6. Jahrgang
FREITAG, 20. OKTOBER 1950
Nnnuner 168
Haben die Gemäßigten gesiegt?
Der neue Wyschinski / Verhinderung der westlichen Aufrüstung Ziel Nr. 1
HS Er trägt noch den blauen Anzug von der vorjährigen Tagung — aber sonst ist es ein völlig neuer Wyschinski, der sich in Flus- hing Meadows, auf der ehemaligen Eisbahn der New Yorker Weltausstellung, produziert. Nicht mehr der polternde Staatsanwalt, sondern der vollendete Diplomat — höflich, entgegenkommend, mit seinem weißen Haar über dem rosigen Gesicht wie ein liebenswerter Großpapa aussehend, und jederzeit bereit, auch Kindern ein Autogramm zu erteilen. Die Russen scheinen aus der Wende in Korea viel gelernt zu haben und sind zu Gesprächen bereit. Malik, der alle anderen auf der UN- Bühne im Lächeln überstrahlt, vertraute einigen westlichen Kollegen an, daß man im Russischen nicht nur das Wort „Njet“ habe, sondern auch noch ein anderes, das man sich merken müsse — „Nitschewo“, d. h. es macht nichts.
Wyschinski muß den Auftrag haben, die Korea-Affäre so gut wie möglich zu liquidieren. Das geht vor allem auch daraus hervor, daß die beiden Ereignisse, die man bei Ausbruch des Konflikts am meisten fürchtete — ein Eingreifen der Sowjetunion oder zum mindesten ein Eingreifen Rotchinas —, bisher nicht eingetreten sind. Wenn es dabei bleibt — und der günstigste Augenblick scheint bereits verpaßt —, so bedeutet das einen Sieg der gemäßigten Richtung in Moskau wie in Peking.
Man weiß, daß es im Kreml besonders die Gruppe Malenkows war, die sich für das Korea-Unternehmen stark machte, während Molotow und seine Anhänger im Politbüro zur Vorsicht rieten. Malenko hat seit August an Einfluß verloren und man spricht bereits von einem comeback so „westlerischer“ Sowjet-Diplomaten wie Litwinow und Maisky. Aber auch in Peking gab es zwei Strömungen — den aggressiven Li Li San und die Gemäßigteren um Mao selbst, die sich ebenfalls du'rchgesetzt haben. Die Entsendung einer beobachtenden Delegation nach Flushing Meadows ist zudem ohne Befragung Moskaus erfolgt — ein Akt der Unabhängigkeit, der dort nicht wenig verstimmt haben soll.
Paul Mahlmann, der ehemalige -deutsche Generalleutnant, der seit 1. Oktober 1950 im Majorsrang in Würzburg vier Arbeitskompanien, die Vorratslager und andere Einrichtungen der US- Armee in Deutschland bewachen, befehligt, ist in das öffentliche Interesse gerückt durch einen Brief, aus dem Niemöller Beweise für die angelaufene Remilitarisierung der Bundesrepublik entnehmen zu können glaubte.
Die ersten Fühler in Flushing Meadows wurden von dem Vorspann Wyschinskis, dem weißrussischen Außenminister Kisilew und dem ukrainischen Baranowsky, ausgestreckt, die sich sonst mehr als zurückhaltend zeigten, jetzt aber allen Vorträge über die Notwendigkeit einer Beilegung des Konflikts hielten und dabei unterstrichen, wie wenig Einfluß Moskau auf die Nordkoreaner habe, die den Einmarsch ganz auf eigene Faust unternommen hätten. Aber auch aus anderen Teilen der Welt laufen übereinstimmende Meldungen von sowjetischen Annäherungsversuchen ein
