Aus Stadt und Land.
Calw, den 5. September 1914.
Verlustliste.
(Amtliche wilrttembergische Verluste Nr. 10.) Infanterie-Regiment Nr. 180, Tübingen—Gmünd.
Reservist Gottlieb Friedrich Bechtold aus Nagold — gefallen.
Ulanen.Regiment Nr. 19, Ulm.
Oberstleutnant Wilhelm Freiherr von Gültlingen aus Ludwigsburg — schwer verwundet, gestorben.
Gesichtetes Flugzeug.
Ueber Liebenzell in der Richtung Neuenbürg ist heute morgen 9 Uhr ein Flugzeug gesichtet worden, ob deutschen oder feindlichen Ursprungs war nicht möglich festzustellen.
Auch eine Anregung.
Auf den Aufruf zur Meldung als freiwillige Sanitätshund-Führer sind zahlreiche Meldungen eingegangen. Bei einem preußischen Garderegiment wird gegenwärtig ein Versuch mit Sanitätshunden gemacht. Je nach Ausfall dieses Versuchs werden dann größere Einstellungen gemacht werden. Die Schlachten der letzten Wochen haben viel, viel Opfer gekostet. Viel gibt es noch zu tun, um denen zu helfen, die verwundet auf dem Schlachtfelde liegen. Manchem könnte noch geholfen werden, wenn rasche Hilfe zur Stelle wäre; aber sie müssen so elend zugrunde gehen, weil die hereinbrechende Nacht die Sinne der Krankenwärter beeinträchtigt. Da haben wir einen bewährten Freund, der mit seinem scharfen Instinkt den Menschen zu Hilfe kommt. Wer wollte da nicht mithelfen?
Es ist nun schon der Vorschlag gemacht worden, ob nicht die Besitzer geeigneter Hunde (in Betracht kommen aber nur Hündinnen der vier Polizeihundrassen) sich zusammenschließen könnten und ihre Hunde unter Anleitung für diesen Dienst erziehen wollten. Im Krieg ist >alles einfach, aber das Einfache ist schwer," das gilt auch für die Verwendung der Hunde. Die Suche in dunkler Nacht, in dichtem Gestrüpp, in hohem Kornfeld, ist gerade schwer genug; sie erfordert einen ganzen Hund und einen rechten Führer. Daß diese Versuche nicht in größerem Umfang schon in Friedenszeit gemacht worden sind, zeigt am besten unsere Friedensliebe.
Es ist eine Ehrenpflicht, der sich keiner in Betracht Kommende entziehen darf, diesem Aufrufe schnellstens Folge zu leisten. Die Stunde ist ernst — und mancher, der nicht als Soldat in den heiligen Kampf ziehen darf, kann hier seine Pflicht tun. und Msern verwundeten Brüdern noch rechtzeitig Hilfe M Rettung bringen.
Wer sich an diesem Kurs beteiligen will, melde sich bei Hauptlehrer G. Eberle, Stammheim, an. Die Uebungen werden in der Umgegend von Calw abgehalten.
Androhung von Höchstpreisen.
Ueber die Preisbildung verschiedener Nahrungsmittel, besonders des Mehls im Großhandel, ist vielfach Klage laut geworden. So wurde berichtet, daß einzelne Großmühlen den Mehlpreis von 33 auf 13 ltt und darüber gesteigert haben, obwohl sie noch mit Vorräten aus der Zeit vor der Kriegserklärung versehen waren. Solche Preistreibereien konnten schon in der ersten Zeit nach der Mobilmachung nicht entschuldigt werden. Nach Eintritt der Verkehrserleichterungen und nach der inzwischen erfolgten Beruhigung der Getreidemärkte können derartige Ausschreitungen, die auf eine Ausbeutung der Bevölkerung hinauslaufen, unter keinen Umständen geduldet werden. Wenn deshalb der Großhandel und die Mühlen nicht sofort zu angemessenen Preisen zurückkehren, müssen zum Schutze des Kleinhandels und der Verbraucher vor Ueberteuerung Höchstpreise in dem Großhandel festgesetzt werden. Nach dem Gesetz könnte die Behörde die Vorräte übernehmen und zu den festgesetzten Höchstpreisen für Rechnung und auf Kosten des Besitzers verkaufen, wenn dieser sich weigert, zu den Höchstpreisen zu verkaufen. Für die Festsetzung der Höchstpreise ist nur die wirkliche Marktlage bestimmend.
