verbliebenen liberalen Minister mutzten sich eine Veredlung" des Kabinetts gefallen lassen, wie sie wohl seit Jahrhunderten in England nicht gesehen wurde. Wir würden aber einen unverzeihlichen Feh­ler begehen, wollten wir die hagelsdicke Kritik, die heute über die ängstlichen Häupter des englischen Kabinetts herabregnet, und die pessimistischen Aeuße- rung etwa so deuten, als ob das nun Symptome für eine auch im Parlament vorhandene Krisgsmü- digkeit wären. Daran ist vorläufig nicht zu denken. Solange die maßgebenden Kreise in England, und das sind die, die auch das Parlament beherrschen, noch einen letzten Funken von Hoffnung haben, die mißliche Kriegslage umzugeftalten, wird man in London von Frieden nichts wißen wollen. Die Eng­länder haben sicherlich unter der Zustimmung des größten Teils derjenigen Kreise, die auf der Insel was zu sagen haben, den Krieg nach kühler Berech­nung begonnen; sie wollten die deutsche Weltkonkur­renz vernichten, mit dem geheim gehaltenen Hinter­gedanken, dabei auch zugleich den unbequemen Kon­kurrenten in Mittelasien und Indien, Rußland so zu schwächen, daß dieser Staat es sich für einige Zeit nicht einfallen lassen könnte, den Herren Engländern unbequem zu werden. Die aufgestellte und dem Par­lament unterbreitete Bilanz stimmte in der Theo­rie, denn wir dürfen heute annehmen, daß das eng­lische Kabinett damals sicherlich schon vertraulich die Mitteilung machen konnte, daß Italien seiner Bünd­nispflicht nicht Nachkommen werde, und daß dann auch weiter damit gerechnet werden könne, die Balkan­staaten vollends in den Kreis der Gegner Deutsch­lands zu ziehen. Grey glaubte damals behaupten zu dürfen, daß England bei den Friedensverhandlungen besser daran sei, wenn es im Krieg Partei nehmen würde, was soviel besagen wollte, wenn wir nicht gleich mitmachen, hat unser Wunsch. Deutschland nie­derzuwerfen, keine große Aussicht auf Erfolg. Man war also in England der Ansicht, die Zertrümmerung der deutschen Militärmacht und damit seiner Wirt­schaftskraft wäre durch ein Mindestmaß englischer Hilfe zu erreichen gewesen. Aber es war eben anders gekommen. In der ersten Zeit wurde das englische Volk durch die offizielle Presse in ein dichtes Lügen- und Verleumdungsnetz verstrickt. Als aber die Mo­nate vergingen und die Heere der Verbündeten sicht­lich immer mehr die Oberhand gewannen, als die englische Flotte im Gegensatz zu den Hoffnungen der stolzen Patrioten sich in keiner Weise als offensiver Kriegsfaktor erwies, und in Besorgnis vor den deut­schen Unterseebooten sich in den heimatlichen Häfen verstecken mußte, als weiter unter der 17-Vootgefahr die Versorgung des Jnselreichs mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen litt, als vor allem auch die schweren Verluste der Kriegsmarine bekannt wurden, da hat man allmählich in England eingesehen, daß die von der verantwortlichen Regierung aufgestellte Rech­nung nicht stimmte, und von da an setzte die Kritik der öffentlichen Meinung ein, die mit dem Stim­mungsumschwung im Volke zu rechnen hatte, und die heute an einem Punkt angelangt ist, daß selbst der Außenstehende sehen muß, wie weit der Pessimismus in den maßgebenden englischen Kreisen gediehen ist.

