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Amtsblatt für den Gberamtsbezirk Nagold und Altenstrig-Stadt. Allgemeiner Anzeiger für die Bezirke Nagold, (Lalw u jreudenstadt

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Nr. 170

Attentteig, Aamstag -en 24. Juli

1926

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Pioneares Rückkehr l

Es liegt eine fast tragisch anmutende Ironie in der Tat­sache, daß derselbe Mann, der durch seine verhängnisvolle Außenpolitik am meisten zu dem Verfall der französischen Währung beigetragen hat, nunmehr zu ihrer Rettung wie­der in das Amt zurückgeholt wird. Es gab ja kluge Leute, die schon am letzten Samstag nach dem Sturz des Kabinetts Vriand weissagten, daß Poincare der kommende Mann in Frankreich sei. Der Verlauf der Krise hat ihnen Recht ge­geben. Allerdings haben sich alle diese Propheten in erster Linie bei Herriot zu bedanken, dessen rascher Sturz nur die Konsequenz seiner unüberlegten politischen Handlungsweise war.

Als Herriot am Samstag durch seinen überraschenden Vorstoß gegen Eaillaux und Vriand diesem Kabinett den Todesstoß versetzte, da wußten nur einige wenige Freunde vorher von seiner Absicht. Sie wußten aber ebensowenig, wie das gesamte übrige Parlament, welche weiteren poli­tischen Konsequenzen Herriot aus seiner Handlungsweise zu ziehen gedenke. Und das Schlimmste war, Herriot wußte es selber nicht. Es kam zu den unglücklichen Versuchen des Sonntags, ein Ministerium auf breiter Basis zustande zu bringen. Der Versuch scheiterte und der französische Kam­merpräsident, der noch vor wenig mehr als zwei Jahren der anerkannte politische Liebling des französischen Volkes war, mußte unter dem immer stärker werdenden Murren des Pariser Mob sein Kabinett auf einer Grundlage bilden, die längst brüchig geworden war. Das Kartell der Linken, dem Herriot neues Leben einhauchen wollte, war nicht wieder >u beleben, wenigstens nicht unter diesen Voraussetzungen Der Führer der Radikal-Sozialisten hatte etwas sehr We­sentliches übersehen: Als es vor zwei Jahren galt, die un­heilvolle Außenpolitik Poincares zu liquidieren, da fand sich eine breite Einheitsfront, die von der Linke- bis weit in die Mitte hinüber reichte. Denn damals i en auch die wirtschaftlichen Kreise längst davon überz^ :, daß eine Fortsetzung der Kriegspolitik Poincares der Vernichtung der französischen Wirtschaft gleichkomme. Heute aber lautete die Problemstellung ganz anders. Die Schwierigkeiten, die Her­riot zu überwinden hatte, waren und sind rein innerpoli­tischer, im wesentlichen wirtschaftlicher und finanztechnischer Natur. Und es war eine geradezu groteske Verkennung der Tatsachen, daß Herriot glauben konnte, ihnen auf der Basis des Linkskartells beikommen zu können. Bis tief in die Kreise seiner eigenen Partei hat man es nicht verstanden, daß Herriot unter das kaudinische Joch der Sozialdemokra­tie ging, die in dem Mittelpunkt der gesamten Stabilisie­rungsaktion die Kapitalsabgabe gestellt wissen wollten, und diese zur unerläßlichen Voraussetzung ihrer Teilnahme am Kabinett machten. Bei sorgfältiger Beobachtung der Ent­wicklung, die die deutsche Inflation und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung genommen haben, hätte Herriot sich sagen müssen, daß dieser Versuch von vornherein zum Schei­tern verurteilt war, den die Börse dann auch sofort mit einer scharfen Senkung der Francvaluta quittiert hat. Mehr aber noch: Herriot mußte aus dem Verlauf der deutschen Inflation und ihrem Abbau wissen, daß die erforderlichen Maßnahmen nur auf dem Wege diktatorischer Vollmachten M Durchführung gelangen könnten. Er hat diese Notwen- Weit ja auch eingesehen, freilich erst, als er selbst unter Zwang stand, die geeigneten Maßnahmen zur Durch­führung der Währungsstabilisierüng treffen zu müssen. Da war es aber zu spät, denn die Kammer verweigerte logi- Wrweise ihm nun auch, was er Eaillaux versagt hatte. Daß freilich ausgerechnet der Mann, den Herriot am schärfsten bekämpft hat, nunmehr sein Nachfolger wird, ist ein Trep­penwitz der politischen Geschichte Frankreichs.

