Samstag,
Zweites Blatt zu Nr. 220.
20. September 1913.
Bon der deutschen Nationalflugspende.
Von den im vergangenen Jahre gesammelten 6 Millionen der deutschen Nationalflugspende sind bis heute nur wenig Gelder unter die deutschen Flieger verteilt worden. Die Spende war vielmehr bis jetzt in erster Linie zur Schaffung von Flugstützpunkten und zur Unterstützung der Fabriken verwendet worden. Erst neuerdings, angesichts der großen Flüge der Franzosen, sind für Fernflüge deutscher Flieger eine ganze Anzahl sehr hoher Geldpreise ausgesetzt worden, um die sich Flieger auf reindeutschen Flugzeugen bewerben können. Nicht weniger als 300 000 -K sind zur Verfügung gestellt, aber die Bedingungen sind nicht leicht zu erfüllen, wird doch eine Mindestleistung von 1000 Kilometern verlangt, von denen wenigstens 300 Kilometer in gerader Linie liegen müssen, und zwar müssen die Flüge in der Zeit von Mitternacht bis Mitternacht ausgeführt sein. Die Tage sind jetzt schon wieder merklich kürzer, die Strecke ist lang, und bei einer Stundengeschwindigkeit von hundert Kilometer ist immerhin eine Flugzeit von zehn Stunden nötig. Man wird sogar damit rechnen müssen, daß in mondhellen Nächten geflogen wird. Die Flüge können außerhalb der Reichsgrengen begonnen werden, und müssen in der Zeit vom 15. September bis 1. Oktober ausgeführt werden, für die sechs weitesten Flüge werden verteilt: 60 000 50 000 -K, 40 000
Mark, 25 000 15 000 und 10 000 -K. Gelingt es
einem Flieger, den derzeitigen Entfernungsrekord des Franzosen Euillaux mit 1400 Kilometern zu Uberbieten, so wird diesem Flieger ein besonderer Preis von 100 000 Mark zugesprochen. — Es ist überaus erfreulich, daß durch so hohe Geldpreise endlich einmal der Tatendrang der deutschen Flieger mehr als seither angeregt wird und auch das Ausland die deutsche Fliegerei achten lernen muß. Flieger, Zivil und Militär, suchen sich in letzter Zeit in Ueberlandflügen zu überbieten, und die beiden Flieger Stiefvater und Stöffler haben am Dienstag geradezu glänzende Leistungen gebracht, indem Stiefvater, der ein Badener und 1890 in Müllheim geboren ist, von Freiburg bis Königsberg flog und mehr als 1100 Kilometer zurücklegte, während Stöffler von Mülhausen aus Warschau erreichte und damit eine gleichwertige Leistung vollbrachte. Nun muß es den deutschen Fliegern noch gelingen, den Entfernungsrekord, der seit Jahren ununterbrochen in den Händen der Franzosen war, an sich zu bringen. — Neueren Nachrichten zufolge will sich der bekannte württem-
bergische Flieger Hellmuth Hirth um den 100 000 Mark-Preis bewerben, indem er innerhalb 24 Stunden die Strecke Paris—Petersburg durchfliegen will.
Zum 50. Todestage von Jakob Grimm.
Am 20. September sind fünfzig Jahre verflossen, seit Jakob Ludwig Karl Grimm, der große Sprachforscher, in seinem 78. Lebensjahre die Augen geschlossen hat. Er war der Bruder des um ein Jahr jüngeren Wilhelm Karl Grimm, wurde mit diesem 1837 als einer der bekannten „Göttinger Sieben" seines Amtes an der Hochschule entsetzt und bekleidete später eine Professur in Berlin. Wir haben als Württembergs und Deutsche einen doppelten Grund, des trefflichen Mannes zu gedenken. Für uns Schwaben hat Jakob Grimm dadurch eine besondere Bedeutung erlangt, daß er den Posten eines Bibliothekars an der Privatbibliothek des Königs Jerome bekleidete, der mit Katharine, der geistund gemütvollen Tochter des Königs Friedrich von Württemberg, auf Betreiben des Kaisers Napoleon verheiratet worden war. Nach dem Zusammenbruch des Königreichs Westfalen folgte Katharine dem entthronten Gemahl ins Unglück. Sie starb 1835 in ihrem 52. Lebensjahr und wurde in Ludwigsburg beigesetzt. Auch Jakob Grimm verlor seine Stellung, um freilich bald wieder einen angesehenen Bibliothekarsposten zu erhalten. Er wollte, wie er selbst betont, durch seine Studien und Schriften das Vaterland erheben. Das ist ihm durch seine bedeutenden Werke, von denen die „Deutsche Grammatik", „Deutsche Rechtsaltertümer", „Weistümer", „Deutsche Mythologie", „Geschichte der deutschen Sprache" usw. hervorgehoben seien, glänzend gelungen. Besonders volkstümlich wurde sein Name durch die zusammen mit seinem Bruder vor 100 Jahren herausgegebenen „Kinder- und Hausmärchen", die heute wohl das verbreitetste deutsche Kinderbuch sind. Auch die mit seinem Bruder zusammen bearbeiteten „Deutschen Sagen" sind in die Masse des Volkes gedrungen. Als Jakob Grimm am 20. September 1863 starb und unter ungeheurer Teilnahme beerdigt wurde, schmückte sein Grab unter anderen Kränzen auch ein schlichter Kranz mit der Inschrift: „Dem Freunde der Jugend, dankbare Kinder."
