Nr. 200. Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw. 90. Jahrgang.
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Samstag, den 28. August 1915.
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Siegreich auf der ganzen Ostfront.
England und wir.
Ein offener Brief Greys gegen die Rede des Reichskanzlers. — Die deutsche Antwort.
* Die für die Erklärung der Ursachen des Weltkrieges so bedeutungsvollen Veröffentlichungen der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" über die Neutralität Belgiens, in welchen an der Hand von in Brüssel aufgefundenen Dokumenten nachgewiesen wurde, daß Belgien durch Verhandlungen mit England inbezug auf einen Kriegsfall schon lange tatsächlich seine Neutralität ausgegeben hatte, und die Veröffentlichungen der Berichte der belgischen Gesandten in Berlin, Paris, Petersburg und London, die so scharf die Kriegspolitik des Dreiverbands gekennzeichnet haben, sind der englischen Regierung anscheinend gehörig an die Nieren gegangen. In Befürchtung eines ungünstigen Einflusses auf die Neutralen und, falls man in England auch Kenntnis davon erhalten sollte, auf das eigene Volk, hat Mister Grey, der verantwortliche Minister für Auswärtige Angelegenheiten bei Ausbruch des Krieges, der damit auch die Verantwortung für die Beteiligung Englands am Kriege trägt, sich veranlagt gesehen, einen offenen Brief an die Zeitungen zu ertasten, indein er als unmittelbaren Vorwand die letzte Rede des Reichskanzlers im Reichstag benützt. Grey behandelt zuerst die belgischen Dokumente über die Besprechungen des belgischen 'Ee- neralstabschefs mit dem englischen Militärattache. Er behauptet, die Unterredungen hätten nur auf den Fall Bezug genommen, daß Belgien angegriffen werde. Es habe keine Abmachung und Uebereinkunft bestanden. Im übrigen habe Grey noch 1913 dem belgischen Gesandten kategorisch erklärt, daß England nach Belgien und andern neutralen Ländern keine Truppen senden würde, falls ihre Neutralität nicht durch eine andere Macht verletzt würde. Andererseits aber habe der deutsche Reichskanzler am 29. Juli 1914 der englischen Regierung erklären lasten, daß Deutschland die künftige Unabhängigkeit Belgiens garantieren werde, falls England sich bei Ausbruch des Krieges an der Verletzung der belgischen Neutralität beteiligen würde, indem es den deutschen Durchmarsch durch Belgien anerkenne. Der deutsche Unterstaatssekretär habe erklärt, Deutschland müsse auf dem schnellsten und leichtesten Wege nach Frankreich einmarschieren, um mit den Operationen schnell vorwärts zu kommen. Es bedeute für die deutsche Sache Leben oder Tod (sehr richtig), da die Deutschen, wenn sie den südlichen Weg eingeschlagen hätten ,infolge Straßenmangels und der Stärke der Festungen nicht ohne heftigen Widerstand durchgekommen wären, der damit verbundene Zeitverlust wäre aber für die Russen ein Zeitgewinn gewesen, ihren unerschöpflichen Vorrat an Truppen an die deutsche Grenze zu bringen. Wenn der deutsche Reichskanzler am 4. August 1914 die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland als Unrecht zugegeben habe, so sei es verächtlich und niedrig, wenn man auf nachträgliche Beweise hin sich rechtfertigen wolle. Grey schließt die Behandlung der belgischen Frage mit der Bemerkung, ob der Reichskanzler die Anklage gegen Belgien zurückgezogen habe, da er in seiner letzten Rede keinen so großen Nachdruck darauf gelegt hätte, und, wenn ja, ob Deutschland das grausame Unrecht, das es Belgien angetan habe, gut machen wolle? (Sollte diese sehr eigentümliche Bemerkung Ereys ein Friedensfühler sein?)
Zu den Verhandlungen über ein englisch-deutsches Abkommen sagt der Brief, Deutschland habe verlangt, daß England ein Versprechen abgebe, das darauf hinausgelaufen wäre, daß England absolut neutral blieb, während Deutschland freie Hand behalten hätte, sich im Rahmen seiner Bündnisse an einem europäischen Krieg zu beteiligen. Grey meint dann weiter, Serbien hätte das harte österreichische Ultimatum beinahe angenommen, die unentschiedenen Punkte hätten in einer Woche auf der von England und Rußland vorgeschlagenen Konferenz in ehrenvoller und gerechter Weise erledigt werden können. Aber die Weigerung Deutschlands, sich an der Konferenz zu beteiligen, habe zwar nicht über die
Teilnahme Englands am Krieg, wohl aber über die Frage von Krieg und Frieden in Europa entschieden. Deutschland habe sich unter dem nichtigsten (!) Vorwände zum Kriege entschieden. Man habe auch nachher gehört, daß der deutsche Botschafter in Wien von vornherein den Eindruck gemacht habe, als wünsche er den Krieg.
