu dem Stockwerk hinaufging, wo Kent wohnte, kam dieser ge
rade von oben herab. Sie trafen zwischen den Stockwerken aufeinander. Helli hatte ihn gleich erkannt. Kent aber bemerkte das Mädchen erst, als er nur mehr einige Stufen über ihm war. Er schaute starr geradeaus und wollte schnell vorbei. ‘
Aber sie stellte Ihn.
„Herr Kent, ich wollte Sie besuchen. Ich bin im Wohlfahrtsamt, Mein Name ist Helli Born“, sagte sie und stellte sich quer vor ihn.
Er sah sie erstaunt an. „Sie sind beim Wohlfahrtsamt? Ich hatte mich einmal dorthin verirrt, ich weiß. Meine Beziehungen zu dem Amt, und also auch zu Ihnen, sind gegenstandslos geworden. Es tut mir leid, daß Sie Sich vergeblich bemüht haben.“
Er sagte das in einem verächtlichen und wenig freundlichen Ton. Helli antwortete ihm: „Ich würde mich freuen, wenn Sie erkennen würden, daß es passend ist, mich so höflich zu behandeln, wie ich das Ihnen gegenüber tue. Ich komme nicht nur vom Amt. Ich komme auch, weil zwischen Ihnen und mir noch etwas Persönliches zu erledigen ist.“
Nun stand Kent mit einem rotangelaufenen Gesicht und etwas unbeholfen da. Er wehrte sich gegen seine Unsicherheit, indem er grob fragte: „Was denn?“
„Wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben, unsere Aussprache von dieser kalten Treppe weg in ihre Wohnung zu verlegen?“ sagte Helli. Sie trat eine Stufe höher, und Kent widerstand nicht. Stumm geleitete er sie in sein Zimmer. Er bot ihr einen Stuhl an. Sie nahm gleich Platz.
„Sie wünschen?“ fragte er.
„Sie werden sich an einen bestimmten Anruf erinnern, den ich neulich für Sie erledigen mußte. Aber davon will ich gar nicht reden. Doch denken Sie bitte an den Blumentag, als wir vor dem Hotel eine kurze Begegnung hatten, die etwas unerwartet verlief. Sie wollten mir einen Hundertmarkschein geben. Sie reichten mir den Schein hin und dann ...“
(Fortsetzung folgt)