Ist das Pferd ein ritterliches Tier?
X.-K. Unsere Dichter pflegen gern das Pferd als ritterliches Tier zu bezeichnen — z. B. Eerok in seinem schönen Gedichte: Die Rosse von Eravelotte — und diese
Bezeichnung entspricht sicherlich der allgemeinen Volks- anschauung. Ich möchte nicht gern in einen falschen Verdacht geraten und bekenne freudig, daß ich ein großer Verehrer dieses herrlichen Geschöpfes bin, aber vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus scheint mir das Beiwort höchst anfechtbar zu sein.
Zum Begriff der Ritterlichkeit gehört einmal die Tapferkeit. Mit dieser ist es nun beim Pferd sehr schwach bestellt. Gewiß gibt es Hengste, die höchst kampflustig sind, und auch sonst kommen Pferde vor, die sich vor nichts fürchten und tatsächlich gern in die Schlachr gehen. Aber Ausnahmen können! nur die Regel bestätigen. Und die Regel ist eben, daß das Pferd als fliehender Pflanzenfresser sein Heil in der Flucht sucht. Das sinnlose Durchgehen, das selbst den heutigen Pferden unausrottbar anhastet, ist weiter nichts als die alte Praxis der wilden Vorfahren. Dem Pferde hieraus einen Vorwurf zu machen, halte ich für ungerecht. Was sollen die wilden Einhufer gegenüber den großen Katzen machen, die sie mit Vorliebe überfallen? Der Löwe sucht sich sein Opfer gern unter den Zebras, und der Tiger gern unter den Wildeseln. Flucht seitens der Einhufer ist hier das einzig Richtige, weil ihre Schnellfüßigkeit ihnen die Möglichkeit der Rettung gewährt. So praktisch also die Flucht ist, so hat sie doch mit Ritterlichkeit nichts gemein.
Der zweite Grund, weshalb wir das Pferd als ritterlich bezeichnen, liegt darin, daß es im Gegensatz zu vielen andern Tieren — beispielsweife dem Hunde — lautlos dw größten Schmerzen erduldet. Aber entspringt hier die Lautlosigkeit der Gesinnung, sich den Schmerz zu verbeißen, was Loch erst das Verhalten zu einem ritterlichen stempelt? Das möchte ich stark bezweifeln. Wie ich in meinen Büchern dargetan habe, schreit das Pferd nicht, weil es zwecklos wäre. Denn wilde Einhufer stehen sich nicht bei, da ihnen die Waffen zum Beistände fehlen. Auch Giraffen helfen ein- anver nicht, deshalb schreien sie nicht, ebenso machen es Hirsche und Rehe. Wilde Hunde helfen sich dagegen bei feindlichen Angriffen, deshalb heulen sie, wenn sie Schmerzen empfinden. Auch hier kommen wiederum Ausnahmen vor, indem es hin und wieder Pferde gibt, ore bei Verwundungen, Operationen u. dgl. schreien. Aber die Lautlosigkeit ist die Regel, andernfalls würden, da Ueberanstrengungen und Mißhandlungen der Pferde bei uns an der Tagcsordnung sind, die Straßen von ihrem Geschrei wiederhallen.
Das Pferd gleicht also dem Schiffbrüchigen, der sich aus einen Balken gerettet hat und nicht um Hilfe ruft, weil es zwecklos wäre. Denn weit und breit ist kein Schiff zu sehen, das Rettung bringen könnte. Handelt oieser Schiffbrüchige ritterlich? Wird er von dem Ge-
Das Schloß Dürande
16 . von Joseph von Eichcndorff.
Da pfiff plötzlich eine Kugel durch das Fenster herein. „Das war der Renald!" rief der Graf, sich nach der Brust greifend, er fühlte den Tod im Herzen. — Gabriele fuhr hastig auf. „Wie ist dir?" fragte sie erschrocken. Aber der Graf, ohne zu antworten, faßte heftig nach seinem Degen. Das Gesindel war leise durch den Gang herangeschlichen, auf einmal sah er sich in der Halle von bewaffneten Männern umringt. — „Gute Nacht, mein liebes Weib!" ries er da; und mit letzter, übermenschlicher Gewalt das von der Fahne verhüllte Mädchen auf den linken Arm schwingend, bahnte er sich eine Gasse durch die Plünderer, die ihn nicht kannten, und verblüfft auf beiden Seiten vor dem Wütenden zurückwichen. So hieb er sich durch die offene Tür glücklich ins Freie hinaus, keiner wagte ihm aufs Feld zu folgen, wo sie in den schwankenden Schatten der Bäume einen heimlichen Hinterhalt besorgten.
