Nr. 186
Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk. Calw
90. Jahrgang
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Donnerstag, den 12. August 1915
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Weitere Fortschritte auf der ganzen Ostfront.
Der russische Rückzug, die Ostseeprovinzen und Polen
Je weiter der Rückzug der russischen Heere aus den Grenzprovinzen des russischen Riesenreiches sich vollzieht, um so mehr gewinnen wir den Eindruck, daß in diesen Provinzen und bei den Vertretungen ihrer völkischen Interessen sich Bestrebungen bemerkbar machen, deren Tragweite im Augenblick, da die Russen noch nicht völlig geschlagen sind, nicht zu übersehen ist, die aber doch den Schluss zulassen, daß diese in ihrem inneren Wesen den russischen Bedrückern meist völlig fremden Völkerschaften nnr den geeigneten Zeitpunkt abwarten, um entweder vom russischen Joch frei zu kommen, oder aber doch mindestens, wenn es nicht anders geht, aus der jetzigen Not ihrer Unterdrücker Kapital nach der Richtung größerer Freiheiten in der Selbstverwaltung herauszuschlagen. In Betracht kommen einmal die Ost- seeprovinzen Kurland, Livland, Esthland und Finnland, die aus deutscher, lettischer und schwedischer Bevölkerung bestehen und denen man der Form halber eine gewisse Autonomie eingeräumt hat, über deren Charakter man sich natürlich keinerlei Illusionen hinzugeben braucht. In den drei elfteren Provinzen hat der Landadel, der meist aus Deutschen besteht, ein starkes Uebergewicht, weshalb auch beobachtet werden kann, dass diese Kreise fest in die russischen Traditionen hineingewachsen sind; in Finnland ist die Autonomie scheinbar auf eine breitere Basis gestellt worden. Während besonders die Finnländer, und auch die deutschen Balten, ihren völkischen Charakter gegen die Russifizierungsver- suche mit aller Energie verteidigt haben, hat sich die littauisch-lettische Bevölkerung wohl am meisten den russischen Verhältnissen angepaßt.
Man hätte nun glauben sollen, daß die russische Regierung, die gerade in den letzten Jahren die Vergewaltigung der Bevölkerung Finnlands und der baltischen Provinzen in großem Maßstabe getrieben hatte, in der Stunde der Gefahr wenigstens sich einer gewissen Mäßigung befleißigen würde. Das gerade Gegenteil war der Fall. Es wurde seit Beginn des Krieges eine Gesinnungsschnüffelei getrieben, sowie ein Unterdrückungssystem bezüglich der deutschen Sprache unterhalten, wie sie schlimmer nicht mehr hätten angewendet werden können. Die führenden Geister insbesondere in Finnland, selbst durch das Jmmunitätsgesetz geschützte Abgeordnete und Richter wurden nach Sibirien verschickt, unter den loyalsten Deutschrussen wurden Spionen gerochen, und die Regierung ließ den unsauberen Elementen der echtrussischen Leute freien Lauf, wenn sie den Haß gegen alles Deutsche predigten. Die andauernden Proteste der Finnländer und Balten blieben ohne jede Wirkung. Wie weit gegen die Bevölkerung dieser Provinzen der Haß und das Mißtrauen getrieben wurden, das ersehen wir aus den Berichten des liberalen „Rjetsch" von den letzten Dumasitzungen, die unter dem Eindruck der einsetzenden Katastrophe des russischen Heeres stattgefunden haben, und deshalb charakteristisch für die Stimmung der Bevölkerung der Ostseeprovinzen sind. Selbstverständlich mußten sich die Vertreter dieser Provinzen in der Duma als „treue Untertanen Rußlands bekennen, die unerschütterlich ihre Pflicht für Kaiser und Reich tun würden", aber die echtrussischen Leute glaubten ihnen einfach nicht, weil sie natürlich wohl wissen, daß ihnen die russische Gewaltherrschaft nicht als der Güter höchstes erscheinen kann. Es wurde deshalb auf die Beteuerung der Vertreter der Ostsee