In Wien suchte der neue politische Berater des sowjetischen Kommandanten Außenminister Gruber auf, um mit ihm über die „Unsin- nigkeit“ des koreanischen Krieges zu sprechen. Ein anderer Schritt, der bisher noch geheim blieb, ist in Karatschi unternommen worden. Und am interessantesten ist ein Gespräch, das Mitte September in Delhi zwischen dem Botschafter Pekings, General Yuan Tschung Hsien und Nehru stattfand, bei dem der Diplomat die Vermutung aussprach, daß Moskau bereit sein würde, einen hohen Preis für die Wiederherstellung des Friedens in Korea zu zahlen, ynd bei einer ostasiatischen Regelung, die auch Formosa, den Frieden mit Japan und eine Aufnahme Rotchinas in die UN einschließt, zu einem Entgegenkommen „selbst in Europa“ bereit sein könnte. Auch die Angriffe in Presse und Rundfunk gegen die USA und UN haben schlagartig aufgehört. Statt dessen werden Fragen der Landwirtschaft und die großen Bewässerungs-, Kanalisierungsund Elektrifizierungsprojekte von Kuibischew und Stalingrad herausgestellt, die tatsächlich in Angriff genommen zu sein scheinen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner, daß die Sowjets unbeirrt durch die
Rückschläge im Bezug von Werkzeugmaschinen aus England, London ein neues großes Getreide- und Futtermittelangebot von 3,1 Millionen Tonnen gemacht haben. Wyschinski hat auch den sowjetischen Delegierten in der Genfer UN-Wirtschaftskommission, Arutiu- nian, nach New York mitgenommen, der sich stets für eine Belebung des Ost-West Handels einsetzte. In England besteht vor allem in den Kreisen, die die russische Mentalität aus einer engen Zusammenarbeit während des Krieges gut kennen, die Auffassung, daß das Leitmotiv Moskaus die tatsächliche Furcht vor einer zu großen Erstarkung des Westens ist. Der Kreml ist für einen Weltkrieg nicht vorbereitet, glaubte jedoch infolge des früher verkündeten Desinteressements der USA an Korea, dieses noch in die Taschen stecken zu können. Die unerwartete Reaktion war eine plötzliche Ernüchterung. Sie soll Stalin außerordentlich imponiert haben und Moskau ist überzeugt, einem stärkeren und schlaueren Gegner in die Falle gegangen zu sein. Es fragt sich, ob Stalin auch ein guter Verlierer zu sein weiß. Das typisch-slawische und fatalistische Nitschewo scheint darauf hinzudeuten. Es mag politisch und psychologisch einen Verlust bedeuten — militärisch könnte Moskau ein Dutzend Koreas verlieren.
Das einzige, was wirklich gefährlich sein könnte, wäre die Verwandlung des Atlantik- Pakts in eine wirkliche starke Militärallianz. Die Aufrüstung mit allen Mitteln aufzuhalten ist daher jetzt das oberste Ziel des Politbüros. Und da das mit Gewalt oder Einschüchterung nicht mehr zu erreichen ist, muß es vor allem zu diplomatischen Methoden zurückkehren. Das bedeutet zweifellos eine Entspannung und einen Gewinn — wenn es dem Kreml dabei nicht gelingt, wie schon früher, die Wachsamkeit des Westens einzuschläfern. Seine großen Ziele haben sich natürlich nicht geändert und • auch der Westen muß daher hart bleiben, damit sein militärischer Sieg auch zu einem politischen wird.
Bayerns Liebeswerben um die Pfalz
Südweststaat paßt nicht in bayerische Pläne
In der bayerischen Staatskanzlei sieht man der endgültigen Entscheidung über die Frage Südweststaat oder alte Länder mit größtem Interesse entgegen.
4000 DM hat der bayerische Landtag für die „Pfalzwerbung“ offiziell bewilligt. Die „Pfalzspezialisten“ der bayerischen Staatskanzlei aber wollen mit der großen Propaganda für den Anschluß der Pfalz an Bayern noch warten, bis die Ländergrenzen im Südwesten neu geregelt sind. Man erwartet, daß ein Südweststaat auf die Pfalz eine wesentlich stärkere Anziehungkraft ausüben wird als das kleine Baden. Daher will man warten, bis diese Frage entschieden ist und klar feststeht, gegen wen der „Propagandastoß“ gerichtet werden muß, gegen Rheinland-Pfalz allein oder auch gegen den Südweststaat.