Für Deutschland ist Poincare nach wie vor der Mann des Nuhreinbruchs, der Mann, dem Deutschland seine schwersten vtilnden zu verdanken hat. Diese Erinnerung wird so rasch ^ht schwinden, auch wenn Poincare in seinem neuen Ka- °>nett das Außenministerium nicht wieder übernimm:. Die Linien der deutschen Außenpolitik sind 1924 in Lon­don und 1925 in Locarno festgelegt worden. Dabei hat sich '» etwas Aehnliches wie ein neues europäisches Gleichgewicht gebildet, an dem auch Poincare zunächst kaum etwas ändern man. Wenn sich aber herausstellt, daß Poincare wieder der große Friedensstörer Europas ist, dann wird Frankreich das w ehesten zu spüren bekommen und dann werden auch die »ge Poincares wieder sehr bald gezählt sein.

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Das Kabinett Poincare Vriand Außenminister, Herriot Unterrichtsminister Eine Erklärung Poincares

Paris, 23. Juli. Poincare hat um 1.30 Uhr dem Präsi­denten der Republik im Elysee eine Ministerliste vorgelegt. Die Liste hat folgendes Aussehen:

Ministerpräsident und Finanzen: Poincare, Justiz und Vizepräsident: Barthou, Außenminister: Briand, Inneres: Albert Sarraut, Krieg: Painleve, Öf­fentlicher Unterricht: Herriot, Marine: Leygues, Handel: Bokanowski, Ackerbau: Queuilles, Kolo­nien: Leon Perrier, Eisenbahnen: Tardieu, Pen­sionen : Marin.

Beim Verlassen des Elysees erklärte Poincare den Jour­nalisten: Wir wollten ein Kabinett der breiten nationalen Einigung, in dem alle Parteien vertreten sind. Wir haben versucht, unsere Aufgabe mit der größtmöglichen Großzügig­keit anzufassen. Ich mutz sagen, daß es mir nicht schwer gefallen ist, weil ich mich bemüht habe, mein Ministerium zu bilden, ohne die besonderen Wünsche weder der einen noch der anderen zu berücksichtigen. Wenn wir uns bei allen An­regungen aufgehalten hätten, die man uns gegeben hat, so hätten sich die Arbeiten zur Bildung der Regierung ewig lang hingezogen. Es war aber nötig, schnellstens zu ar­beiten. Ich empfange meine Mitarbeiter um 3 Uhr und werde sie um 7 Uhr dem Präsidenten der Republik vor­stellen. Die Regierung wird am Dienstag vor die Kammer treten.

Die französische Linkspresse gegen Poincare

Paris, 23. Juli. Obwohl die Presse im allgemeinen, vor allem aber derMatin" die Auffassung vertritt, daß die Radikal-Sozialisten nicht die Verantwortung übernehmen werden, die Kombination Poincare scheitern zu lassen, wen­det sich die Linkspresse mit mehr oder minder großer Hef­tigkeit gegen die Regierung Poincare. DerQuotidien" weist darauf hin, Poincare werde zwar auf keine Wider­stände in der Kammer stoßen, wenn er den Sachverstän­digenbericht zum großen Teil ablehne, ebenso wenn er über den Vertrag von Washington anderer Ansicht sei wie der Sachverständigenbericht, aber er werde auf Schwierigkeiten stoßen, wenn er seine eigenen Pläne zu vertreten habe.