provinzen, daß sie bis zum Ende ihre Pflicht für „Kaiser und Reich" tun würden, von der rechten Seite des Hauses die ironische Frage aufgeworfen: Für welchen Kaiser, welches Reich?! Die Vertreter dieser Provinzen stellten aber in der Duma nicht nur ihre unbedingte Loyalität gegenüber Rußland fest, sie wagten es auch, der russischen Regierung ihre Gewaltmaßregeln vorzuwerfen in einem Ton, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Es wurde festgestellt, daß, während die deutschen Balten Freischaren für das russische Heer bildeten, und ihre ganze Jugend im russischen Heer sich befinde, gegen eben diese Deutschen eine an Zynismus grenzende Verhetzung getrieben werde, und sie völlig recht- und schutzlos diesem von oben herab begünstigten Treiben ausgesetzt seien. Dasselbe Schicksal erleiden auch die Finnländer, von denen man glaubt, daß sie einen Anschluß an Schweden erstreben. Daher auch das Mißtrauen Rußlands und der Entente gegenüber den Rüstungen Schwedens. Inwieweit Ruland jetzt die Bevölkerung der Ostseeprovinzen für zuverlässig hält, zeigt auch der Umstand, daß man daran ist, alle in jenem Bereich liegenden Festungen zu räumen.
Genau dasselbe Spiel wie mit den Ostseeprovinzen hat der Zarismus mit Polen getrieben, liebevoll dasselbe Bild der Unterdrückung geistiger, religiöser und materieller Kulturgüter. Polen ist ein rein russisches Gouvernement, und die Wünsche der Polen, die Autonomie zu erhalten, wurden stets mit rücksichtsloser Verfolgung der „revolutionären" Häupter beantwortet. Bei Ausbruch des Krieges wurde dann, da man die Polen brauchte, vom Oberstkommandierenden ein Erlaß herausgegeben, wonach ihnen die Autonomie versprochen wurde, als die Russen dann aber eine Zeitlang in Galizien Glück hatten, dachte kein Mensch mehr daran. Jetzt, da Polen in kurzer Zeit ganz in den Händen der Verbündeten sein dürfte, wird den „lieben" Polen auf einmal auch offiziell die Autonomie zugestanden, deren Umfang allerdings erst nach (!) dem Kriege geregelt werden soll. Natürlich haben auch die in der Duma vertretenen Polen nicht umhin können, ihre Treue zum Zarenreich zu bekunden, der Empfang der verbündeten Truppen durch die polnische Bevölkerung sagt uns aber mehr als jene bestellten Duma- reden, was die Polen von der Zugehörigkeit zu Väterchens Reich halten, und wenn sie bisher immer noch nicht wußten, wie die Russen die Gleichberechtigung der andern Völkerschaften auffassen, so sagt ihnen das der deutsche Tagesbericht recht deutlich, nach dem das zurückflutende Heer alles vernichtet, was nicht rein russischer Besitz ist.
„Polen ist noch nicht verloren", ist seit der letzten Aufteilung des alten Königreichs das elektrisierende Losungswort aller Polen, und es ist deshalb gerade heute, wo die Zentralmächte daran sind, das ganze polnische Volk aus den Klauen des Zarismus zu erretten, interessant zu lesen, wie sofort die polnischen Vereinigungen in Oesterreich-Ungarn mit ihrem Programm auf den Plan treten. Aus naheliegenden Gründen haben die russischen Polen zu der Frage der Wiedcrerstehung des polnischen Königreichs noch keine Stellung genommen, und die deutschen Polen, ebenso wie wir, werden daran durch das bis jetzt wohl begründete Verbot der Erörterung des Kriegsziels verhindert, aber die fortschreitende Niederwerfung der russischen Heeresmacht bringt uns jeden Tag dem Ziel näher, da Erörterungen und Entschlüsse über alle diese Fragen notwendig werden.
