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Nummer 217
ALtensteig» Montag den 16. September 1929
32. Jahrgang
Dar Kompromiß üker die Ardeitrlosea- verficheruag
Die zwischen der preußischen und der Reichsregierung vereinbarten Kompromißantriige für die Reform der Arbeitslosenversicherung waren Gegenstand neuer Verhandlungen, an denen außer den Reichsressorts und der preußischen Regierung die Reichsratsvertreter von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden teilnahmen. Nach dem Kompromißvorschlag soll die in dem Regierungsentwurf noch offene Lücke, die ungefähr 47 Millionen ausmacht, durch eine Kombination von verschiedenen Maßnahmen geschlossen werden: für die höher entlohnten Saisonarbeiterberufe soll dir Veitragsleistung von 3 auf 4)4 Prozent erhöht werden, für alle übrigen Versicherten, wie schon die Regierung vorschlug, von 3 auf 3)4 Prozent. Für ledige Arbeiter unter K Jahren soll die Anwartschaftszeit so festgelegt werden, daß erst nach 52 Wochen der Anspruch auf volle Unterstützung erworben wird; bei kürzerer Anwartschaftszeit sollen die Leistungen entsprechend vermindert werden. Die Wartezeit für Ledige soll, wie in dem Entwurf der Regierung, auf 14 Tage ausgedehnt werden. Alle diese Maßnahmen zusammen würden an Minderausgaben und Mehreinnahmen den Betrag von 249 Millionen RM. ergeben, es würden also immer noch rund 30 Millionen RM. zur Deckung des errechneten Zahresfehlbetrages fehlen. Diese Lücke soll durch die Einsparungen geschlossen werden, die sich aus der Abstellung von Mißbräuchen und den sonstigen Kenderungen des Gesetzes ergeben. In der Beratung mit den Vertretern der Länder wurde vereinbart, daß die Instruktionen der beteiligten Regierungen bis zum Montag eingeholt werden sollen. Jedenfalls soll die Reichsratssitzung, in der die entscheidenden Beschlüsse gefaßt werden sollen, Montag nachmittag unter allen Umständen abgehalten werden.
Das Reichskabinett spielt, so schreibt die Frankfurter Zeitung, wie in der ganzen Diskussion über die Reform der Arbeitslosenversicherung, auch bei diesen letzten Verhandlungen leider keine besonders imponierende Rolle. Nach unseren Informationen hat es in der entscheidenden Ka- diuettssitzung eigentlich überhaupt keines der vertretenen Ressorts gewagt, sich positiv oder negativ zu den Kompro- mitzvorschlägen zu äußern; erst nachdem eine Reihe von Stimmenthaltungen gezeigt hatten, daß man so nicht weiterkomme, fand man sich schließlich bereit, das Kompromiß passieren zu lassen.
Die umstrittene Beitragserhöhung
Leber das Kompromiß der Reichsregierung zur Reform der Arbeitslosenversicherung erfährt das Nachrichtenbüro des Vereins deutscher Zeitungsverleger noch ergänzend, daß in diesem Vorschläge nicht nur, wie schm: bisher beabsichtigt, die Beitragserhöhungen bis zum 31. März 1931 befristet werden, sondern ebenso auch die Leistungsminderungen der Versicherung. Mit einer glatten Annahme des Kompromißes ist kaum »u rechnen, da die Widerstände hauptsächlich gegen die Beitragserhöhungen sehr stark find. Gegen die Sonderbelastung der Saisongewerbe mit einem Sonderbeitrag von 1 Prozent des Lohnes wird besonders ins Feld geführt, daß dadurch die an sich schon schwierige Lage des Baugewerbes verschlimmert werden würde.
Besprechung der Reichsregierung mit den LSndervertretern
Berlin, 14. Sevt. Die Besprechungen öer Reichsregierung mit den Vertretern der deutschen Länder zur Vorbereitung der endgültigen Beschlußfassung des Reichsrates über die Reform der Arbeitslosenversicherung wurden Samstag vormittag in der Reichskanzlei unter Vorsitz des Staatssekretärs Pünder zu Ende geführt. Die Ausschüsse des Reichsrates und sein Plenum treten nunmehr zu ihren abschließenden Sitzungen am kommenden Montag nachmittag zusammen. Der sozialpolitische Ausstich des Reichstages wird am kommenden Donnerstag seine Beratungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung wieder aufnehmen. Das Plenum des Reichstages dürste sich mit der gleichen Angelegenheit voraussichtlich in den letzten Tagen des laufenden Monats befassen.
