Nr. 280 . (Zweiter Blatt.)
Sanrrtag, den 2Y. November (-(3
Zum MjShrigeu Geburtstag des Dichters Hermann Kurz.
Auf der Mühle.
Ich sitz' auf der Mühle,
Da wird es mir wohl Es schlittern die Gänge Tief unten so hohl.
Das bebt durch die Seele Mit Schauer und Lust,
Und weckt mir zu Tönen,
Zu Liedern die Brust.
Die Wasser, sie rauschen:
Grütz Gott und komm mit!
Das liebliche Tälchen,
Es läßt mich ja nicht.
Möcht' allzeit hier sitzen,
Die Felsen und Au'n,
Die waldgrünen Berge,
Die ernsten, zu schau'n.
Margretchen, mein Engel,
Kredenzt mir den Wein.
Ein Jährchen und drüber,
So könnt' ich sie frei'n.
Ach, lieben und sorgen!
Es wird nichts daraus.
Ich habe ja nicht Heimat,
Nicht Hof und nicht Haus.
! Und wie ohne Weilen,
Die Welle hinschwebt,
Wie schüttelt die Mühle Und unter mir bebt:
So mutz ich durchs Leben Mit flüchtigem Erutz,
So zittert der Boden Mir unter dem Futz.
Hermann Kurz.
Der 30. November naht heran. Wie aus vielen Anzeichen zu ersehen, läßt ihn das schwäbische, das deutsche Volk nicht unbeachtet vorübergehn und das in einem Jahr, das an Gedenktagen reich und überreich ist. Wenn also das Bedürfnis vorhanden ist, einen Mann zu feiern, der mit jenem großen Befreiungsjahr nichts weiter gemein hat, als seinen Geburtstag, so muß das seine besonder« Gründe haben. Sie liegen in der innern Verwandtschaft des Bluts und der geistigen Natur. Aus tausend unerforschten Quellen äußerer und innerer Erlebnisse bildet sich im Laufe von Jahrtausenden jenes unfaßbare geistige Fluidum, das ein untrügliches Merkmal eines Volkes darstellt. Die in der historischen Zeit eintretenden Veränderungen sind gegenüber der Jahrtausende dauernden Entwicklung verhältnismäßig geringe, wie wir ja z. B. in den Germanen des Tacitus noch recht gut uns selber erkennen. Jeder Einzelne im Volke trägt so einen Teil einer großen gemeinschaftlichen Erbschaft in sich und sie bildet das Band, das ihn mit seinem Volk als Gleichen unter Gleichen verknüpft. Aus der großen Masse aber erheben sich einzelne Wenige, in denen diese Kräfte sich vereint, vertieft und tausendmal vervielfältigt finden. In ihnen schaut sich die große Menge zurückgestrahlt wie in einem Spiegel. Das ist das Geheimnis der Heroenverehrung und ein Heros seines Volkes nicht bloß nach dem Riesenmaß seiner Kräfte, nicht bloß im Spenden und Beglücken, nein, auch im Kämpfen und Dulden war der seltene Mann, den sein Volk jetzt erst recht zu verstehen und zu lieben beginnt.
Schon seine äußere Gestalt, das majestätische Haupt hatte ein durchaus germanisches Gepräge, so mochten unsre Ahnen sich die Herrscher von Asgard vorgestellt haben. Ein starkes, durch den Ausdruck unendlicher Menschenliebe gemildertes Feuer strahlte aus den wundervollen tiefblauen Augen. Jede seiner Bewegungen verriet den feinen, klaren, ruhigen Geist; keine Hast, keine Kleinlichkeit, nichts Pedantisches, wie es oft den Männern der Wissenschaft oder vielbeschäftigten Beamten anhaftet, war an ihm. Der Sturm und Drang der Jugendzeit hatte sich in den Mannesjahren zu stetiger Kraft und Ausdauer den Kämpfen des Lebens gegenüber gemildert. Wer im menschlichen Antlitz zu lesen versteht, der konnte aus diesen offenen Zügen die ganze Seele des Dichters erkennen, seine Hoheit und Reinheit, die ihn, wie unfern, wie seinen Schiller weit emporhob über allen Erdenstaub. Mit dieser Eigenschaft berührte sich sein Drang nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Nie
ließ er sich von irgend welcher Rücksicht, weder im Leben, noch in der Poesie verleiten, die Wahrheit zu verletzen. Wie wahr, wie gerecht hat er in Schillers Heimatjahren den schwierigen Charakter Herzog Karls geschildert, wie hat er die trotz aller despotischen Neigungen und Versündigungen des hohen Herrn die überall zutage tretenden edlern Züge in das rechte Licht gesetzt, ohne in dem Leser auch nur den Gedanken aufkommcn zu lassen, daß er aus Vorliebe für seinen Helden irgend etwas beschönige! Freilich änderte er auch an dem Charakterbilde keinen Zug, als ihm der Verleger in überhöfischem Eifer wegen der über den Herzog ausgesprochenen Wahrheiten den Roman heimschlug. Wenn er sich hier des Großen angenommen hatte, so verrät uns sein Eintreten für den Sonnenwirt neben jenen Eigenschaften seine tiefe, warme, alles verstehende Menschenliebe. Es war keine leichte Aufgabe, den Geächteten und Verfehmten seines Volkes aus den mangelhaft und parteiisch geführten Wen und den unsicheren Schilderungen seiner Zeitgenossen so zu schildern, daß er uns nicht mehr als Ausgeburt der