Nr. 201. Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw. 90. Jahrgang.

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Montag, den 30. August 1915.

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Die russischen Armeen aus der aauzeu Rout m Mzuae.

Die Lage auf den Kriegsschauplätzen.

Die militärische und politische Lage.

Die Kriegslage im Osten erhält täglich für uns ein neues, stets überraschendes Gesicht. Die Aktion gegen den Endlauf der Düna, von Dünaburg bis Riga, scheint wieder in Fluß gekommen zu sein. So­wohl der deutsche Bericht vom Samstag als auch der gestrige russische stellen hartnäckige Kämpfe fest. Nach den russischen Informationen hat Hindenburg dort grosse Truppenkontingente zusammengezogen, wes­halb die feindlichen Militärkritiker die Absicht eines Vorstotzes gegen Petersburg vermuten. Es werden darum ja auch im ganzen Nordwestbereich Russlands die gründlichsten Räumungen vorgenommen, ob nun die Bevölkerung darunter unsäglich leidet, oder nicht, das ist den russischen Machthabern einerlei. Es schei­nen hier gewisse Zusammenhänge mit der Psyche (wenn wir nicht von Pathologie sprechen wollen) der Russen zu bestehen, denen ihr anerkanntes Raub­system in Fleisch und Blut übergegangen ist und die nun die krankhafte Idee haben, dass die Deutschen ge­nau dieselben Räubereien ausführen werden. Ganz bedeutsame Fortschritte haben unsere Truppen wieder auf der Linie KownoAugustowBjalostok gemacht. Der linke Flügel dieser Heeresgruppe ist auf dem Vor­marsch gegen Wilna, das sich wohl kaum wird lange halten können und infolge der Durchschreitung des Waldgeländes östlich von Augustow sind unsere Trup­pen nun schon bei den Vorstellungen Grobnos ange­langt, auf dessen Widerstandskraft selbst die Russen nicht mehr viel Hoffnung setzen. Die zwischen Bobr und Navew stehenden Armeen haben die Linie Dom- browo (30 Kilometer westlich von Grodno)Grodek (auch Grodorok) an der Bahnlinie BjalostokSlonim Narewka (Nebenfluss des Narew) erreicht. Ihr Ziel dürfte wohl der östlich von Slonim liegende grosse Bahnzentralpunkt Baranowitschi sein. Zugleich bedeutet aber dieser Vormarsch nach Osten die völlige Abtrennung der um Brest-Litowsk gruppierten russi­schen Armeen von dem rechten Flügel der russischen Front, während die im Bereich KowelWladimir Wolynsk operierenden verbündeten Armeen die Los­trennung des russischen Zentrums von seinem linken Flügel (Bugoberlauf und Zlota Lipa) bewerkstelligt haben. Die verbündeten Armeen haben durch diese Erfolge, deren Nachwirkung unabsehbare Möglich­keiten in sich trägt, die russische Front in drei Teile zerrissen, die nun sowohl durch frontales Vorgehen als auch durch Flankierungsbewegungen ungefasst werden. Oestlich von Brest Litowsk, vom Bialowieska- forst bis zu den Rokitnosümpfen sind die russischen Armeen, denen die Festung als Stützpunkt doch zu unsicher gewesen ist. einem richtigen Kesseltreiben ausgesetzt, dessen Ausgang interessant zu werden ver­spricht. Die Armee Prinz Leopold von Bayern hat mit ihrem rechten Flügel schon den Bialowieskaforst passiert und nähert sich Szereszowo, das etwa noch 20 Kilometer von der Bahnlinie Brest Litowsk Minsk entfernt ist. Andererseits haben die von Sü­den her anmarschierenden Truppen Kobrin genom­men. Es fragt sich nun, inwieweit es den in der Bwhngabel Brest LitowskPrushanyKobrin zu- sammenqedrängten russischen Armeen gelungen ist, sichzurückzukönzentrioren". Ist das nicht bis zu einem Grade möglich gewesen, der noch einen ord­nungsgemässen Abtransport gewährleistet, dann könnte es hier schon zu einer Katastrophe für das Zentrum des Feindes kommen. Eine neue Note ist aber mit der Meldung der letzten Fortschritte der Verbündeten am oberen Buglauf und an der Zlota