Einberufung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion
Berlin, 14. Sept. Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichs- «gsfraktion beschäftigte sich mit der Arbeitslosenversicherung. Angesichts der noch schwebenden Verhandlungen hat der Vorstand die Einberufung einer Sitzung der gesamten Fraktion in Aussicht genommen, sie voraussichtlich am Freitag der kommenden Woche stattfinden wird.
Um JeutWMs Kolonien
Erregte Aussprache über Mandatsfragen in Gens
Gens, 14. Sept. In der sechsten Kommission der Völkerbundsversammlung für politische Fragen fand eine grundsätzliche Aussprache über den Charakter der Mandatsgebiete des Völkerbundes statt. Der litauische Vertreter vertrat den Standpunkt, daß nach den Bestimmungen des Völkerbundspaktes die Zuerteilung der Mandatsgebiete an England, Frankreich, Japan, Belgien und Südafrika nur einen nichtständigen Charakter trage. Der Italiener lehnte schroff die Auffassung ab, als ob die großen Mandatsmächte volle Souveränität auch über die Mandatsgebiete besäßen. Diese Meinung wurde vom französischen Vertreter abgelehnt. Er betonte, daß zwar die Verwaltung der A. Man- dastgebiete (Palästina und Syrien) nicht von ständiger Dauer sei, da die Selbständigkeit und Unabhängigkeit dieser Gebiete bereits in absehbarer Zeit zu erwarten wäre. Dagegen wären die Mandatsgebiete V. und C. (Afrikanische Mandatsgebiete und das Mandatsgebiet des Stillen Ozeans) eine ständige Einrichtung.
Im Name» der Mandatskommission lehnte der Schweizer Professor Rappard ausdrücklich diese Auffassung ab. Er erklärte, daß nach dem Geiste und den Bestimmungen des Völkerbundsvertrages die Mandate nur eine vorübergehende Einrichtung seien, obwohl heute noch nicht vorauszusehen wäre, wie lange das Mandatssystem aufrecht erhalten werden müsse.
Der englische Vertreter erklärte, eine neue Verteilung oder Neuregelung der Mandatsgebiete sei nur unter völliger Zustimmung sämtlicher alliierten Mächte, einschließlich der Regierung der Vereinigten Staaten zulässig. Gegen diese Erklärung legte Staatssekretär von Schubert einen förmlichen Generalprotest ein. Es handele sich hierbei um eine außerordentlich schwierige politische und juristische Frage. Er müsse sich den Standpunkt der deutschen Regierung hierzu ausdrücklich Vorbehalten. Schubert betonte sodann, daß er völlig mit der Auffassung der italienischen Regierung übereinstimme. Die Erklärung des englischen Vertreters hat allgemein starkes Aufsehen erregt, Die Forderung der italienischen Regierung auf eine Neuverteilung der Mandatsgebiete stützt sich bekanntlich in erster Linie darauf, daß die Mandatsgebiete zwischen den alliierten und assozierten Regierungen in Versailles noch vor der Schaffung des Völkerbundes unter sich aufgeteilt wurden, ohne daß Italien dabei berücksichtigt wurde.
Vollsitzung des Völkerbunds
Genf, 14. Sept. Die Völkerbundsversammlung trat Samstag nachmittag zu ihrer 14. Vollversammlung zusanimen. Politis (Griechenland) berichtete über die Revifionsvorschläge zum Haager Statut und über das Zusatzprotokoll zur Beseitigung der bisherigen Schwierigkeiten mit Bezug auf den Beitritt der Vereinigten Staaten zum Ständigen Internationalen Gerichtshof. Wie die Staatskonferenz wird nun auch die Völkerbundsversammlung die fünf amerikanischen Vorbehalte annehmen in einer Interpretierung, die in einem Zusatzprotokoll genau umschrieben ist. Unter Hinweis auf die große moralische Bedeutung des Beitritts der Vereinigten Staaten zum Ständigen Internationalen Gerichtshof empfahl Politis die unveränderte Annahme des Zusatzprotokolls und seine sofortige Unterzeichnung noch während dieser Tagung.