Hölle, sondern als ein mit den hervorragenden Zügen unsres Stammes ausgestat- tetcr Volksgenosse und Blutsverwandter erscheint, der gerade durch die Entfaltung der edelsten Seite seiner rauhen Natur, der Treue zu dem geliebten Mädchen im Kampf mit seiner Umgebung auf die Verbrecherlausbahn gedrängt wird. Es ist ein Meisterzug des Dichters, daß er diese echtdeutsche Tugend, die unsere Volksepen ihren sittlichen Untergmnd gibt, zur Klippe macht, an der das Schifflein des Unglücklichen scheitert und hier ist der Punkt, wo der Dichter sich selbst an die Stelle seines Helden setzte. Denn Treue war einer der schönsten Grundzüge seiner eigenen Natur; mit welchen innig empfundenen Worten hat er sie in seiner freien Tristansüberarbeitung gepriesen! Und so hat er sie auch im Leben empfunden und gehalten. Im stillen Heiligtum seines Herzens wohnen die Freunde seiner Jugend, sein Rudolf Kaus- l e r, sein Mörike, mit dem ihn 1848 die Politik Überwürfen und die Poesie kurz vor seinem Tode wieder zusammengeführt hat, dann der Treuste der Treuen der prinzipienstarrre und dabei so weichherzige Pfarrer Hopf, der sich in den größten Nöten des Lebens, in der schweren Zeit beginnender Nervenüberreizung als stets bereiter Helfer und Beruhiger bewährt hat und der letzte von ihnen, P au l H e y s e, der durch seine rückhaltlose und freudige Anerkennung der Dichtergröße seines Freundes ihm, freilich zu spät, das wiedergab, was der Dichter in Mörike verloren hatte. Fügen wir nun noch zu diesen sittlichen Eigenschaften den ganzen Umfang seiner geistigen Begabung, die sich wie bei Schiller in die poetische Gestaltungskraft und die Gabe wissenschaftlicher Forschung teilt, so haben wir in allgemeinen Zügen die ganze Persönlichkeit des Dichters Umrissen. Auf dem poetischen Gebiet war er fast in allen Sätteln gerecht und wenn er vom Drama, dem er sich zunächst zuwenden wollte, nicht durch die äußern Verhältnisse abgelenkt worden wäre, so hätte er wohl nach seiner Veranlagung das Zeug gehabt, auch auf dramatischem Gebiete Großes zu leisten. Wenigstens läßt die meisterhaft geübteKunst der dramatischen Spannung, die feine Seelenmalerei und die gewandte und lebendige Behandlung des Dialogs in den erzählenden Werken diese Annahme begründet erscheinen.
Seine ersten poetischen Versuche galten zunächst der Lyrik. Als 23jähriger Jüngling veröffentlichte er eine Sammlung Gedichte, unter denen viele sangbare gleich bei ihrem Erscheinen große Verbreitung gefunden, unter ihnen ist keines so populär geworden wie das Thomas Moor nachgedichtete: „Stumm schläft der Sänger". Die in vielen Jugendgedichten bemerkbaren Ueberfracht von großen und glänzenden Gedanken erschwert auf den ersten Blick den Genuß, der aber beim genauer« Durchdenken des Gelesenen desto intensiver wird. In reiferen Mannesjahren hat uns H. K. noch herrliche Proben seiner lyrischen Begabung geschenkt, ich nenne als reifstes und vollendetstes den „Fremdling", der als poetische Darstellung seines Dichterloses zugleich sein Schwanengesang geworden ist. Aber so hoch wir auch seine Gedichte stellen, den Gipfelpunkt seines Schaffens erklomm er in seinen epischen Werken. Es ist hier nicht der Platz, alle seine Schöpfungen auch nur aufzuführen, geschweige im Einzelnen zu würdigen. Außer den beiden großen Romanen, die allein für sich den Namen Hermann Kurz der Vergessenheit entreißen würden, erwähnen wir den „Weihnachtsfund", dessen Geschichte und Entstehung nach Liebenzellhinweist, ferner die „Denk- und Glaubwürdigkeiten" und die meist in Reutlingen spielenden Geschichten, wie „Eine reichsstädtische Glocken
gießerfamilie", „Wie der Großvater die Großmutter nahm", „Das Witwenstübchen", „Ein Herzensstreich", „Bergmärchen", „Das Arkanum", „Die blasse Apollonia", ferner das während seiner Studentenzeit geschriebene Wirtshaus gegenüber, das köstliche „Den Galgen! sagt der Eichele" und die von Humor und Witz sprühenden „beiden Tubus", in denen der Geist Altwirtenbergs und der schwäbische Pfarrertypus wie in eine Lauberflasche gebannt ist. Man weiß beim Lesen nicht, was man mehr bewundern soll: die Wahrheit des Lokalkolorits, die Kunst, alles ins Bedeutende u. Ungemeine zu erheben, die klare, schöne, wie Musik klingende Sprache oder die kunstvolle Anordnung des Stoffs, die den Eindruck vollständiger Leichtigkeit und Unabsichtlichkeit hervorruft. Wer die Werke kennt, dem ist hiemit nichts Neues gesagt, wem sie noch unbekannt sind, der möge sich diese reinste Quelle geistigen Genusses nicht länger versagen!