Man wird verstehen, daß eine Anzahl bayerischer Politiker die Bildung eines Südweststaates, in dem sie in Hinblick auf die Pfalz einen potientiellen Gegner sehen, mit gemischten Gefühlen aufnehmen würde. Zu diesem Kreis gehören in erster Linie Dr. Baumgartner und Dr. Hundhammer. Es liegt ihnen außerordentlich viel an einer „Stärkung“ Bayerns durch den Anschluß der Pfalz, denn nicht zu Unrecht heißt es: „Die bayerischen Separatisten sind auch bayerische Imperialisten.“
Zweifellos wäre es verfehlt, in dem bayerischen Wunsch nach einer Rückgliederung der Pfalz nur „Großmachtsträume“ zu sehen. Die Pfalz ist mit Bayern durch eine jahrhundertelange Geschichte verbunden und die Tradition weicht bekanntlich nur ungern rationalen Ueberlegungen. Im Grunde seines Herzens hängt jeder Bayer an der Pfalz, wenn es auch nicht an einsichtigen Stimmen fehlt, die betonen, daß eine Eingliederung der Pfalz im Jahre 1950 ein Anachronismus wäre.
Das offizielle Bayern hat jedenfalls seinen Anspruch auf den „Vorposten im Westen“ niemals aufgegeben und Ministerpräsident Dr. Ehard ist einer der leidenschaftlichsten Streiter unter dem Banner des alten Volksrufes „Bayern und Pfalz, Gott erhalt’s!“. Mit allen Mitteln versucht die bayerische Regierung, die Pfälzer an .der Rückgliederung in ihren alten „Heimatstaat“ zu interessieren. So wurde beispielsweise intern die Weisung gegeben, daß Obst aus der Pfalz unter allen Umständen abgesetzt werden muß, obwohl die einheimische Obstwirtschaft mit großen Absatzschwierigkeiten zu kämpfen hat. Auch die Industrie soll durch Aufträge für Bayern gewonnen werden.
Gerade hier fürchtet man die Konkurrenz eines Südweststaates, der zweifellos von großer wirtschaftlicher Bedeutung wäre. Außerdem fürchtet man in Bayern, daß besonders der Mannheimer Kreis um Oberbürgermeister Dr. Heimeran nicht nur den Südweststaat, sondern auch den Anschluß der Pfalz an Württemberg-Baden fordern könnte. Und schließlich ist man in der bayerischen Staatskanzlei offensichtlich der Meinung, daß man die Bildung eines dritten deutschen „Großstaates“ — neben Nordrhein-Westfälen und Bayern — zumindest nicht zu unterstützen brauche.
DGB geeen Konzerneintliisse
Sie seien die Ratgeber der Bundesregierung
DÜSSELDORF. Der Deutsche Gewerkschaftsbund forderte Mitte der Woche, daß die noch bestehenden Konzerne an der Ruhr aufgelöst werden. Dies sei eine Voraussetzung für die Neuordnung der Stahl-, Eisen- und Kohleindustrie. In einer Erklärung wendet sich der DGB gegen den Einfluß, der „von seiten der alten Konzerne und auch von konzern-
Unser Kommentar
Opposition a. D.
em. Bundesinnenminister a. D. Heinemann hat nun seinen 11 Seiten langen Brief, in dem er seinen Rücktritt begründete, der Oeffent- lichkeit übergeben. Wie wir seinerzeit schrieben: Heinemanns Staatskonzeption und die Adenauers konnten sich nicht finden in der Frage, was zum Besten des Bundes sei. Der Protestant ist zwar nicht gegen eine schwertführende Obrigkeit, aber er wehrt sich dagegen, daß diese Obrigkeit autoritär und ohne Befragung des Kabinetts eine deutsche Truppe, die es noch gar nicht gibt, den Alliierten angeboten hat, so daß etwa die den Deutschen in Fragen der Remilitarisierung nicht wohl gesinnten Franzosen schreiben konnten: „Le gouvernement allemand a donne son accord de principe ä cette remilitarisation.“
Heinemann war im Kabinett der Befürworter der äußersten Zurückhaltung, Adenauer die treibende Selbstmacht schnellster Militarisierung. Das steht fest. Auf die Gesinnung, nicht auf die Formalitäten, kam es dabei an. Der Kanzler war der Stärkere. Er hat den radikalen protestantischen Flügel überrannt und unmöglich gemacht. Die Argumente und Fragen Heinemanns haben ihm nie Eindruck gemacht: Verteidigung tut not, aber erst bei voller Souveränität. Bedeutet Wiederaufrüstung nicht eine neue mit der Demokratie unvereinbare politische Willensbildung innerhalb Westdeutschlands? Müssen die Moskauer Marxisten sich nicht eingekreist fühlen? Ist die Allmacht des Bundestages nicht völlig undemokratisch und von den USA auch gar nicht gewünscht? „Wo ein Wille zur Mitbeteiligung des Volkes vorhanden ist, gibt es auch Wege, um diese Mitbeteiligung aufzuschließen.“ Die Bundesrepublik müsse alles daran setzen eine friedliche Lösung zu finden, jeder künftige Krieg bedeute die Vernichtung Deutschlands. Durch Zurückhaltung wahren wir die Chance für eine friedliche Lösung.