Das Zusatzprotokoll für die Ermöglichung des Beitritts der Vereinigten Staat'» von Amerika zum Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag und das Revisionsprotokoll für die Abänderung des Haager Statuts von der Völkerbundsversammlung wurden dann einstimmig angenommen. Das Ergebnis wurde von den Delegierten mit lebhaftem Beifall ausgenommen. Die Entscheidung über den Beitritt der Vereinigten Staaten zum Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag liegt nmr- mehr beim amerikanischen Senat. Die Protokolle find am Schluß der Sitzung der Völkerbundsversammlung sofort von folgenden acht Staaten unterzeichnet worden: Dänemark, Frankreich, Griechenland, Holland, Italien, Schweden, Schweiz, Peru.
Dänemark, Norwegen und Polen haben am Schluß der Vollsitzung einen Entschließungsantrag eingebracht, der die im yo- ungplan vorgesehene Internationale Bank und die Herstellung einer Beziehung zwischen ihr und dem Völkerbund betrifft.
Weitere Ermittlungen
Die Ermittlungen bei den Svreusstoffauschläsen Mtona, 14. Sept. Polizeipräsident Eggerstedt gab in einer Pressebesvrechung eine Darstellung des gegenwärtigen Stande» der Ermittlungen in der Angelegenheit der Sprengsbrsfan- schläge. Einleitend bemerkte er, daß die Untersuchung in zwei Teile zerfällt: Eine gegen die Nationalsozialisten, die andere gegen die Landvolkbewegung. Beide Aktionen lausen vollkommen voneinakder getrennt. Die Aktion gegen die Landvolkbewegung batte ihren Ausgangspunkt in Altona, während es sich bei dem Vorgeben gegen die Nationalsozialisten um eine Unternehmung bandelt, die von Berlin aus gebt. Die Nationalsozialisten hatten sich in Berlin zu Besprechungen zusammengefunden, waren dort beobachtet, bis Altona verfolgt und dann verhaftet worden. Die Untersuchung gegen
die verhafteten Nationalsozialisten wird von Berlin weiter verfolgt. Was die Landvolkbewegung anlangt, so ließen sich zunächst umfangreiche Verhaftungen nicht vermeiden. Es wurden auch Verhaftungen vorgenommen, die vielleicht nicht aufrecht erhalten werden können. Der Ring um die Verdächtigen ist völlig geschlossen. Die Nachforschungen nach dem Herstellungsart der Bomben stoßen aus außerordentliche Schwierigkeiten. Wenn jetzt die Landvolkbewegung von Nickels abrückt, so ist dem ent. gegenzustellen, daß der Polizei eine Liste von 14 Presseausweisen vorliegt, die von der Zeitung „Das Landvolk" ausgegeben worden sind und unter denen sich auch der Ausweis für Nickel» befand. Es ist nunmehr das zweite Attentat eingestaudeu worden und zwar handelt cs sich dabei um den Anschlagsversuch in Schleswig, der jetzt ebenfalls in den Einzelheiten aufgeklärt ist. Der Name des Geständigen muß im Interesse der Untersuchung vorläufig ungenannt bleiben.