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens widmete der Dichter wissenschaftlichen Studien, die ihn von Jugend an zwischen die poetische Produktion hinein beschäftigt hatten. Mehr dem Bedürfnis des Broterwerbs haben die zahlreichen Uebersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Spanischen und Italienischen gegolten, die jedoch mit derselben künstlerischen Gewissenhaftigkeit ausgeführt wurden, wie seine eigenen Dichtungen. Mit ganz besonderer Liebe und Begeisterung aber übertrug er seinen ihm so geistesverwandten Gottfried von Straßburg, über dessen Person er auch in seinen letzten Lebensjahren eine hochinteressante Arbeit veröffentlichte.
Des Dichters äußerer Lebensgang verlief ziemlich einförmig. In der ehemaligen Reichsstadt Reutlingen entsproß er einem altehrwürdigen Patriziergeschlecht, und wuchs in der damals noch lebendigen Tradition der alten glänzenden Vergangenheit auf, die ihm später den Stoff zu seinen Familiengeschichten gegeben hat. Da er als Kind gern vom Stuhl herunter Ton und Geberden des Predigers nachahmte, glaubten ihn die Seinen zum Pfarrer berufen und so kam er nach glücklich bestandenem Landexamen, das damals in drei aufeinanderfolgenden Jahren abgelegt werden muhte, nach Maulbronn, wo er eine gründliche Vorbildung erhielt und sich selbst seiner Bestimmung zum Dichter bewußt wurde. Schon hier, aber noch mehr in Tübingen befriedigte ihn die Beschäftigung mit den theologischen Fächern nicht, obgleich er sie, wie alles, was er anfaßte, mit Ernst und Gewissenhaftigkeit trieb. Sein Hauptstudium aber galt der Vorbereitung auf seinen Dichterberuf, für den die Vorlesungen Uhlands und sein persönlicher Verkehr mit ihm äußerst gewinnbringend waren. Nach abgelegter Schlußprüsung (1835) und kurzer Vikariatszeit faßte er den kühnen Entschluß, die Theologie und den geistlichen Beruf an den Nagel zu hängen und in Stuttgart als freier Schriftsteller zu leben. Nachdem er dies unter den größten Schwierigkeiten acht Jahre lang ausgehalten, nahm er in Karlsruhe für einige Jahre eine Stelle am Redaktionstisch eines Familienblatts an, aber die Aufgabe, am „Sonnenwirt" zu arbeiten, lockte ihn in die Heimat, wo er dann bald der demokratischen Partei das große Opfer brachte, der Muse zeitweise zu entsagen und sich in denDienstderParteipolitikzu begeben. Nachdem er mehrere Jahre lang unter schweren Kämpfen den Posten eines Redakteurs des Beobachters bekleidet und nach seinem Grundsatz, daß für das Volk das Beste nur eben gut genug sei, das Blatt durch seine die interessantesten Wissensgebiete behandelnden Arbeiten auf die höchste Stufe eines Volksblatts gehoben hatte, trat er von seiner Stelle zurück um den „Sonnenwirt" zu vollenden. Aber auch bei diesem reifsten und größten seiner Werke blieb der finanzielle Erfolg aus, und der Dichter verfiel überdies in ein schweres Nervenleiden. Als ihm im Jahre 1863 die Stelle eines zweiten Bibliothekers an der Universität Tübingen zufiel, fand der Fünfzigjährige endlich die Sicherung seiner materiellen Existenz, aber seine Schöpferkraft hatte sich im vergeblichen Kampf gegen die Teil- nahmlosigkeit der Welt zerrieben. Er widmete seine freien Stunden fortan der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen. Für seine Studien über den Verfasser des Romans Simplicissimus verlieh ihm die Universität Rostock das Ehrendiplom der Doktorwürde. In seinem Familienleben fand der Vielgeprüfte bei seinem starken, treuen und ihm durchaus ebenbürtigem Weibe und seinen mit den glücklichsten Gaben ausgestatteten Kindern Ersah für manche Verheißung, die ihm das Leben nicht erfüllt hatte.
Am 10. Oktober 1873 starb er ohne ausgesprochene Krankheit plötzlich am Herzschlag.