6. Jahrgang

MITTWOCH, 18. OKTOBER 1950

Nummer 162

Die Zustände im Flüchtlingslager St. Johann

448 Menschen seit Monaten in Baracken zusammengepfercht / 100 Schulkinder können nicht zur Schule

f.a. Die Not in den Flüchtlingslagern auch unseres Gebietes birgt eine sehr ernstzuneh­mende soziale und politische Gefahr für die Entwicklung der westlichen Demokratie. Mit Recht hat Altlandesbischof D. Wurm dieser Tage in Freiburg darauf hingewiesen, daß das Abendland nur zu retten sei, wenn es für die Probleme, aus denen der Kommunismus ent­standen sei, bessere Lösungen finde als der östliche Bolschewismus. Als Beitrag zu diesem Thema haben wir einmal das Durchgangslager für Ausgewiesene in St. Johann besucht, um uns über die dort herrschenden Zustände zu informieren. Die Eindrücke, die wir gewonnen haben, sind äußerst deprimierend. In dem alten Barackenlager, das bestenfalls zur Auf­nahme von rund 300 Männern unter kommißmäßigen Voraussetzungen geeignet ist, hausen zurzeit 448 Ausgewiesene beiderlei Geschlechts, darunter 165 Kinder. Auch eine realistische Schilderung kann kaum ein wirkliches Bild von dem sogenanntenLeben dieser Menschen geben, die man mit dem Versprechen hierher gebracht hat, sie kämen längstens nach einer Woche in menschenwürdige Wohnungen und in Arbeit.

Die Fahrt zum Lager führt durch eine herbstliche Landschaft, die mit- verschwende­rischem Reichtum Schönheit und Fruchtbar­keit vereint. In den umliegenden Ortschaften tragen die Frauen eben ihre duftenden Kirbe­kuchen zum Bäcker, hochbeladene Wagen brin­gen die Früchte des Feldes, Kartoffeln, Obst und Gemüse nach Hause. Die Keltern und Mo­stereien laufen auf Hochtouren, Geschäftiges Leben und Treiben herrscht überall, wo Men­schen in sicherer Verbundenheit mit ihrer Scholle, ihrem Arbeitsplatz, ihrem Häuschen und Garten leben und werken. Wundervoll leuchtet der herbstliche Wald im Schein der noch sommerlich warmen Sonne und aus den Tälern steigt der dünne Rauch der glimmen­den Kartoffelfeuer.

Das Tor der Hoffnungslosigkeit

Dann aber ändert sich das Bild fast schlag­artig. Wir fahren durch die Tore des F.arak- kenlagers kurz vor dem Gutshof St. Johann und stehen auf einem weiten Platz, der rings von trübseligen Baracken umschlossen ist. Gleich der erste. Blick fällt auf die ausge­spannten Wäscheleinen vor diesen Elendshüt­ten, auf denen wenige Wäschestücke und ei­nige Kommißdecken zur Lüftung hängen, ver­mischt mit Kleidern ältesten Datums. Ein Ru­del Kinder quillt aus den Türen und beäugt uns kritisch.

Bald sitzen wir dem Lagerleiter gegenüber, einem Beamten aus der näheren Umgebung: Herrn Brokamp. Ein Sudetendeutscher und eine Ostpreußin arbeiten noch in seinem ein­fachen, aber sauberen Büro. Herr Brokamp, der seit rund 20 Jahren im Verwaltungsdienst steht, wurde im Juni d. J. vom Landeskom­missariat für die Umsiedlung Tübingen nach St. Johann beordert, wo man ihm das total verlotterte Barackenlager übergab, um dar­aus ein Durchgangslager für Ausge­wiesene einzurichten. Man muß diese Bezeich­nung ausdrücklich und nachhaltig betonen, denn es war damals ja nicht geplant, die Aus­gewiesenen dort monatelang kampieren zu las­sen, wie es nun in Wirklichkeit geschieht. Sie sollten ja nur, nachdem sie größtenteils schon 34 Jahre von einem Lager ins andere ver­frachtet wurden, von dort aus in ihre endgül­tigen Wohngemeinden eingewiesen werden.