Der Brief Greys geht dann noch auf das in der letzten Sitzung geäußerte Kriegsziel der deutschen Regierung und des deutschen Volkes ein: Deutschland wolle eine Kontrolle über das Schicksal aller andern Nationen ausüben. Das würde bedeuten, daß Deutschland allein die Freiheit genießen würde, die internationalen Verträge zu brechen, und wenn es wieder in den Krieg ziehe, die Regeln zivilisierter Kriegführung und Menschlichkeit zu Lande und zur See zu brechen, und während es so handeln würde, würde sein ganzer Seehandel in Kriegszeit frei bleiben. Bei der darauffolgenden Behandlung der Frage der künftigen Seekriegführung wirft dann Mister Grey den Neutralen einen fetten Köder hin, der besonders in der jetzigen Zeit, wo England rücksichtslos alle Rechte der Neutralen mit Füßen tritt, und vor den gemeinsten Vergewaltigungen nicht zurückschreckt, auf seine wahre Bedeutung zurückgeführt werden muß. Grey meint: „Es wäre sehr vernünftig, die Freiheit der Meere zum Gegenstand von Beratungen, Begriffsbestimmungen und Abkommen nach diesem Kriege zu machen, aber nicht als etwas Abgesondertes und nicht, solange kein Friede und keine Sicherheit gegen den Krieg und deutsche Methoden zu Master und zu Lande bestehen. Wenn es Garantien gegen einen zukünftigen Krieg geben solle, so müßten sie allumfassend und wirksam sein, und Deutschland ebenso wie die anderen Nationen, England eingeschlosten (wie entgegenkommend!), binden. Deutschland will an erster Stelle stehen, der Friede für die anderen Nationen würde der sein, den Deutschland gewährt. Das ist offenbar der Schluß, den man aus der Rede des deutschen Kanzlers ziehen kann. Weiter weist Grey auf die Erklärung des Staatssekretärs Helfferich hin, der gesagt habe, daß die schwere Bürde von tausend Millionen durch Dekaden nicht von Deutschland getragen werden müsse, sondern durch die, welche er die Anstifter des Krieges zu nennen beliebe. Deutschland beanspruche also, daß die Nationen, die ihm Widerstand geleistet hätten, Jahrzehnte lang in Form von Kriegsentschädigungen einen Tribut bezahlen. Deutschland kämpfe also um die Oberherrschaft und um einen Tribut. Unter solchen Umständen könne kein Frieden geschlossen werden.
Man muß sagen, Grey hat sich in der Anwendung seiner Verdrehungskunst selbst übertroffen. Die Aufmachung seines Widerlegungsversuchs gegenüber den veröffentlichten Dokumenten und des Kommentars zu den Erklärungen im Reichstag sind wirklich geeignet, harmlose Gemüter von der Unschuld der englischen Regierung zu überzeugen. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung» hat aber auf dieses „Material" die richtige Antwort gefunden. Sie stellt erstens einmal fest, daß Sir Edward Grey über die Berichte der belgischen Gesandten, die so scharfe Anklagen gegen seine Politik führen, mit Stillschweigen hinweggegangen ist. Sie stellt ferner fest, daß am 23. April 1909 der englische Militärattache Oberst Vridges dem General Jungbluth erklärt habe, daß die englische Regierung die Absicht gehabt habe, auf alle Fälle, auch ohne die Zustimmung der belgischen Regierung, in Belgien Truppen zu landen. Gegen diese Erklärung habe die belgische Regierung keinerlei Protest erhoben, während auf die Vermutung hin, daß Deutschland eine Verletzung der belgischen Neutralität beabsichtige, Belgien alle Vorbereitungen für die Intervention eines englischen Hilfskorps getroffen habe. Das Entscheidende aber ist. daß der englische Generalstab den belgischen Eeneralstab zu einer so engen Zusammenarbeit und zu einer so weitgehenden Berücksichtigung der militärischen Pläne Englands veranlaßt hat, daß dadurch eine einseitige militärische Parteinahme Belgiens zu Gunsten Englands herbeigeführt wurde.