Herbstgesellenpriifungen. Wie aus dem Inseratenteil hervorgeht, veranstaltet die Handwerkskammer Reutlingen auch diesen Herbst wieder Gesellenprüfungen für solche Lehrlinge und Lehrmädchen, welche ihre Lehrzeit bereits bezw. in der Zeit bis 15. Febr. vollendet haben. Wir machen darauf aufmerksam, daß das Bestehen dieser Prüfung die Voraussetzung für die Zulassung der Meisterprüfung bildet und daß die Lehrherren gesetzlich verpflichtet sind, ihre Lehrlinge zur Ablegung dieser Prüfung anzuhalten._
Unterreichenbach, 4. Sept. Als gestern Nacht anläßlich des Sieges bei Reims mit Böllern geschossen wurde, ging infolge Unvorsichtigkeit ein Tchuß dem 18 Jahre alten Eoldarbeiter Wilh.
Burkhardt ins Schienbein. Er liegt jetzt schwer verletzt zu Hause.
Mannheim, 3. Sept. In einem hiesigen Lazarett findet allabendlich Gottesdienst statt, wobei ein Harmonium mitwirkt. Gespielt wird dieses von zwei Verwundeten, aber nicht vierhändig, sondern zweihändig, jeder spielt mit einer Hand, denn dem einen ist die linke, dem andern die rechte Hand durchschossen, aber zusammen können sie Musik machen.
Weitere Nachrichten.
Neuer Kommandeur des 14. Armeekorps.
Karlsruhe, 4. Sept. Der Kaiser hat den kommandierenden General des 14. Armeekorps, Frhr. v. Huene, unter wärmster Anerkennung der geleisteten Dienste und herbeigefllhrten Erfolge in Führung des Armeekorps vor dem Feind und unter Auszeichnung desselben mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse zu anderer Verwendung bestimmt und den Generalleutnant Frhr. v. Matter, Kommandeur der 39. Division, mit der Führung des Armeekorps beauftragt.
Keine Beteiligung der Geistlichen gegen uns im Bereich des 15. Armeekorps.
Straßburg, 4. Sept. Der kommandierende General v. D e i m l i n g hat an den Bischof von Straßburg folgendes Schreiben gerichtet : Ew. Exz. beehre ich mich auf das gefällige Schreiben vom 17. August ergebenst zu erwidern, daß Fälle, wonach Geistliche sich während der Kämpfe des 15. Armeekorps im Elsaß einer Unkorrektheit schuldig gemacht hätten, mir nicht bekannt geworden sind.
Die Festung von Verdun.
Die Festung Verdun liegt tief im Maastale in einer breiten Niederung. Verdun, früher eine deutsche Reichsstadt, kam im westphälischen Frieden zu Frankreich. Im deutsch-französischen Krieg kapitulierte die Festung am 8. November 1870 nach zweimonatlicher Belagerung. Damals wurden zwei Generale, 11 Stabsoffiziere und etwas über 4000 Mann Linientruppen zu Gefangenen gemacht. Erbeutet wurden 136 Geschütze schweren Kalibers, über 20 000 Gewehre und grobe Vorräte an Tuch und Munition. Seit der Abtretung von Metz ist Verdun für Frankreich als Kreuzungspunkt der Straßen und Eisenbahnen an der Ostgrenze durch 11 Forts zu einer der stärksten Festungen umgeschaffen worden.
Die Festung Maubeuge.