Lipa in das Bild der Kriegslage gekommen. Es ist geradezu staunenerregend, wie planmähig alles vor sich geht. Nachdem unsere Armeen die Front Riga Brest Litowsk zu einer geraden Linie gemacht hatten, geht nun der rechte Flügel der Verbündeten eben­falls wieder zur Offensive über. Die östlich Wladimir Wolinsk vormarschierenden Truppen folgen dem weichenden Feind in den Bereich der Festung Lusk. Weiter wurde die ganze russische Befestigungslinie an der Zlota Lipa durchbrochen, wobei 10 000 Gefangene gemacht wurden, und die Verfolgung des Feindes ge­gen den nächsten Flussabschnitt, den Strypa, erfolg­reich durchgeführt.

Man kann es sich denken, dass angesichts dieser katastrophalen Lage der russischen Armee die Stim­mung der Alliierten nicht sehr rosig ist. Zwar wird immer noch darauf los geschwindelt, die russische Re­gierung lässt durch ihre diplomatischen Vertreter im Ausland offizielle Erklärungen abgeben, wonach die Lage der Russen keineswegs so schlimm sei. als die bösen Deutschen gern wahr haben möchten, die russi­sche Armee ziehe sich auf einen Platz zurück, wo sie sich reorganisieren könne, und mit Hilfe der unerschöpf­lichen Reserven werde dann wieder eine neue Offen­sive angefanqen. Das Prinzip der Hinhaltungstaktik, auf Grund deren die verbündeten Armeen einfach nach und nach aussterben müssen, wird auch als ein­ziges Trostmittel offiziell in London und Paris aus­gegeben. Man lässt überhaupt alle Minen springen, um die Bevölkerung, unter der sich hier eine gewisse Lethargie auszubreiten scheint, dort aber eine starke Oppositionslust gegen die Kriegsmacher bemerkbar macht, noch bei der Stange zu halten. Aber unter der scheinbar ruhigen Decke fängt es schon gewaltig zu brodeln an. In Russland wird die Opposition der Duma immer drohender, es wird mit aller Kraft ge­gen das absolutistische Regiment angekämpft und die Regierung muss sich Dinge sagen lassen, die sie früher nur mit Sibirien beantwortet hätte. Die echt russi­schen Leute wittern angesichts einer solchen Sprache der Linken die Vorboten der Revolution. Auch in Regierungskrisen scheint sich irgend etwas vorzube­reiten. Wie man hört, will die Hofpartei den Ge­neralissimus zum Sllndenbock stempeln, um für den schlimmsten Fall den Zaren zu retten. In Frankreich haben sich d-e Parteien der Linken sicherlich auch nur durch den Ernst der Lage bestimmen lassen, ihren Kampf gegen die Regierung einstweilen einzustellen. Aber wenn Ioffre sein Winterlager nicht, wie er versprochen hat, in die Rheingegend zu verlegen ver­mag. so werden wir wohl bald wieder etwas von sener Seite hören. In England «allein wird die Lage so nüchtern wie möglich erörtert. Das englische Volk, das Jahrhunderte lang gewöhnt war, andere für seine Interessen kämpfen zu sehen, soll aus seiner Gleich­gültigkeit aufgerüttelt werden. Man will ihm die drohende Gefahr so drastisch wie möglich darstellen. Man weif; drüben natürlich genau, dass wir unfern Feind erkannt haben, und dass es für uns keinen Frie­den giebt. solange nicht die Gewähr besteht, diesen Feind für absehbare Zeit unschädlich zu machen. Wenn aber Russland abgetan ist, dann wissen unsere heim­tückischen Vettern ganz genau, wie viel es für sie ge­schlagen hat. O. kv

Die deutschen amtlichen Meldungen.