Man wirft der Regierung u. a. auch vor, daß sie. nicht genügend vorbereitet gewesen sei und erst kürzlich hat sich Lord Haldane über diesen Vorwurf ausgesprochen, wobei er so interessante Bemerkungen machte, daß wir nicht umhin können, diese Aeuße- rungen festzuhalten, die auch in England selbst das größte Aufsehen erregt haben. Der Lord sagte im liberalen Klub: England sei bisher zu sorglos ge­wesen. Es werde immer gesagt, daß England die ein­zige Nation gewesen sei, die nicht vorbereitet war auf das, was sich ereignete. Aber sei vielleicht Deutsch­land darauf vorbereitet gewesen, daß sein alter Ver­bündeter Italien sich unter die Feinde menge? (Was sagen die. Italiener zu diesem Haldaneschen Zartge­fühl?) Sei Deutschland vorbereitet gewesen auf den Wirbelsturm von Kritik, den seine Kriegsführung in der größeren Mehrheit der Vereinigten Staaten ge­funden hat? Konnte Deutschland auf Indiens Lo­yalität rechnen oder darauf, daß General Votha die Holländer in Südafrika gegen die Deutschen führen würde? Lord Haldane sprach mit Eifer für eine starke Flotte und für ein gut ausgerüstetes Expedi­tionsheer. dem eine starke nationale Armee den Rük- ken stärken müsse. Dann sprach Haldane über den Frieden, wobei er sich nicht auf die Friedensbeding­ungen einlassen, sondern nur die Lage erörtern wollte, in der sich England befinde, wenn der Friede abgeschlossen werde.Laßt uns dafür sorgen", sagte er,daß wir nicht allzu schlecht vorbereitet sind, wenn der Friede kommt. Denn was wird sich dann ereig­nen? Man wird nur wenig Kapital zur Verfügung haben. Es wird eine Tendenz bestehen, die Geschäfte nach Amerika zu verlegen. Unsere Industrie wird nur sehr schwer ihre Betriebe wieder auf das alte Niveau bringen können und dann werden wir die

ungeheure Zahl von Soldaten, die zurückkommen, zu versorgen haben. Wir dürfen also nicht eine unzu­friedene große Insel in der Nordsee werden, sondern wir mäßen jetzt an das denken, was getan werden muß. und wir müssen uns jetzt schon vorbereiten, die Quellen des Wohlstandes und des Wohlergehens wieder aufzubauen."

Aber nicht nur die militärische Lage hat den Engländern zu denken gegeben, insbesondere machen sich mit der Zeit auch finanzielle Schwierigkeiten be­merkbar, die in England ganz besonderem Jntereße begegnen. Die neue englische Kriegsanleihe hat nicht den Erfolg gehabt, den man der Welt Vortäu­schen will. Die neutralen Länder werden von eng­lischen Agenten zurzeit direkt überschwemmt, die darnach trachten, große Kriegsanleihebeträge unter­zubringen. Bezeichnend ist auch die Tatsache, daß die Engländer ihre alten 2(Hprozentigen Konsols in Holland zu 60 und 61A anbieten, während ihre Re­gierung ausdrücklich verbietet, die Konsols an der Londoner Börse unter 65A> zu verkaufen. Ein grel­les Streiflicht auf die finanziellen Verhältnisse in England wirft auch die Oberhausdebatte, die kürz­lich aus Anlaß eines Antrags des Lords Middleton auf Einschränkung der Ausgaben der Zivilverwal- tung entstanden war. Es wurde von Seiten des Hauses offen ausgesprochen, daß die finanzielle Lage augenblicklich außerordentlich ernst fei, und daß die ungeheure Verschwendungssucht einzelner Aemter aufhören müsse. Am pessimistischsten äußerte sich Lord Loreburn, der darauf hinwies, daß jeden Tag 60 Millionen Mark für den Krieg ausgegeben würden. Er wünschte, die englische Kriegskostenrechnung möchte allen Nationen Europas zugeistellt werden, denn diese Zahlen bezögen sich auf die wohlhabendste, mächtigste und zäheste aller Nationen, die jetzt im Kriege begriffen seien, und Ziffern ähnlicher Art müßten für die Nationen gegeben werden, die ärmer seien, denn praktisch käme es schließlich darauf hin­aus, daß, wenn nicht den Ländern Europas der Ver­stand käme, wir direkt auf einen Bankerott ganz Europas in verhältnismäßig kurzer Zeit zusteuern. England sei augenscheinlich besser daran als die an­deren Nationen. Aber wenn man sich die finanzi­ellen Verhältnisse der anderen Nationen vor Augen halte, dann bedeuteten diese den Bankerott, und er fürchte, daß dieser an vielen Orten zur Revolution führen würde.