O. 8.
Ein Aufruf des polnischen Nalionalkomitees.
Wien. 11. Aug. In den in Krakau erscheinenden Tagblättern „Lzas" und „Nowa Reforma" wurde ein Aufruf des Obersten polnischen Nationalkomitees veröffentlicht, in dem es heißt: Die Eroberung von Warschau, die die Befreiung Warschaus vom russischen Joche bedeutet, ruft in der polnischen Gesellschaft einheitliche Gefühle hervor. Die Tatsache jedoch, daß die Einnahme der Hauptstadt Polens nicht so erfolgt ist, wie wir es gewünscht hätten, bewirkt, daß vom politischen Gesichtspunkt aus die Sache geprüft und aufgeklärt werden muß. Das Oberste polnische Nationalkomitee erachtet es als seine Pflicht, diese Aufgabe zu erfüllen. Die Staatsraison gebietet uns einerseits den Kampf gegen Rußland, andererseits zeigt sie uns den polnischen Staat als das Ziel unseres Strebens und jeglicher Arbeit. Vom Standpunkte der Zentralmächte stellt sich die Sache ebenso dar. Die vollständige Schwächung Rußlands ist für sie die Bedingung ihrer Existenz und die Bedingung dieser Schwächung ist, soll sie von Dauer sein, die Wiederauferstehung des polnischen Staates. Aus diesem Grunde hat sich die Versammlung der polnischen Abgeordneten vom 16. August 1914 für den Kampf gegen Rußland erklärt, die polnischen Legionen gebildet und dem Obersten polnischen Nationäl- komitee die Verwirklichung dieses Programms übertragen. Voraussetzung ist, daß dieses Programm in der Seele eines jeden Polen lebt und daß nur äußere Verhältnisse ihm nicht gestatten, sich sofort und überall mit der gleichen Kraft durchzusetzen. Von den Grenzen des polnischen Staates vor der Beendigung des Krieges zu sprechen, ist nicht Sache realer Politiker. Festgestellt muß jedoch werden, daß eine Vereinigung des ungeteilten Königreiches mit dem ungeteilten Galizien die Grundlage der Bestrebungen der Polen bildet. Die Bedingung unseres Erfolges ist die Organisation der Gesellschaft auf Grund des einheitlichen politischen Prinzips. Aus diesem Grunde erscheint es uns notwendig, daß die von der russischen Herrschaft befreiten polnischen Länder sich untereinander in Organisationen gruppieren, die sich durch hierzu gewählte Kommissionen mit dem Obersten polnischen Nationalkomitee zum Zwecke der Schaffung einer einzigen Organisation für die ganze Nation zu verständigen hätten. Mit Spannung erwarten wir den Augenblick, da es das Königreich erklären, die Aktion in ihre Hände nehmen und mit Warschau, dem Herzen Polens, sich an die Spitze der Nation stellen wird.
Der österreichische Polenklub zur Einnahme Warschaus.
Wien, 11 . Aug. Die polnische Fraktion im österreichischen Reichsrat, der Polenklub, hat laut „B. Z." eine Kundgebung beschlossen, die von der historischen Tatsache der Einnahme von Warschau durch die verbündeten Truppen ausgehend, im wesentlichen besagt: Die polnische Fraktion erblickt die stärkste Sicherung ihrer nationalen und politischen Zukunft in der habsburgischen Monarchie und verlangt, daß ein ungeteiltes Königreich, mit Galizien zu einem selbstständigen praktischen Ganzen vereinigt, als Königreich im Verbände der habsburgischen Monarchie entstehe. Der Polenklub drückt seine feste lieber,zeu- gung aus, daß die nationale und politische Wiedergeburt Polens die Kraft und die Macht der habsburgischen Monarchie bedeutend heben wird, daß sie im Lebensinteresse des Deutschen Reiches gelegen ist. sowie, daß sie die ruhige Entwicklung der abendländischen Kultur sichern wird.