Englische Stimmen zu einem Kabinett Poincare

London, 23. Juli. Die Rückkehr Poincares ruft in der englischen Presse keine sonderliche Begeisterung hervor. Es sei ein Name, so erklärtDaily News" an leitender Stelle, der im Ausland nicht viel Vertrauen genieße. Er sei der hervorragende Vertreter des Gedankens, Deutschland alles bezahlen zu lassen. Er verfolge eine Politik, die nichr nur Großbritannien und Amerika gegenüber unfair sei, sondern in finanzieller Hinsicht auch verheerende Folgen für Frank­reich selbst haben werde. Deutschland zum Alleszahler ma­chen zu wollen, ist auch derWestminster Gazette" ein Stein des Anstoßes. Der Dawesplan habe Poincare gelehri, daß seine Erwartungen eine Illusion gewesen seien. Selbst der Dawesplan müsse wahrscheinlich noch ermäßigt werden.

Sie AeilMU CHSerlM Mr die deutsche Abrüstung

Die kurze Antwort des englischen Ministers des Auswär­tigen Amtes im Unterhaus hat wie der bekannte Steinwurs in einen stillen See gewirkt und zwar in Deutschland wi< wie in England. Nun will, wie es meist so geht, wenn ein« Aeußerung eine unangenehmereWirkung hat, als beabsichtigt war, der englische Minister es nicht so schlimm gemeint haben. Dabei wird die Schuld auch auf die deutsche Presse geschoben; gemeint sind dabei wohl Auslastungen der sozial­demokratischen wie der rechtsstehenden Parteien. Ein Ver­treter der Telegraphen-Union in London hat sich dortan maßgebender Stelle" erkundigt und darauf folgende Ant­wort erhalten:

London, 22. Juli. Die Antwort Ehamberlains im Unter­haus sei nicht so gemeint gewesen wie sie vielleicht geklungen habe. Die Form der Antwort erkläre sich aus der über­lasteten gestrigen Tagesordnung. Es sei richtig, so wird an amtlicher Stelle versichert, daß Deutschland noch eine Reihe von, wenn auch nicht mehr sehr wesentlichen Entwaffnungs­forderungen zu erfüllen habe. Es handelt sich in der Haupt­sache um folgende 4 Punkte: 1. Bestimmung des Begriffs «Kriegsmaterial": 2. Die Stellung des Generals von Seeckt'

I 3. Die Stärke der Reichswehr; 4. Die Stärke der einhei- ! mischen Reservearmee.

- Zu Punkt 1 wird an maßgebender englisch-r Stelle be- j merkt: Nach dem Versailler Vertrag ist die Ein- und Aus­fuhr von Kriegsmaterial für Deutschland verboten, woraus

! sich die Frage ergebe, was als Kriegsmaterial zu bezeichnen i sei. Ueber den Begriff Kriegsmaterial beständen noch immer « Unstimmigkeiten zwischen der interalliierten Kontrollkom- ! Mission und der Berliner Regierung. Zu Punkt 2 wird be- i merkt, daß an amtlicher Londoner Stelle hierüber bis heute ! keine bestimmten Nachrichten vorliegen. Was Punkt 3 an- ! betriftf, so werden von amtlicher Seite gewisse Forderungen r hinsichtlich der Stärke der Reichswehr erhoben. Ueber die ! angebliche deutsche Reservearmee (Punkt 4) ist man in amt- f lichen englischen Kreisen der Ansicht, daß es sich bei den ^ fogenm.nten vaterländischen Verbänden um eine Art von l Reservearmee handle die ihren Kampfwert nach der eng­lischen Territorialarmee gleichzüstellen sei. Auf die Frage, ob die erneute Aufrollung der Abrüstungsfrage keinen schäd- ! lichen Einfluß auf die dem Eintritt Deutschlands in Len- i Völkerbund noch vorausgehenden Verhandlungen ausüben : werde, wurde erklärt, daß es einem Teil der deutschen Presse s zuzuschreiben sei, daß die ganze Angelegenheit ausgegraben r worden sei. Ohne diese Veröffentlichungen wäre das ganze s Problem stillschweigend und ohne unnötige Belastung der ^ deutschen Oeffentlichkeit gelöst worden.

-Arbeitsgemeinschaft, oder bürgerliche Regierung?

