Samstag,
Stuttgarter Brief.
G Stuttgart, Ende September. Was der Sommer an Wünschen und Hoffnungen unerfüllt gelassen, scheint der Spätsommer und Frühherbst bescheren zu Wollen: golden zittern die Sonnenkringeln über die Häuser und Gärten der Stadt, in buntem Glanz leuchten die Höhen, die stolz mit Wald bekrönt auf Schwabens Residenz schauen, und freundlich empfängt die schöne fleißige Stadt ihre Kinder, die in die Ferne geeilt und meist frierend und durchnäßt zu den heimischen Penaten zurückgeflüchtet waren. Und nun heben alle Genüsse, mit denen die Großstadt der Wunderwelt der Berge und des Meeres Schach zu bieten vermag, von neuem an: die heimeligen Salons schöner geistreicher Frauen öffnen sich zu traulichen Plauderstunden, die Stätten bildender Kunst bieten neugeordnet und geschmückt ihre Schätze dar und die Tempel der Musen spannen weit die Tore auf, um den Scharen Schön- heitdurstiger und Lachlustiger Erbauung und Erheiterung zu gewähren. Von diesem reichen Leben, wie es Kunst und Musik, Theater und Konzert, Ausstellungen und gesellschaftliche Veranstaltungen gewähren, sollen diese Briefe in Zukunft auch den Kreisen, die keinen unmittelbaren Anteil daran haben, Kunde geben. — Verheißungsvoll haben am 31. August die Kgl. Hoftheater ihre Pforten geöffnet. Die erste Vorstellung im Großen Haus hatte noch eine Ehrenschuld gegen den in diesem Jubiläumsjahr mannigfach gefeierten Musikheros Richard Wagner abzutragen und brachte seinen in Sturm erbrausenden und in Melodienschönheit schwelgenden „Fliegenden Holländer" zu trefflicher Aufführung. Besonders interessant war es, die neuen Einrichtungen zu bewundern: die verstellbaren Proszeniumsrahmen, die die Bühnenöffnung verschmälern und erbreitern lassen, und den neuen Rundprospekt, der einen prächigen Ausblick auf das unendliche Meer bot. Erfreulich ist auch, daß Hermann Weil als Holländer eine vollendete Leistung zu bieten weiß und in der Wiederholung der Oper in Theodor Scheid! einen gleich vorzüglichen Nachfolger gefunden hat. Letzterer ist eine neuengagierte Kraft, wie auch der von Wien kommende Tenor Rudolf Ritter, der dem Jägerburschen Erik seine glänzende Stimme lieh. Hedy Brügelmann als Senta und Paul Drachs Dirigentenstab halfen der Oper zu wirkungsvoller Aufführung. Im Kleinen Haus eröffnete das Schauspiel die Saison, und zwar die Ferien- und Sommerstimmung fortsetzend mit dem altbekannten Schwank „Im weißen Röhl" und „Als ich wiederkam" von Blumenthal und Kadelburg. Die folgenden Theaterabende bedeuteten fast regelmäßig eine Neueinstudierung, die durch die vielfache Verjüngung und Erneuerung des Oper- und Echauspiel- pcrsonals nötig wurde. Die nach Kassel gegangene Else Feldhofen ward ersetzt durch Marie Koch, die sich in Grillparzers Trauerspiel „Des Meeres und der Liebe Wellen" höchst vorteilhaft einführte. Die erste Premiere der Saison zog am 7. Sept. im Kleinen Haus „a. E." ein, — a. E., d. h. „als East". Den Theaterfreunden, die sich über diesen geheimnisvollen Titel besannen, halfen boshafte Theatermitglieder nach, indem sie Vorgaben, die 2 Buchstaben bedeuten „ach Gott". Der harmlose Schwank, der Richard Wilde, den Redakteur am Berliner Börsen-Courier, zum Verfasser hat, bringt eine nervöse, unberechenbare, aber sieghafte Diva auf die Bühne, die bei einem älteren, leicht entflammbaren Komerzienrat absteigt, um ihm, dem Leutnantü- sohn, und eigentlich allen Herren den Kopf zu verdrehen — und im Provinztheater die Nora zu spielen. Nach einigen öden Szenen und manchen witzigen Hieben auf berühmte Bühnensterne, die „grundsätzlich" keine Kritik lesen, bringt der 3. Akt die Ueberraschung, daß die Diva die glücklich geschiedene, aber hochanständig treue Frau des Geheimen Kommerzienrats Rubinstein ist. Die Diva wurde von Frl. Kiinniger etwas zu behäbig dargestellt,' am witzigsten waren unser Held Egmont Richter als Direktor des Provinztheaters und der Heldenjüngling Raoul Aslan als der „Röllchen" und „Brettchen" tragende Liebhaber des Stadttheaters. Das Stückchen wurde mit Schmunzeln ausgenommen. — Einen Abend vor dieser Premiere hatte das Große
Zweites Blatt zu Nr. 226. 27. September 1913.