Die Festung Maubeuge liegt im französischen Departement Nord. Sie ist von sechs neueren Forts und mehreren Batterien umgeben. Die Stadt kam 1678 durch den Frieden von Nimwegen zu Frankreich, wurde durch Bauban befestigt, aber im Juli 1814 von den Preußen erobert.
Die Festung Antwerpen.
Antwerpen, die Hauptstadt der gleichnamigen belgischen Provinz, zugleich Hauptfestung und bedeutendster Seehafen Belgiens, liegt am rechten Ufer der Schelde. An Stelle der alten Festungswälle umzieht ein einziger Wall mit breitem Wassergraben im Umfang von 18 Kilometer das Weichbild der Stadt, mit beiden Enden auf die Schelde sicki stützend. Vor diesen Umfassungslinien sind 1859—64 zwei Gürtel von detachierten Forts angelegt worden, deren innerer 4 Forts und 2 Lünetten, der äußere 12 Forts und 1 Lünette enthält. Unter Napoleon I der den Hafen bedeutend erweiterte und Antwerpen zum ersten Waffenplatz seines Reiches machen wollte, wurde die Stadt 1809 und 1814 von den Engländern vergeblich belagert. Die Beschießung von Antwerpen durch den holländischen General Chasse (21. Oktober 1830), sowie die spätere Belagerung durch die Franzosen (Ende 1832) richteten großen Schaden an.
Vermischtes.
Die Seele der Völker.
Es ist das Großartige am Krieg, daß er die Seele der Völker wieder in ihrer Nacktheit zeigt, befreit von jedem überflüssigen Schmuck, all der Aeußerlichkeiten entledigt, auf die unsere falsche Schätzung in andern Zeiten so viel Wert legt. Das Tiefste in dieser Seele zeigt sich offen, das Gute wie das Schlimme, die Stärke wie die Schwäche. Daher ist der Krieg immer der große Prüfstein für eine Volksseele, eine Wahrheit, die alle Jahrtausende der menschlichen Geschichte beweisen, und je mehr bei einer vorgeschrittenen Zivilisation die Masken, die Verkleidungen und die Hüllen wachsen, die jeder über sein Ich werfen kann, desto rücksichtsloser reißt der Krieg alle diese Hüllen weg, zwingt den Menschen wieder, ganz auf sich selbst, auf der großen Individualität seines Volkes, zu stehen. Denn letztes Endes fühlt dann jeder wieder die Wahrheit, daß man seine tiefsten Gedanken, seine letzten Empfin
dungen nur mit seinen Volksgenossen teilen kann, daß auch ein jahrzehntelanger Aufenthalt im Ausland nicht gewisse Schranken niederreiven kann, die ewig von den Fremden trennen. Wie manchen haben wir in diesen Tagen kennen gelernt, der vorher fiir das Ausländische schwärmte, der nur in französische Theaterstücke ging und englische Schneider für seine werte Person in Arbeit setzte, der vier Monate im Jahre auf auswärtigen Renn- und Badeplätzen verbrachte! Und auf einmal entpuppt er sich in diesen Tagen als ein Chauvinist vom reinsten Wasser, die Kinkerlitzchen sind abgefallen, und man sieht, daß alles, was man für den Inhalt seiner Seele hielt, nur eine sehr dünne, sehr zerbrechliche Form war. Der Krieg ist der große Reiniger der Seelen. Er fegt wie ein Sturmwind allen Staub aus ihren Ecken heraus. Er entfernt alles Muffige, wie allen falschen Glanz und alle aufgeputzte Armseligkeit. Seine Wirkung liegt nicht bloß in der großen Erregung des Patriotismus, in der begeisterten Hingabe an die Idee des Vaterlandes, die wir alle in diesen Tagen in so herzerhebender Weise erlebt haben, sie geht weit darüber hinaus. Wir begreifen wieder, daß die alten Aeußerungen des Bluts, die Instinkte, die unsere Vorfahren hinterlassen haben, für unser Dasein als Volk wertvoller sind als alle Wissenschaften und Künste, die uns die Jahrhunderte vermacht haben.