Eine Absäg ean dieB iirg e rp art e i". l Das Organ der Deutschen Volkspartei in WürttembergDie i Schwabenwarte" nimmt zu der Aufforderung des Vorstandes des ! Kreises Stuttgart der Deutschnationalen Volkspartei zur Bil­dung einerArbeitsgemeinschaft" Stellung. Sie schreibt u. a.:

In einem Teil der rechtsstehenden Presse wird die Diskussion über die Arbeitsgemeinschaft zwischen der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei fortgeführt. Dabei wird betont, daß die Deutschnationale Partei in dieser Frage sehr einmütig wäre und demnächst mit sehr ernsten Fragen an die Deutsche Volks- vartei herantreten würde. Inzwischen ist auch in Württemberg der Vorstand des Kreises Stuttgart der Deutschnationalen Volks- t Partei wohl unter der Regie des vielgeschäftigen Herrn Dr. l h. c. Wider hinzugekommen und hat in einer der Presse iiber- i gebenen Erklärung die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der k Rechten im Reich und in den Ländern als unumgänglich notwen- ! dig bezeichnet.

! In den Kreisen der Deutschen Volkspartei steht man der An- k regung kühl und skeptisch gegenüber. Die offiziöseNationale ! Korrespondenz" bat davon gesprochen, daß noch ein sehr weiter ! Weg bis zur Durchführung dieser Idee zurückgelegt werden s müsse, und daß es erst darauf ankomme, sich einig zu sein über k das, was man wolle, wobei die Korrespondenz an die Haltung k der Deutschnationalen in der Frage der Außenpolitik und der ! Fürstenabfindung erinnert. DieHamburger Stimmen", das ? Organ des gewöhnlich als rechtsstehend bezeichneten Landesver- ! Landes Hamburg der Deutschen Volkspartei, lehnt den Eedan- s ken ziemlich unverblümt ab, und der ebenfalls rechtsstehende Her- c ausgeber desHannoverschen Kurier", Herr Dr. Jänecke, betonte, k daß mit einer Blockbildung der Deutschnationalen und der i Deutschen Volkspartei der Entwicklung nicht gedient sei, sondern daß es darauf ankomme, alle bürgerlichen Gruppen zusammenzu­fassen. Herr Dr. Gildemeister untersucht in derKölnischen Zei­tung" die Frage ebenfalls in skeptischem Sinne und betont auf wirtschaftlichem Gebiete die vollkommen agrarische Einstellung ß der Deutschnationalen, tritt im übrigen ebenso wie Dr. Jä­necke imHannoverschen Kurier" dafür ein, daß es Fragen mo­narchischer Agitation nicht mehr geben dürfe, sondern ein rück­haltloses Bekenntnis zur Republik notwendig sei. Auf der einen Seite also ein sehr starkes Betonen der Bereitschaft, auf der r andern Seite eine sehr starke Skevsis und Zurückhaltung! t Diese Haltung der beiden Parteien ist verständlich. Wenn man s die Dinge varteitaktisch ansiebt, liegt aller Vorteil auf seiten k der Deutschnationalen, aller Nachteil auf seiten der Deutschen k Volkspartei. Die Deutschnationale Partei kämpft gegenwärtig ! einen sehr schweren Kampf um die Gunst bei den Millionen s Wählern, die zu ihr gehörten. In ihren eigenen Kreisen wird ? sowohl ihre Haltung in den auswärtigen Fragen, wie beim ! Fllrstenkomvromiß, wie überhaupt die Jsolierungspolitik, die sie l getrieben hat, heftig kritisiert. Namentlich in wirtschaftlichen s Kreisen ist man entrüstet darüber, daß der Einfluß der Partei

- durch ihre Oppositionsstellung so wenig zur Geltung kommt und ^ geht vielfach zur Deutschen Volkspartei über. Ebenso verständlich ' ist es auch, daß die Deutsche Volkspartei, die infolge der dema- i gogischen Agitation der Deutschnationalen bei früheren Wahlen : beinahe ein Drittel ihrer Anhänger verloren hat, es nun nicht > gerade als ihre parteitaktische Aufgabe betrachtet, die Deutsch­nationalen aus dem Sumpf herauszuholen, in den sie sich selber

^ binemgeritten haben.