Haus eine bedeutende Tat erlebt: endlich sah man hier wieder Shakespeares Hamlet mit Aslan in der Titelrolle und Else Hofmeister-Pfeiffer als Ophelia, das Ganze geleitet von Dr. Walter Bloems fein empfindender Regie. Unter den verschiedenen Neueinstudierungen sind zu nennen: Lortzings Zar und Zimmermann. Planquettes Operette „Die Glocken von Corneville", die im Sommer unter Direktor Gustav Müller am Wil- helmatheater auch eine tresfliche Darstellung erlebt hatte, und Max Halbes „Strom". Aus der jüngsten Zeit sind 2 bedeutende Erstaufführungen noch zu nennen: Am 17. Sept. ging erstmals im Kleinen Haus Heinrich Lilienfeins Drama „Der Tyrann" in Szene. Die Handlung des in antikem Geist geschriebenen, in edler Sprache gehaltenen und mit vornehmen künstlerischen Mitteln arbeitenden Schauspiels dreht sich um den Tyrannen Porianther von Korinth, der zum wilden Despoten geworden ist, seit er seine Frau, von ihr sich betrogen wähnend, mit eigenen Händen erwürgt hat. Und doch erfuhr er gar bald ihre Unschuld, aber keiner seiner Untertanen durfte je ihren Namen nennen, und den eigenen Sohn, den ihm sein Weib geboren, hatte er verbannt. Im ersten Akt nun erwartet der Tyrann seinen Sohn, den er zurückgerufen, um ihm die strahlende Aglaia, die Tochter des ersten Bürgers von Korinth, zur Frau zu geben. Doch der Sohn läßt sich zur Ehe nicht befehlen, weigert den Gehorsam und zieht sich mit einer Sklavin seines Vaters, die dieser ihm grollend zugeworfen, zurück. Nach einer Idylle im Garten, die feinen lyrischen Gehalt hat, bringt der 3. Akt die höchste dramatische Kraft, als der Svhn den Vater nach seiner Mutter fragt und seinen Erzeuger dann verflucht. Im 4. Akt zieht der Sohn in die Verbannung uyd läßt den Vater, der nochmals um seines Sohnes Liebe wirbt, ungetröstet zurück und verurteilt, „den Stirnreif zu tragen, der ihn drückt". Trotz des Fehlens einer beherrschenden Idee weckt die oft prachtvolle Sprache Bewunderung, und Dr. Bloems Regie, Oskar Hofmeister als Tyrann und Raoul Aslan als sein Sohn Cykophron halfen dem Werk zu einem vollen Erfolg, der sich in einem Lorbeerkranz für den anwesenden Dichter zu erkennen gab. Die andere Neuheit war die Musiktragödie „Oberst Chabert" von Hermann W. v. Waltershausen. Ein ergreifendes Menschenschicksal, das eines vom Tode Erstandenen, ersteht hier in der Einheit eines wirkungsvollen Textbuches und einer empfindungstiefen, dramatisch angelegten Musik. Graf Chabert, vom Schlachtfeld weggetragen und begraben, hat sich wieder zum Leben durchgerungen und ist nach lOjähriger mühevoller Wanderung nach Paris zurückgekehrt, wo er sein Weib im Besitz eines andern vorfindet. Als er hofft, anerkannt zu werden, schneidet seine Frau alle Bande zwischen ihm und ihr entzwei mit den Worten „ich habe dich nie geliebt". Sich selbst das Urteil sprechend, „es ist Gottes Gesetz, daß Tote nicht mehr wiederkehren fallen", bezeichnet er sich selbst nun, was fälschlich alle andern taten, als Betrüger und tötet sich mit dem Gift, das er kurz vorher seinem Weib entwunden hatte. An seiner Leiche aber gelobt sein Weib „jetzt bin ich Dein in alle Ewigkeit" und tötet sich mit demselben Gift, das ihm den Tod gab. Die Musik gibt zuerst in meisterhafter Weise den dumpfen Schmerz der 10 Jahre langen Mühsale des Verkannten wieder, um dann in rasendem Tempo die Handlung zu steigern und fortzuführen. Besonders schön wirken ein Quintett und das Urteil, das sich Chabert spricht. Die Aufführung unter Emil Eerhäusers szenischer, Erich Brands musikalischer Leitung war glänzend, am innigsten nach- gefllhlt die Leistung von Hermann Weil als Titelheld, vortrefflich auch Hedy Jracema-Brügelmann als Rosine und Rudolf Ritter als Graf Feraud, ihr zweiter Gatte. Der anwesende Dichterkomponist konnte stürmische Huldigungen entgegennehmen. — Im privaten Schauspielhaus an der Kleinen Königstraße dominiert der leichte, pikante Ton: man gibt dort den bekannten Schwank von Arnold und Bach „Die spanische Fliege" — d. ist eine Tänzerin, die mit einem imaginären Sprößling vier edle und sonst recht sittenstrenge Familienväter zu peinigen und auszubeuten verstand