Polnische Hinterlassenschaft

Das Lager war bis dahin mit sog. DPs pol­nischer Herkunft belegt und stand unter Lei­tung der IRO. Es dürfte kaum überraschen, wenn man erfährt, daß die Insassen bei ihrem Auszug so gut wie alles zerschlugen. (Im Jahre 1950!) Nach Aussagen des Lagerleiters war kaum eine Tür, kaum eine Fensterscheibe, keine Lampe und kein Türschloß mehr ganz. 192 Fuhren Schmutz und Unrat wurden aus den Unterkünften entfernt. Plätze und Wege waren völlig verwachsen, die Räume verwanzt und vor Gestank kaum zu betreten. Es blieb dem Lagerleiter und den ersten Eintreffenden Vorbehalten, hier in unermüdlichem Fleiß halbwegs wieder europäische Zustände, Sau­berkeit und Ordnung zu schaffen. Der Staat bewilligte gewisse Mittel zum ersten Ausbau. Immerhin hat es bis in diese Tage gedauert, bis die ersten Oefen für die Baracken eintra­fen, in denen ja viele Kleinstkinder leben und kürzlich vier Kinder geboren wurden.

In diesen Mannschaftsräumen aus roh gezimmertem Holz zogen nun am 26. Juni dieses Jahres die ersten Ausgewiesenen ein. 893 Menschen haben bis jetzt das Lager be­treten, 445 sind davon weitergeleitet worden, 448 sind noch immer dort. Viele da­von vom ersten Tag an. Ihr Alter reicht vom eintägigen Säugling bis zum 75jährigen Greis. Sie stammen aus Ostpreußen, Pommern, Su­detenland und Schlesien. Sämtliche Berufe sind vertreten, vom einfachen Hilfsarbeiter bis zum Akademiker. Unter den Lagerinsassen sind 165 Kinder, davon 22 im Alter bis zu drei Jahren, 24 im Alter zwischen vier und sechs Jahren, 44 im Alter zwischen sieben und zehn Jahren, 75 im Alter zwischen elf und acht­zehn Jahren. Rund 100 Kinder sind also schulpflichtig.

Ein Wort an die Moralisten

Man muß sich einmal in unseren wohlge­ordneten und moralischen Haushalten und Fa­milien überlegen, daß diese Menschen meist in Mannschaftsräumen z u 1215 Betten zu­sammen leben und schlafen müssen, Männer und Frauen, Verheiratete und Ledige, Alte und Junge Menschen, die weder miteinan­der verwandt noch näher bekannt sind. Auch ihr intimstesFamilienleben spielt sich tag­täglich in aller Oeffentlichkeit ab. Es gibt keine trennenden Wände, keine Vorhänge zwi­schen den Betten, es gibt nichts, was eine pri­vate, persönliche Atmosphäre schaffen könnte. Nur ganz wenige haben das Glück, eine win­zige Einzelunterkunft zu haben.

Schwer verständliche Logik

Die Verpflegung erfolgt genau wie beim Kommiß aus einer gemeinsamen Küche, wo dreimal täglich eine warme Mahlzeit ausge­geben wird. Das Frühstück besteht aus 250 g Brot, 20 g Butter und Kaffee ohne Milch und ohne Zucker, das Mittagessen an einem Sonn­tag beispielsweise aus Suppe, Bratwurst mit Kraut und Kartoffeln. An Werktagen oft nur aus Eintopf. Das Nachtessen wieder aus 250 g Brot, 20 g Butter, 50 g Wurst und schwarzen Kaf­fee, an Werktagen oft auch aus warmem Ein­topf. Die Küche darf theoretisch pro Tag 1.10 DM pro Kopf aufwenden. Obst, Zucker, M i 1 ch und ähnliche aufbauende Lebens­mittel fehlen. Niemand wird behaupten, oaß diese Art Kost auf die Dauer begeisternd ist, wenn auch alle Mühe verwendet wird, sie kräftig zuzubereiten. Seltsamerweise gilt die­ser Verpflegungssatz aber nur bei einer Stär­ke bis zu 300Mann. Uebersteigt die Lager­stärke diese Ziffer was ständig der Fall ist , so beträgt der Verpflegungssatz nur noch 90 Pfg. pro Tag. Eine Logik, die nur schwer verständlich ist.