Diese Aeußerungen des Blutes, die zeigt unser Landwehrmann von heute noch genau so wie sie der Landsknecht des 16. Jahrhunderts zeigte, wie der germanische Krieger des frühen Mittelalters sie hatte, und es sind diese Eigenschaften, denen wir unsere Erfolge verdanken, nicht den Maschinengewehren und den 42 Centim.-Mörsern, die unsere Arsenale bergen. Stark und geradsinnig, schwer reizbar, aber wenn er gereizt ist, von einer unbezähmbaren Wut. hat sich der deutsche Charakter noch immer nicht an die Schliche, an das berechnete Intrigenspiel, an die heimtückische Rachsucht seiner Nachbarn gewöhnen können. Wir sind in deren Beurteilung viel zu unvorsichtig gewesen, wie die Ereignisse gezeigt haben. Etwas von dem großen Jungen kam da zum Vorschein, der in jedem Deutschen steckt, der sich zu leicht auf folgenden Gedankenschluß einläßt: Ich komme den andern freundlich entgegen, warum sollten sie mir nicht auch entgegenkommen? Unsere Nachbarn, die sich alles mit Zahlen berechneten und deren Horizont offenbar bei den militärischen Berechnungen endete, haben mit diesem Faktor in der deutschen Seele, mit dieser Wut der Enttäuschung nicht gerechnet, die jetzt unsere Truppen draufgehen läßt wie die Beserker. Keinen trifft diese Wut schwerer als den Engländer, gegen den nun einmal die Stimmung in Deutschland von einer ganz besonderen Art ist. Jeder Erfolg gegen die Engländer wird, wie man wenigstens an der Bevölkerung der Reichshauptstadt sehen kann, mit der doppelten Freude begrüßt, wie solche gegen Franzosen und Russen. Nicht als ob man das Krämervolk besonders hoch schätze, aber man gönnt ihm das Aergste, was einem kriegführenden Volk geschehen kann. Man haßt es, weil der Aberglaube, daß der Engländer mit uns stammes- und seelenverwandt sei, vorläufig bei der Masse unseres Volkes noch nicht auszurotten ist, und man bringt selbst heute noch hier Gefühlsargumente vor, die bei jedem politisch denkenden Engländer nur ein Lächeln Hervorrufen.
Unterschätzen wir übrigens nun auch die Seele der andern nicht. Dies ist notwendig in einem Augenblick, wo unsere Heere Erfolge errungen haben und bereits in fremden Ländern kämpfen. Die fanatische Freiheitsliebe des heimtückischen Belgiers, die ehrliche Vaterlandsliebe des Franzosen, der den heimischen Boden verteidigt, und die Zähigkeit der Briten, der weiß, daß, wenn das eingeleitete Riesengeschäft fehlschlägt, der Bankerott vor seiner eigenen Tür steht, werden uns noch manches zu schaffen geben. Die europäische Verschwörung ist gedemütigt, aber noch nicht gebrochen.
Der Zar in Aengsten.
Zum Kriegsminister spricht der Zar:
Ich finde es ganz sonderbar,
Daß in dem gegemvärt'gen Krieg Die Deutschen haben Sieg auf Sieg.
Was tun sie denn vor allen Dingen,
Was ist ihr Mittel zum Gelingen?
O Majestät spricht der Minister Und seine Stimm wird zum Geflüster:
Die Deutschen singen vor der Schlacht Das Lutherlied mit Vorbedacht:
„Eine feste Burg ist unser Gott,"
Er macht der Feinde Rat zu Spott!
So, spricht der Zar: nur dieses wärs?
Dann singen wir den zweiten Vers,
Wir werden dann gewiß auch siegen,
Und diese Brut bald unterkrtegen!
O Majestät der fängt ja an:
„Mit unsrer Macht ist nichts getan!"
Mir die Schrift!, verantwortlich: I. V. vr. P. N ad i g. Druck und Verlag der A. Oelschläger'schen Buchdruckerei