— dan folgten Jlgensteins „Kammermusik", ein Stück, das mit gutem Erfolg die Schwächen der hohen und höchsten Theaterverehrer geißelt und einen Tenor in die Notwendigkeit versetzt, seine legitime Frau als Geliebte und Schwester auszugeben, bis der kleine Bub beider den Eklat bringt. Viel Heiterkeit weckt auch Lothar Schmidts „Buch einer Frau", wo ein bedeutender Schriftsteller, aber troddelhafter Mann erkennen muß, daß seine berühmte Kritik über ein Frauenbuch, das die Seele der Frau behandelt und ein Kapitel „Wie ich meinen Mann betrog" enthält, dem Buch seiner eigenen vielgewandten Frau gegolten hat, und Sacha Eui- try's „Kampf um die Festung", wo ein schneidiger, in Spitzfindigkeiten erfahrener Polizeikommissar die Frau eines weniger routinierten Ehemannes erringt. In fast allen Stücken zeigt Viktor Bernecker sein vielseitiges Können und erweist sich Karl Vlumau als unwiderstehlicher Lharakterkomiker. — Auch das Friedrichsbautheater, die Stätte heiterer Varieteekunst, strengt sich an, in behaglich erneuertem Rahmen vielfache Anregung in großstädtischer Aufmachung zu bieten; besondere Erwähnung verdient ein elegant arbeitender Balancekünstler Barat. — Von den anderen Genüssen der Großstadt seien 2 Ausstellungen hervorgehoben: eine Hamlet-Ausstellung, die reiches Bildmaterial und Erinnerungen an Hamletaufführungen, von Schriftsteller W. Widmann gesammelt, im Turmzimmer des Landesgewerbemuseums darbot, und die Aguarien-Ausstellung in der städtischen Gewerbehalle, Sie exotische und einheimische Pflanzen und Tiere bewundern ließ, winzige Lebewesen und Riesenlurche, Krokodile und einen Riesenkarpfen aus dem Feuersee, und durch Zugaben aus dem Naturalienkabinett und der Sammlung der Technischen Hochschule willkommene Bereicherung gefunden hatte.
Auf der Warte.
Der Eilbotenlauf des 11. Turnkreises Schwaben.
Eine Gauturnwarte-Versammlung des 11. Turnkreises Schwaben hat, wie kurz gemeldet, bestimmt, daß der Eilbotenlauf des Turnkreises, dessen Aufgabe es ist, wichtige Urkunden an ein weites Ziel zu bringen, am Donnerstag, den 16. Oktober zur Ausführung kommt. Nachmittags 3.30 Uhr ist der Start an der Zeppelinwerft in Friedrichshafen. Die Vereine des Oberschwa- ben-Eaues übernehmen den Weg über Meckenbeuren, Ravensburg, Weingarten, Waldsee, Biberach bis Laup- heim, wo der letzte Läufer um 7.30 Uhr eintreffen wird. Um 8.43 Uhr wird Ulm passiert. Die beiden Ulmer Vereine haben die nun folgende Strecke in der Richtung gegen Geislingen (16 Kilometer) zu besetzen, da auf dieser Strecke weiter keine Vereine vorhanden sind. Sodann übernehmen die Eeislinger und Altenstädter Turner, sowie die des Hohenstaufen-Land-Eaues den Lauf: um 10.05 Uhr wird Geislingen passiert. Um 11.02 Uhr nachts wird Göppingen, um 11.58 Uhr Plochingen, um 12.27 Uhr Eßlingen passiert und um 1.15 Uhr bringt der letzte Läufer die Urkunde auf den Eewerbehalleplatz nach Stuttgart. Durch die Bestimmung, daß jeder Läufer 200 bis höchstens 500 Meter zu durchlaufen hat, sind von Friedrichshafen bis Stuttgart 974 Läufer nötig. Ein Kilometer soll in 21L Minuten (200 Meter in 30 Sekunden) durchlaufen werden. Die Vereinsturnwarte, die die Aufstellung der Läufer vorzunehmen haben, werden mit Radfahrern die Strecke kontrollieren; die Eauturnwarte werden mittels Autos die ihnen zugeteilten Strecken abfahren. Auch die letzten Turner, die die Nebenläufe vom Hohenstaufen (durchs Remstal), vom Hohenzollern und von Marbach her ausführen, treffen fast gleichzeitig mit dem obenbezeichneten in Stuttgart ein. In Stuttgart werden dann die zusammengetragenen vier Urkunden in einen Behälter gesteckt und um 3.43 Uhr geht der erste Läufer von Stuttgart ab. Der Weg führt über Ludwigsburg, Besigheim, Heilbronn, Würzburg, Schweinfurt, Coburg, Jena nach Leipzig. In diesem Laufe sind 3946 Turner direkt beteiligt, ohne die Obmänner, Führer und Leiter. Es beteiligen sich daran Turner von den bedeutendsten Plätzen, sogar von Amerika sind etwa 10 Läufer in Aussicht gestellt.