Begreiflicherweise ist die wirtschaftliche La­ge der Lagerinsassen durchweg verheerend. Abgesehen von ihren paar Habseligkeiten be­sitzen sie ja nichts, vor allem kein Bargeld. Sie erhalten nach ihrer Registrierung e>n so­genanntes einmaliges Kopfgeld,.nüch drei­ßig D-Mark für einen Familienvater, 10 DM für eine Ehefrau. Ansonsten verdienen nur solche selbst etwas, die in Arbeit stehen. Das Arbeitsamt Reutlingen hat sich nach Angabe des Lagerleiters in wirklich vorbildlicher Wei­se für die Arbeitsbeschaffung eingesetzt. So fährt nun täglich (auf Kosten der Beteiligten)

ein Omnibus mit Männern und Frauen nach Reutlingen und in einige andere Orte, um die Leute zur Arbeitsstätte zu bringen Alle übrigen sitzen mehr oder weniger untätig herum.

Keimzelle für Demokraten?

Besonders schlimm ist die Tatsache, daß die rund 100 schulpflichtigen Kinder bisher ni c h t zur Schule können, weil einfach nichts geschieht, um diese Frage zu regeln. Seit Au­gust sind die Kinder gemeldet mit genauer Aufschlüsselung, für welche Schulen sie in Frage kommen. Bis jetzt ist aber noch keine Lösung gefunden worden. Andererseits haben diese Kinder nichts, womit sie etwa spielen und sich die Zeit vertreiben können. Man überlege sich, was hier mit gutem deutschem Blut geschieht. Wie sollen diese Kinder sich entwickeln, zu welchen Zielen und zu welcher Einstellung werden sie heranwachsen? Etwa zu treuen Staatsbürgern und guten Demo­kraten?

Wir verzeichnen hier die groteske Tatsache, daß die Bundesregierung im Haushalt 1950/51 eine Viertelmillion DMzur Förderung des demokratischen Gedankens und der staatsbür­gerlichen Bildung zur Verfügung stellt, daß aber das Württ. Innenministerium anderer­seits die Mittel abgelehnt hat, um auch nur einen Omnibus für die Flüchtlingskinder zwischen St. Johann und Eningen zum Schul­besuch laufen zu lassen!

Bisher wird vom Lagerarzt der Gesund­heitszustand der Insassen als erfreulich gut bezeichnet. Wir haben keinen Anlaß, an dieser Feststellung zu zweifeln. Die ärztliche Betreu­ung liegt in anerkannt guten Händen. Trotz­dem stimmen die sanitären Verhältnisse be­denklich. Sie sind, wie in allen Baracken, auf erwachsene Männer abgestellt, nicht aber auf Frauen und Kinder. Die Waschräume sind für Männer und Frauen gemeinsam (!) und bestehen lediglich. aus einer Blechrinne mit verschiedenen Wasserhahnen darüber. Ebenso gibt es nur einen Abort pro Baracke, eben­falls für alle gemeinsam. In diesem Wasch­raum wird außerdem die Wäsche gewaschen.

Was soll nun geschehen?

Nun aber die Hauptsache: Warum sind diese Menschen immer noch in dieser drangvoll fürchterlichen Enge des Lagers? Die Behörden sagen: weil die Wohnräume einfach nicht vorhanden sind, um sie aufzunehmen. Die Lagerinsassen sagen: weil uns niemand haben will. Die Statistik sagt, daß der Kreis Münsingen nahezu sein ganzes Soll an Aus­gewiesenen aufgenommen hat (aus dem Lager St. Johann), während der Kreis Reutlingen sich sperrt. Vor allem die Stadt Reutlingen selbst habe prozentual weniger geleistet, als die Gemeinden des Kreises. Und dies trotz der gewaltigen Wohnbauprogramme (die al­lerdings jetzt erst sich auszuwirken begin­nen). Landrat und Oberbürgermeister von Reutlingen erklären beide, daß sie weitere Zwangseinweisungen nicht mehr verantwor­ten können. Was soll dann also geschehen? Wohl ist im Augenblick der Zustrom weiterer 5000 Flüchtlinge abgestoppt worden. Aber was tut man für St. Johann, das um 50 Prozent überbelegt ist? Wir haben durchaus den Ein­druck gewonnen, daß die Lagerleitung selbst das Menschenmögliche tut, um das Los die­ser Menschen erträglicher zu machen. Aber geschieht von behördlicher Seite und vor al­lem von der einheimischen Bevölkerung auch das Menschenmögliche? Möge sich jeder diese Frage selbst beantworten. Und möge sich nie­mand wundern, wenn hier radikale Keimzel­len entstehen, die man hernach nicht so ein­fach zu treuen Staatsbürgernumschulen kann. Man treibt sie ja mit Gewalt dem Kom­munismus in die Arme.