Draußen aber rauschten die Wälder so kühl. „Hörst du die Hochzeitsglocken gehn?" sagte der Graf; „ich spür schon Morgenluft." — Gabriele konnte nicht mehr sprechen, aber sie sah ihn still und selig an. — Immer ferner und leiser verhallten unterdes schon die Stimmen vom Schlosse her, der Graf wankte verblutend, sein steinernes Wappenschild lag zertrümmert im hohen Gras, dort stürzte er tot neben Gabrielen zusammen. Sie atmeten nicht mehr, aber der Himmel funkelte von Sternen und der Mond schien prächtig über das Jägerhaus und die einsamen Gründe; es war, als zögen Engel singend durch die schöne Nacht.
Dort wurden die Leichen von Nicolo gefunden, der vor Ungeduld schon mehrmals die Runde um das Haus gemacht hatte. Er lud beide mit dem Banner auf das Pferd, die Wege standen verlassen, alles war im Schloß, so brachte er sie unbemerkt in die alte Dorfkirche. Man hatte dort vor kurzem erst die Sturmglocke geläutet, die Kirchtür war noch offen. Er lauschte vorsichtig in die Nacht hinaus, es war alles still, nur die Linden säuselten im Wind, vom Schloßgärten hörte er die Nachtigallen schlagen, als ob sie im Traume schluchzten. Da senkte er betend das stille Brautpaar in die gräfliche Familiengruft und die Fahne darüber, unter der sie noch heut zusammen ausruhn. Dann aber ließ er mit traurigem Herzen sein Pferd frei in die Nacht hinauslaufen, segnete noch einmal die schöne Heimatsgegend und wandte sich rasch nach dem Schloß zurück, um seinen bedrängten Kameraden beizustehen; es war ihm, als könnte er nun selbst nicht länger mehr leben.
Auf den ersten Schuß des Grafen aus dem Schloßfenster war das raubgierige Gesindel, das durch umlaufende Gerüchte von Renalds Anschlag wußte, aus allen Schlupfwinkeln hervorgebrochen, er selbst hatte in der offenen Tür des Jägerhauses auf die Antwort gelauert und sprang bei dem Blitz im Fenster wie ein Tiger allen voraus, er war der erste im Schloß. Hier, ohne auf das Treiben der andern zu achten, suchte er mitten zwischen den pfeifenden Kugeln in allen Gemächern, Gängen und Winkeln unermüdlich den Grafen auf. Endlich erblickte er ihn durchs Fenster in der Halle, er hörte ihn drin sprechen, ohne Gabrielen in der Dunkelheit zu bemerken. Der Graf kannte den Schützen wohl, er hatte gut gezielt. Als Renald ihn
getroffen taumeln sah, wandte er sich tiefaufatmend — sein Richteramt war vollbracht.
Wie nach einem schweren löblichen Tagewerke durchschritt er nun die leeren Säle in der wüsten Einsamkeit zwischen zertrümmerten Tischen und Spiegeln, der Zugwind strich durch alle Zimmer und spielte traurig mit den Fetzen der zerrissenen Tapeten.
Als er durchs Fenster blickte, verwunderte er sich über das Gewimmel fremder Menschen im Hofe, die ihm geschäftig dienten wie das Feuer dem Sturm. Ein seltsam Gelüsten funkelte ihn da von den Wänden an aus dem glatten Getäfel, in dem der Fackelschein sich verwirrend spiegelte, als äugelte der Teufel mit ihm. — So war er in den Eartensral gekommen. Die Tür stand offen, er trat in den Garten hinaus. Da schauerte ihn in der plötzlichen Kühle. Der untergehende Mond weilte noch zweifelnd am dunkeln Rand der Wälder, nur manchmal leuchtete der Strom noch heraus, kein Lüftchen ging, un doch rührten sich die Wipfel, und die Alleen und geisterhaften Statuen warfen lange, ungewisse Schatten dazwischen, und die Wasserkünste spielten und rauschten so wunderbar durch die weite Stille der Nacht. Nun sah er seitwärts auch die Linde und die mondbeglänzte Wiese vor dem Jägerhause; er dachte sich die verlorene Gabriele wieder in der alten unschuldigen Zeit als Kind mit den langen dunkeln Locken, es fiel ihm immer wieder das Lied ein: „Gute Nacht, mein Vater und Mutter, wie auch mein stolzer Bruder," — es wollte ihm das Herz zerreißen, er sang verwirrt vor sich hin, halb wie im Wahne:
Meine Schwester, die spielt an der Linde. —
Stille Zeit, wie so weit, so weit!