Wir sehen also, es beginnt in England eine Un­zufriedenheit einzureißen, die in uns allerdings keine Hoffnungen auf ein bald zu erwartendes Friedens- bediirfnis Englands erwecken darf, die Engländer wißen, um welchen Einsatz es geht die uns jedoch erkennen läßt, daß der falsche Vetter überm Kanal drauf und dran ist. seine äußere Ruhe zu verlieren. Diese Feststellung sagt uns aber mehr wie alle an­dern Beobachtungen, daß es mit unserer Sache beßer als je steht.

Vermischte Nachrichten.

Die Botschaft hör ich wohl . .

Wien, 9. Juli. DasVolksblatt" erfährt über Stockholm aus Petersburg: Der Ministerrat unter Vorsitz Eoremykins hat die Neugestaltung Polens im russischen Gesamtreich beschlossen. Nach dem Be­schluß des Ministerrats wird Polen souveränes Kö­nigreich mit eigenen Staatsgrundgefetzen. Seine Vertretung in der Gesamtregierung des Reiches er­folgt durch ein eigenes Staatssekretariat beim russi­schen Ministerium. Väterchen muß in arger Ver­legenheit sein, wenn er zumAeußersten" greifen will. Die Mehrzahl der Polen wird aber wohl selbst die überraschend schnelle Sinnesänderung Väterchens und seiner Ratgeber richtig einzuschätzen wißen. Der Zeitpunkt ist auch für Rußland außerordentlich gut gewählt: Die Verbündeten setzen den letzten Hebel an, um Polen mit Warschau in ihre Hände zu bringen, was hindert also die russischen Machthaber, Polen zum Königtum zu machen. Wir können uns nicht versagen, nochmalsWallenstein" zu zitieren: Wär der Gedanke nicht verflucht gescheit, man wär versucht, ihn herzlich dumm zu nennen".

Russische Durrr-Dum-Geschosse.

Berlin, 9. Juli. Nach eidlichen Aussagen deut­scher Unteroffiziere wurden anfangs Juli an der Dubissa in einer russischen Stellung nicht weniger als 14 Patronentaschen voll russischer Patrone» mit abgeschnittenen Spitzen gefunden.

Für eine neue Offensive.

Bösel, 9. Juli. Die serbischeSkupschtina" be­schloß einstimmig, eine außerordentliche Anleihe von 250000000 für Heereszwecke aufzunehmen, um wie­der eine allgemeine Offensive durchführen zu können. Die letzte 200 Millionen-Anleihe soll noch nicht er­schöpft sein.

Der Mißbrauch der griechischen Flagge durch Italien.

(WTB.) Atheu, 9. Juli. Ein unter griechischer Flagge fahrender Dampfer, der Benzin- und Oel- ladung an Bord hatte, ist in den griechischen Ge­wässern von einem griechischen Kriegsschiff aufge­bracht und nach Korfu gebracht worden. Die dort an- gestellte Untersuchung ergab, daß das SchiffEian- nicola" heißt, zur italienischen Kriegsflotte gehört und von einem aktiven italienischen Marineoffizer befehligt wurde. Nach dieser Feststellung mutz die Angelegenheit auf diplomatischem Wege geregelt werden. Der Mißbrauch der griechischen Flagge durch die italienische Kriegsflotte erweckt hier die größte Entrüstung. Es verlautet, daß noch ein anderes Schiff unter ähnlichen Umständen aufgebracht wor­den ist.

Aus Stadt und Land.

Cal». den 10. Juli 1915. Vom Rathaus.