Unser Kommentar

Noch übertrotien

H. B. Wer geglaubt hatte, die nazistischen Wahlmethoden wärenunübertrefflich ge­wesen, mußte sich eines Besseren belehren lassen. Ostdeutschlands Volksdemokraten ha­ben am Sonntag bewiesen, daß die genaue- stens studierten braunen Methoden noch be­deutend ausbaufähig waren. Zweifellos, die Art der organisatorischen Vorbereitung und Durchführung derVolksdemokratischen Volkswahlen weisen auch deutsche Wesens­züge auf: Gründlicher und totaler hätte man diese Komödie nicht inszenieren können.

Der Aufwand hat sichgelohnt, denn mehr als 99,7 Prozent Ja-Stimmen konnte wirk­lich niemand verlangen. Sorgfältig wurden die Prozentzahlen der Wahlbeteiligung und der Ja-Stimmen in den einzelnen Ländern und Ki'eisen abgestuft. Bescheiden hat man sich mit einer Konzession von immerhin ganzen 0,4 Prozent Nein-Sagern begnügt.Der über­zeugendste Wahlsieg der Demokratie, wie sich die Ostpresse in ihren Schlagzeilen über­schlägt, braucht nicht einmal gefälscht zu sein. Denn bedenkt man die totale Erfassung eines jeden Wahlberechtigten, angefangen von den geschlossenen Märschen ganzer Betriebs­belegschaften und Hausgemeinschaften zu den Wahllokalen bis zu dem Zwang der offenen Stimmabgabe, so fragt man sich unwillkür­lich, wie überhaupt die 35 544 Nein-Stim­men zusammengekommen sind.

Emst von Weizsäcker

kh. Es ist klar, der aus Württemberg stam­mende frühere Staatssekretär im hitlerischen Auswärtigen Amt, Ernst v. Weizsäcker, wäre kaum von McCloy begnadigt worden de iure ist er noch Kriegsverbrecher, wenn diesmal nicht in voller Einmütigkeit sowohl der Vatikan als auch jlie evang. Landeskirche sich bei den Alliierten für ihn verwendet hät­ten. Weizsäcker ist kein großer, aber ein sehr geschickter Diplomat, ein typischer Württem- berger, dem das Versöhnen, das Vermitteln zwischen widerstreitenden Gewalten von Va­ters Seite her sein Vater war König Wil­helms II. bester und begabtester Ministerprä­sident im Blute und in der beruflichen Technik gelegen war. Weizsäcker war viel­leicht das beste Beispiel eines Diplomaten der alten grundnationalen Schule, der deswegen unter Hitler einen Aufstieg nahm, weil er hei den auswärtigen Diplomaten, die ihn als ih­resgleichen anerkannten, höchstes Vertrauen

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genoß und weil er sich stets in die zweite Linie, die ohne direkte Verantwortung war, zu stellen wußte, wenn es Differenzen mit Hitler und seinen Ministern gab. Er übte wie sein großes Vorbild Bismarck Diplomatie als dieKunst des Möglichen und dieses Mög­liche war, zu verhindern, umzuleiten, zu ver­mitteln als einzig vertrauenswürdiger Kno­tenpunkt in dem zerfallenden Chaos der Hit­lerpolitik. Nicht ohne Absicht ließ der Vatikan noch bei Ausgang des letzten Krieges kund­tun, daß Herr v. Weizsäcker, wenn einmal die Zeit hierfür wieder reif sei, als Diplomat im Vatikan hochwillkommen wäre. Man bedenke: ein Protestant, aber allerdings ein württem- bergischer Protestant.

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