Und zuletzt führt Heinemann seine Theologie gegen Adenauer ins Feld: Er sei kein Gandhi, kein Lehrer des „Du sollst nicht widerstehen dem Uebel“, er sei ein Christ, dem Gottes Allmacht alles bedeute, der Menschen Geschäftigkeit dagegen sehr wenig. Er fordert darum Umkehr und Einkehr (Jesaias 30, 15), er fordert Geduld und Vertrauen auf den Schöpfer und Erhalter Gott und Nachdenken darüber, daß wir Deutsche durch „Gottes Gericht waffenlos gemacht wurden um deswillen, was wir mit der Waffe angerichtet haben.“ Mit Recht sagt er: die Aufrüstung aus Angst vermag uns in die Grube zu stürzen, die wir mit der Wiederbewaffnung gegraben haben.
Der Kanzler meinte, solche Argumente brauche man nicht einmal zu lesen. Wir meinen, man müßte sie so ernst wie möglich nehmen.
freundlicher alliierter Seite“, ausgeübt werde, um die wirtschaftliche Neuordnung, wie sie in den entflochtenen Stahlgesellschaften zum Ausdruck komme, zu beseitigen.
Weiter wird in der Erklärung scharf gegen die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung protestiert, die bei allen wirtschaftspolitischen Fragen die Arbeitnehmerschaft zu übergehen versuche. In einem Schreiben Dr. B ö c k 1 e r s heißt es, daß Vertreter der ehemaligen Kon- zeminteressen alleinige Ratgeber der Bundesregierung seien.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die DAG zählen im Bundesgebiet und Westberlin zusammen rund 5.4 Millionen Mitglieder, das sind etwa 41 Prozent aller Arbeitnehmer.
KAIRO. Die ägyptischen Oppositionsparteien haben König Faruk in einer gemeinsamen Erklärung gewarnt, daß „die Geduld der Oeffent- lichkeit zu Ende geht“ und daß man wegen der skandalösen Amtsführung einiger hoher Regierungsbeamter eine Revolution fürchten müsse. Bei seiner Rückkehr aus Europa wurde der König von Tausenden von ägyptischen Studenten und Arbeitern in den Straßen Alexandriens begrüßt.
Beginn der Konzertsaison
In Tübingen wurde die Wintersaison des musikalischen Lebens wohl beispielgebend für das ganze Land Württemberg-Hohenzollern mit einem Symphoniekonzert eingeleitet, zu dem der bedeutende Dirigent Willem van Hoogstraten und seine Stuttgarter Philharmoniker gewonnen wurden.
Der Konzertbesucher bezahlt seine Karte und nimmt seinen Anspruch, nun etwas ihn Befriedigendes zu hören, für selbstverständlich. Er denkt kaum einmal darüber nach, daß eine gewisse Höhe und Größe der Kultur ihm allererst ein Konzert mit 70 Musikern und einem großen klassischen Programm ermöglicht. Die Existenz von Orchestern ist der beste Beweis, daß die Musik keine bloße Unterhaltung, kein bloßer Sport einiger Liebhaber ist, sondern im ganzen unseres Kulturschaffens begründet liegt, die Macht eines völkischen Daseins widerspiegelt, an der alle teilhaben, auch wenn sie nicht in das Konzert gehen. Die Musik unserer Klassiker wird heute von vielen Menschen wie eine feierliche, ernste Verkündigung des Genius eines Volkes gehört, erlebt und in persönlichste Erfahrung umgewandelt. Es ist nicht bloß dies, daß der Hörer erhoben und ernst gestimmt wird, in ihm selbst geht etwas vor sich, was er zum Leben im Geiste und in der Wahrheit braucht, was ihn weiter bringt und ihm den Alltag verständlich macht. Wir glauben, bloße Aestheten sitzen heute nicht mehr in den Konzerten.