Bezüglich des Konferenzvorschlags wird darauf hingewiesen, daß man es der Naivität Greys in militäri
schen Dingen zugute halten könnte, wenn er annehme, Deutschland hätte sich durch Konferenzen wochenlang Hinhalten lasten können, während sich gleichzeitig die Mil- lioneuheere Rußlands an der deutschen Ostgrenze meldeten. Wäre das geschehen, so würde heute ganz Deutschland der Wüste gleichen, die die russischen Horden in Ostpreußen und überall, wo sie hinkamen, zurückgelasten haben. Sir Edward Grey wußte, was die russische Mobilisation zu bedeuten hatte. Hätte er in Petersburg zu verstehen gegeben, daß England sich nicht in den Weltbrand hineinziehen lasten wolle, so wäre der Krieg vermieden worden. Statt dessen hat er den Ententegenosten die militärische Unterstützung Englands in Aussicht gestellt. Dem folgte unmittelbar die russische Mobilmachung. Damit war der Weltkrieg entschieden. Die „Nordd. Allgem. Zeitg." schließt mit folgenden Ausführungen: Nicht auf Erringung der Vorherrschaft in Europa ist das Streben Deutschlands gerichtet, sondern auf die Befreiung Europas von der brutalen Gewaltherrschaft, die England bisher mit Hilfe seiner übermächtigen Flotte und mit einer Politik ausgeübt hat, die darauf hinauszielt, die Mächte des Kontinents in zwei feindliche Lager zu spalten, sie sich zum Vorteil Englands gegenseitig zerfleischen zu lassen, und sein Gewicht jn die eine oder andere Wagschale zu werfen, je nachdem seine egoistischen Bestrebungen dabei am besten ihre Rechnung finden.
Die Lage auf den Kriegsschauplätzen.
Die deutsche amtliche Meldung.
(WTB.) Großes Hauptquartier, 27. August. (Amtlich.) Westlicher Kriegsschauplatz. In der Champagne und auf den Maashöhen wurden französische Schanzanlagen durch Sprengungen zerstört. In den Bogesen wurde ein schwacher französischer Vorstoß leicht abgeschlagen.
Oestlicher Kri egsschauplatz. Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls v. Hinden- burg; Die Gefechte bei Baust—Schönberg (südwestlich von Mitau) und in der Gegend östlich von Kowno dauern an. 2459 Russen sind gefangen, 4 Geschütze und 3 Maschinengewehre erbeutet. Südöstlich von Kowno wurde der Feind geworfen. Die Festung Olita ist von den Russen geräumt und von uns besetzt. Weiter südlich sind die deutschen Truppen gegen den Njemen im Vorgehen. Der Uebergang über den Berezowka-Abschnitt (östlich von Ossowiec) ist erkämpft. Die Verfolgung ist auf der ganzen Front zwischen Suchawola (an der Berezowka) und dem Bialo- wiflaerforst im Gange. Am 25. und 28. August machte die Armee des Generals v. Gallwitz 3599 Gefangene und erbeutete 5 Maschinengewehre.
Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls Prinz Leopold von Bayern: Die Heeresgruppe verfolgt. Ihr rechter Flügel kämpft um den Uebergang über den Abschnitt der Lesna—Prawa (nordöstlich von Kamienez-Litowsk.
Heeresgruppe des Generalfeldmarschalls v. M a k- kensen: Nordöstlich von Brest Litowsk nähern sich unsere Truppen der Straße Kamienez-Litowsk— Myfzczyce. Südöstlich von Brest Litowsk wurde der Feind über den Nyta-Abschnitt zurückgeworfen.
* Die Festung Olita liegt am Njemen. halbwegs zwischen Kowno und Grodno.
Oberste Heeresleitung.
Unsere D-Boote.
(WTB.) Berlin, 27. Aug. Am 16 .August hat eines unserer Unterseeboote die bei Harrington an der Irischen See liegende Benzolfabrik einschließlich des Bcnzol- lagers und die zugehörigen Koksöfen durch Geschiitzfeucr vernichtet. Die Werke find mit hohen Stichflammen in die Lust geflogen. Die seinerzeit in der englischen Presse