(WTB.) Grosses Hauptquartier, 28. August. (Amtlich.) Westlicher Kriegsschauplatz. Ein französischer Handgranatenangriff am Lingekopf (nördlich von Münster) wurde abgewiesen. Auf einem grossen Teil der Front war die Tätigkeit der Artil­

lerie und Flieger sehr rege. Feindliche Flieger be­warfen ohne Erfolg Ostende, Mittelkerke und Brügge. In Müllheim (Baden) wurden drei Zivilpersonen durch Fliegerbomben getötet.

Oestlicher Kriegsschauplatz. Heeres­gruppe des Generalfeldmarschalls v. Hinden- burg: In den Gefechten nordöstlich von Bausk und Schönberg ist der Gegner geworfen. Heber 2000 Rus­sen wurden gefangen genommen, 2 Geschütze und 9 Maschinengewehre erbeutet. Feindliche Borstötze ge­gen Teile unserer Front zwischen Radsiwilischki und Swiadosze wurden abgeschlagen. Südöstlich von Kowno schreiten die Truppen des Generalobersten o. Eichhorn siegreich weiter vor. Zwischen dem Bobr und dem Bialowiskasorst wird verfolgt. Die Stadt Narew ist besetzt.

Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls Prinz Leopold von Bayern: Die Heeresgruppe ist im Vordringen in den Bialowiskasorst und über die Lesna-Prawa, deren östliches User im Unterlauf be­reits gewonnen ist.

Heeresgruppe des Generalseldmarschalls v. Mal- kensen: Kamienez-LitowskMyszczyce überschrit­ten. Zwischen dem Muhawiec und dem Pryjetfluss trieben unsere Truppen den geschlagenen Feind vor sich her. Deutsche Reiterei warf gestern bei Samary (an der Strasse KowelKobryn) eine feindliche Ka­vallerie-Division.

Südöstlicher Kriegsschauplatz. Unter Führung des Generals Graf Bothner haben deutsche und österreichisch-ungarische Truppen gestern an der Slota-Lipa, nördlich und südlich von Brzesany die russischen Stellungen durchbrochen. Nächtliche feind­liche Gegenangriffe wurden blutig abgewiesen. Heute früh gab der Gegner nach weiteren Misserfolgen den Widerstand auf. Er wird verfolgt.

(WTB ) Grosses Hauptquartier. 29. August. (Amtlich.) Westlicher Kriegsschauplatz. Keine wesentlichen Ereignisse.

Oestlicher Kri egsschau platz. Heeres­gruppe des Generalfeldmarschalls v. Hinden- burg: Südöstlich von Kowno wurde hartnäckiger feindlicher Widerstand gebrochen. Unsere Truppen folgen den weichenden Russen. Das Waldgelände öst­lich von Augustow ist durchschritten, weiter südlich wurde in der Verfolgung die Linie Dombrowo GrodekNarewka-Abschnitt (östlich von der Stadt Narew) erreicht.

Heeresgruppe des Generalseldmarschalls Prinz Leopold von Bayern: Die durch den Bialowiska- Forst verfolgende Heeresgruppe nähert sich mit ihrem rechten Flügel Szereszowo.

Heeresgruppe des Generalseldmarschalls v. M a k- kensen: Unter Nachhutkämpfen wurden die Russen bis in die Linie Poddubno (an der Strasse nach Pra- zana)TewliKobryn gedrängt. Unsere von Süden her durch das Sumpfgelände vordringenden Verbände haben den Feind bis nahe vor Kobryn verfolgt. Mit einer Roheit, die unsere Truppen und unser Volk mit -tiefem Abscheu erfüllen muss, haben die Russen zur Maskierung ihrer Stellungen Tausende von Einwoh­nern, ihre eigenen Landsleute, darunter viele Frauen und Kinder, unseren Angriffen entgegengetrieben. Ungewollt hat unser Feuer unter ihnen einige Opfer gefordert.

Südöstlicher Kriegsschauplatz. Die verbündeten Truppen haben den gestern geschlagenen Feind über die Linie PomorzanqKoniuchq Ko- zowa und hinter den Koropiez-Abschnitt zurückge- worfen. Oberste Heeresleitung.