Nicht oft genug können wir darum gerade solche Werke hören, die wir schon in Umrissen kennen, auf die wir uns vorbereiten können, wie auf eine Predigt in der Kirche. Die Stuttgarter gaben uns ein in diesem Wortverstand ideales Prograpim. Des Ritters Gluck-Ouvertüre zur aulidischen Iphigenie .hätte kein schönerer Eingang zur großen Symphonik des 19 Jahrhunderts sein können. Diese Musik ist wie ein antiker Tempel streng und klar in den Maßen und der Bogenform ihres Baues, marmorn in der Ausführung der thematischen Glieder, allgemein menschlich in ihrem Gehalt. Kurz die Verdeutlichung des klassischen Geistes eines Winckel- mann: edle Einfalt, stille Größe.
Dann kamen Meister Brahms’ „Variationen über ein Thema von Haydn“. Aus dem licht- erfüllien Tempel Glucks traten wir in eine deutsche Hallenkirche, erlebten das Flimmern der
bunten Glasfenster, die einfallsreichen Spiele um den schlichten St. Antony - Choral in acht Veränderungen, von denen jede ein kleines Tonstück für sich, ein herrliches Seelengemälde des alle satztechnischen, alle Instrumentierungskünste voll beherrschenden Brahms darstellt, farbig innerlich, blühend und symphonisch ausladend. Wir hörten fast visionär einmal ein versponnenes Volkslied im heiligen Raum, das anderemal ein fliehend, schwebendes Presto, dann wieder eine innige Klage und zuletzt eine Passacaglia mit einem Basso ostinato, aus dem sich die Choralmelodie mit solcher Macht herausschob, daß die Gewölbe entzwei sprangen und der Dank einer großen Seele zu Gott selbst emporstieg.
Als drittes Stück war des Russen Tschaikowsky dröhnendste Symphonie in e-moll gewählt worden. Welche Wandlung in eine weite Horizontale ohne Ende, wenn das wuchtige Schicksalsthema in seiner ganzen Schwere und fast verzweifelten Subjektivität zuerst leise anpocht, dann durch alle Instrumente hindurchgeführt wird und in den folgenden Sätzen mitten in schmachtende Sentimentalität oder in westeuropäische Walzerstimmung barbarisch hart einbricht, um im Finale vollwuchtig und zyklopisch gegen einen düster verhangenen Himmel aufzuschreien. Russische Romantik im westlichen Gewände. Aber mit welcher Meisterschaft weiß Tschaikowsky plastischgängige Melodien zu instrumentieren, zu beichten und in die Erinnerung zu rufen. Freilich ohne je die kontrapunktische Geborgenheit des deutschen Brahms zu erreichen oder diese auch nur zu wünschen. Die Melodien reihen sich wie die Gestalten der Heiligen auf Ikonenbildern flächig aneinander, sie sind fast wie Perlen eines Gebetskranzes in einen Steppenrhythmus gebannt.
Willem van Hogstraaten hat gerade diesen auf Drastik gestellten Russen mit seinen Musikern am besten und kräftigsten dargeboten Beim Brahms fehlte die Goldschmiedearbeit am Filigran, der Gluck wurde durchsichtig gelichtet und gerafft gespielt. Ein schönes Konzert, für das die zahlreichen Hörer herzlich dankten, eri
FREIBURG. Der Dekan der Philosophische^ Fakultät der Universität Freiburg, Prof. Hugo Friedrich, hat den an ihn ergangenen Ruf an die Universität Wien abgelehnt.