Aus den bisherigen Geständnissen kann gefolgert werden, dich die Landvolkführer die Auftraggeber für die Ausführung der Anschläge gewesen sind. Sie haben nicht nur die Gebäude ausgesucht, gegen die Anschläge gerichtet werden sollte«, sondern haben auch die Leute bestimmt, die die Attentate ausführe» sollten. Das geht aus den Aussagen der Geständigen hervor. Es handelt sich also um ein bewußtes und planmäßiges Vorgehen der Landvolkführer. Das unsinnige Vorgehen ist nur so verständlich, daß immer wieder Unruhe in die Bevölkerung getragen werden sollte und zwar einmal, weil nur damit die Bewegung in Gang gehalten werden konnte, und zweitens, um der Landvolkzeitung eine weitere Verbreitung zu sichern, ferner aber auch, um den Einfluß der Landvolkführer zu steigern und schließlich eine planmäßige Bewaffnung der Bewegung vor- zubereiten. Polizeipräsident Eggerstedt erklärte schließlich noch, daß wahrscheinlich am Montag der größte Teil der Verhaftete» der Staatsanwaltschaft zugefühlt würden. Die weitere Untersuchung werde dann wahrscheinlich nach Berlin übernomme« werden.
Weitere Verhaftungen zu den Bombenanschläge« Hamburg, 14. Sept. Auf das Geständnis des verhaftete» Weschke wurden in der Angelegenheit des Beidenflether Bombenanschlags außer den Hofbesitzern Schade und Matthes weite» die Hofgutbefitzer Kaspar aus Westermark und Lorenz aus Itzehoe verhaftet. Ferner wurde ein Besitzer Detlev Hein Henning» aus Osterfeld bei St. Annen festgenommen, der bei dem Schles» wiger Bombenanschlag beteiligt gewesen sein soll.
Lin zweites Geständnis
Ein im Altonaer Polizeipräsidium festgesetzter Angehöriger der Landoolkbewegung hat vor dem ihn vernehmenden Beamten ein umfassendes Geständnis abgelegt. Er heißt, nach Bläk» termeldungen, Johnson. Johnson hat zugegeben, daß er an de« Bobenattentat, das in der Nacht zum 2g. August aus das Wohm Haus des Regierungspräsidenten Erimpe in Schleswig verübt wurde, aktiv beteiligt gewesen ist.
Bei dem Verhafteten, der den Anschlag auf das Jtzehoer Laud- ratsamt verübte, handelt es sich ebenfalls um den oben erwähnten Johnson.
Die Ermittlungen über die Bombenattentate Altona, 15. Sept. Die Ermittlungen über die Bombenattentatr find zu einem gewissen Abschluß gelangt. Die Feststellungen ho- ben ergeben, daß die verschiedenen Bombenattentate, von de«« die meisten schon jetzt restlos aufgeklärt werden konnten, «ff rechtsradikale aktivistische Kreise zurückzufuhren sind. Als Mittelpunkt derselben ist die Reichshauptstadt anzusehen.
Zm englischen Mmnng
Der englische Kriegsminister an das Oberkommando im Rheinland
London, 14. Sept. Der Staatssekretär für das Kriegswesen, Shaw, hat an den Oberkommandierendeu der britischen Rheinarmee ein Schreiben gerichtet, in dem er den Armeeangehörigen aller Dienstgrade seinen tiefsten Dank für die Art zum Ausdruck bringt, in der sie sämtlich Englands Ruf der Ehrlichkeit, der Höflichkeit und des Fair Play während der ganzen Zeit aus- rechterhalten hätten, wo das Rheinland von britischen Truppen besetzt war. Weiterhin bringt der Brief tiefe Genugtuung darüber zum Ausdruck, daß es den englischen Truppen vergönnt sei, vom Rhein zurückzukehren, begleitet von der Achtung de» Volkes, in dessen Mitte sie so lange einquartiert gewesen seien.
„Daily News" schreibt zu der beginnenden Räumung: Unser« Besatzung läßt keine Bitterkeit zurück, denn unsere Männer find nie wie Eroberer einhergegangen. Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Volk als Ganzes froh sein wird, die Truppen ab- ziehen zu sehen, denn sie mußten die sichtbaren Symbole der Niederlage für eine stolze, gedemütigte Nation sein.
,T>aily Expreß" schreibt: Das Rheinland sieht den heutigen Tag als das wirkliche Ende der Kriegsperiode mit England an und als den Beginn seiner nationalen Freiheit. Eine schwere Enttäuschung herrscht in Wiesbaden wegen des Verbleibs oer Rheinlandkommission. Dies bedeutet wieder die Anwesenheit französischer Truppen in der Stadt und die Aufrechterhaltuug d« fremden Besetzung.