Oeffentliche Sitzung des Eemeinderats am Don­nerstag, den 8. Juli, nachm. 41/2 Uhr. Den Vorsitz führt Amtsverweser G.R. Eugen Dre. Anwesend sind 10 Mitglieder. Der Vorsitzende teilt die Namen der dekorierten Soldaten mit, zu deren Ehren sich die Kollegien erheben. Mit dem Eisernen Kreuz wurden ausgezeichnet Unteroff. Dittus und Unteroff. Gauß, mit der silbernen Militärverdienstmedaillo Friedr. Wurster, Gefr. Mütschele, Kriegsfrei­williger Erwin Schweizer und Unteroff. Jakob Vurkhardt. Die Feuerwehrabgaben für das Jahr 1915/16 werden festgesetzt; den eingerückten Mannschaften werden die Abgaben nachgelassen. Dem Vorarbeiter Sailer wird eine Lohnerhöhung einstimmig bewilligt. Flaschner Braun hat ein Gesuch um Zulassung als Installateur eingereicht. Der Gemeinderat genehmigt das Gesuch in wider­ruflicher Weise bis zur Ablegung der Meisterprüfung im elektrotechnischen Fache. Baurat Gr 0 ß richtet an die Kollegien eine Zuschrift betreffs der Waßer- menge im Haueinschnitt und der Erweiterung des städtischen Wasserwerks. Der Gegenstand wird spä­ter beide Kollegien beschäftigen. Festgestellt wurde, daß die gefaßten Quellen im Hau in der Waßerliefe- rung Nachlaßen und im jetzigen Zustande nicht ge­nügend Wasser für die Stadt liefern würden. Zimmermeister Ernst Kirchherr sucht um käuf­liche Ueberlaßung eines städtischen Grundstücks beim hohen Felsen behufs lleberbauung mit einem Wohn­haus nach. Der Ge me in de rat stellt das Gesuch zurück bis zur Feststellung der Fortsetzung der Eartenstrahe über den hohen Felsen. Die jetzige Trockenheit verursacht einen Wassermangel. Die Einwohnerschaft soll zur Beschränkung des Wasserverbrauchs unter Androhung von Strafen für jeden Mißbrauch im Waßerbezug aufgefordert werden. Reichstagsab- geordneter Schweikhardt hat für die Familien­unterstützungen und den Bezirkswohltätigkeitsverein den schönen Beitrag von 200 -K gespendet, wovon der Gemeinderat dankend Kenntnis nimmt. Zur Beratung gelangten noch eine große Zahl kleinerer Gegenstände. Ein Rechtsstreit, Rechnungen und De- kreturen bildeten den Schluß der Sitzung. Ende 7 Uhr.

Wohltätigkeitskonzert.

* Zu Gunsten des hiesigen Roten Kreuzes veran­stalten am Sonntag den 18. Juli, abends ^/>8 Uhr imBadischen Hof" Stuttgarter Künstler ein Wohl­tätigkeitskonzert. Ihre Mitwirkung haben zugesagt Fräul. Elisabeth Ertle (Deklamation), Frl. Maria Löflund (Klavier), Fräul. Lili Rotal (Gesang), und die Herren Kamermusikus W. Schulz (Violine) und Konzertsänger Hermann Conzelmann (Bariton). Wie man uns mitteilt, ist das Programm sorgfältig ausgelesen; außerdem versprechen die Namen der Künstler schon einen vollen Erfolge Es ist deshalb zu hoffen, daß die Veranstaltung ebensowohl wegen des zu erwartenden künstlerischen Genußes als auch des guten Zweckes halber sich eines zahlreichen Zu­spruchs erfreuen darf.

Kriegsinvalidenfürsorge.

Die dem Landesausschuß für Kriegsinvaliden­fürsorge angegliederte Beratungsstelle bei der Ver­sicherungsanstalt Württemberg gibt folgende Ueber- sicht über ihre Tätigkeit von Mitte Februar bis zum 22. Juni 1915. Erschienen sind an 36 Sprechtagen 300 Kriegsinvaliden. Davon sind einer Arbeitsstelle zugewiesen 175, und zwar ohne Berufswechsel 41, an andere Beratungsstellen übergeben 59 (darunter 57, Nichtwürttemberger). Verhandlungen schweben noch bei 66 Kriegsinvaliden. Von den 300 Kriegsinva­liden gehören zum Kreis der Industriearbeiter 116, zum Kreis der Handwerker 70, zum Kreis der Land-