Alfred Polgars 75. Geburtslag
Wien ist die Stadt, in der die Lorbeeren mit leichter Hand verteilt wurden. Das Schicksal hat aber dafür gesorgt, daß in ihr Skeptiker gewirkt haben, die sie wieder an die richtige Stelle rückten. Anderthalb Jahre nach Karl Kraus wurde „unter dem wienerischen Breitengrad am Meridian der Skepsis“ am 17. Oktober 1875 Alfred Polgar geboren, durch den der oft so klumpfüßigen deutschen Literatur ein graziöser Geist geschenkt wurde, wie sie ihn seit dem grundgescheiten Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg. einem der hellsten Leuchttürme des 18. Jahrhunderts, nicht oft besessen hat. Von seinem Vater, einem Pianisten und nachromantischen Komponisten, will er die Freude an der Musik geerbt haben, aber nicht sein Talent. Nach dreijähriger Lehre bei einem Klavierbauer ging er zum freieren Beruf eines Gerichtssaal-Reporters und Parlaments-Berichterstatters über. Mit 22 Jahren schrieb er, oft zwischen Schachpartien, seine ersten Kritiken über das Theater, das seine dauerhafteste Liebe werden sollte. Zuerst in seiner Heimatstadt Wien, hierauf von 1925 bis 1933 in Berlin berichtete er mit unbestechlich- ironischer Liebenswürdigkeit und Richtigkeit über all die Premieren und Künstler, die vor und zwischen zwei Weltkriegen an seinem heiter-scharfen Auge vorüberzogen. Unter dem Titel „Ja und Nein“ erschienen sie 1926 bis 1927. von Jakob Hegner edel gedruckt, bei Ernst Rowohlt in vier Bänden. Gleichzeitig veröffentlichte er von dann an jedes Jahr einen Band schlanker, geistreich pointierter Kurzgeschichten, die kaum noch den in seiner Jugend bedeutenden Einfluß verraten, den einst Knut Hamsun auf ihn ausgeübt hat. In diesen Geschichten, die präzis wie Schweizeruhren gearbeitet sind, wird die menschliche Tragikomödie in all ihrer Traurigkeit und Lächerlichkeit, meisterhaft formuliert, mit stets wachsamem Instinkt durchschaut. Der Versuchung, seine Mitmenschen, ihre Abenteuer und ihre Charaktere in zarten Linien nachzuzeichnen, hat Alfred Polgar auch seit seiner Rückkehr nach Wien im Jahre 1933 sowie während seines Aufenthaltes in der Schweiz und in Paris, wo er von 1938 bis 1940 lebte, nicht widerstehen können. 1940 emigrierte er nach den USA. Während des zweiten Weltkrieges hat er eine Zeitlang in der Filmindustrie von Hollywood gearbeitet.
Allmählich ist die Zahl von Polgars erzählerischen Schriften auf ein Dutzend angewachsen. Der zuletzt erschienene Band betitelt sich „Andrerseits“. Die Mischung aus Klang und Mißklang, aus Licht und Schatten, aus Bitterkeit und Güte, aus stachliger Ironie und zarter Anmut wirkt so reizvoll, daß es heute manche heimliche und unheimliche Polgar-Imitatoren gibt. Aber keiner besitzt einen so klugen Aristokratenkopf und sein nobles, heiter-musizierendes Herz. Wenn das Sprichwort „Noblesse oblige!“ befolgt würde, müßten die Leser seiner Bücher und Feuilletons einsichtiger, humaner werden. Die so oft malträtierte deutsche Sprache wird durch ihn zu einem wunderbar ziselierten Kunstwerk, gelegentlich mit einem altwienerischen Hang zum Spielerischen und Dekorativen.
Seine Stellung zu unserer Zeit läßt sich auf die Kurzformel bringen: „Ich glaube an das Gute im Menschen, verlasse mich aber lieber auf das Schlechte in ihm.“ Ihm persönlich zu begegnen ist ein heiterer Genuß. Von einem Film, den wir uns gemeinsam in Zürich ansahen, urteilte er: „Er ist so süß, daß man davon Zahnweh bekommen könnte!“, und als seine Frau im Zimmer des Hotels rief: „Schau doch die armen Spatzen, wie sie lärmen! Was soll ich ihnen geben?", riet er: „Gib halt a Trinkgeld!“
Carl Seelig
„Dantons Tod“ im Landestheater
Heute abend findet die mit Spannung erwartete Tübinger Erstaufführung des berühmten Schauspiels „Dantons Tod“ von Georg Büchner statt. Es ist ein typisches Jünglingswerk, vergleichbar den Räubern Schillers. Büchner war 21 Jahre alt, als er, der Begeisterte der französischen Revolution, sich die wilden Szenen vom Herzen schrieb.
WIESBADEN. Der aus dem Elsaß stammende frühere Kölner Philosophiedozent Ernst Barthel vollendete am Dienstag in Oberkirch (Baden) das 60. Lebensjahr. Er ist mit einer umfassenden Polaritätsphilosophie und -ontologie als Antipode des Existentialismus und des Nihilismus aufgetreten. Besonders bekannt wurde er durch seine Lehre vom Weltall.