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Amts- und Anzeigeblall für den Oberamtsbezirk Calw.

88. Jahrgang.

Erscheinungsweise: 6mal wöchentlich. Anzeigenpreis: Im Oberamts­bezirk Calw für die einspaltige Borgiszeile 10 Pfg.. außerhalb desselben 12 Pfg., Reklamen 25 Pfg. Schluß für Jnseratannahme 10 Uhr vormittags. Telefon 9.

Dienstag, den 16. September 1913.

L ezug-preis: In der Stadt mit Lrägerlohn Mk. 1.25 vierteljührlich, Post- LezugSpreiS für den Orts- und Nachbarortsverkehr Mk. 1.20, im Fernverkehr Mk. 1.30. Bestellgeld in Württemberg 30 Pfg., in Bayern und Reich 42 Pfg.

Amtliche Bekanntmachungen

K. Oberamt Calw.

Vorbereitungskurs für Bauleute in Hall.

Die Kgl. Zentralstelle für Gewerbe und Handel be­absichtigt in der Zeit vom 3. November 1913 ab einen Vorbereitungskurs für Bauleute in Hall zu veranstalten.

Näheres im Eewerbeblatt Nr. 36.

Das Eewerbeblatt kann u. a. bei den Herrn Orts­vorstehern eingesehen werden, an welche ich zu diesem Zwecke hiemit das Ersuchen richte, den Gewerbetreiben­den auf Wunsch Einsicht in das ihnen mit dem Staats­anzeiger zugehende Eewerbeblatt zu gewähren.

Den 6. September 1913.

Amtmann Rippmnnv.

Entwicklung der Weltwirtschaft.

O.I.-L. Die immer engere Verflechtung Deutsch­lands mit der Weltwirtschaft hat auf vielen Seiten Bedenken hervorgerufen. Man weist darauf hin, daß mit dem Rückgang zur Weltwirtschaft das Gebäude der Volkswirtschaft mit einem großen Teil auf Pfeiler aufgebaut wird, die auf fremdem Boden ruhen. Wir sind, seit wir in die Weltwirtschaft eingetreten sind, in viel größerem Umfange angewiesen auf den Export unsrer Fabrikate, auf die Erleichterung des Rohstoff­und Nahrungsmittelbezuges. Dabei drohe, so sagt man weiter, Deutschland die Gefahr, daß durch den Ueber- gang andrer Staaten zur industriellen Produktion die Absatzmärkte eingeengt werden, so daß wir schließlich einmal nicht mehr wüßten, wohin wir mit den Fabri­katen gehen sollen. Mit Recht weist aber Albert Hessse in seiner Schrift über die wirtschaftliche Ent­wicklung des Deutschen Reiches darauf hin, daß zwar die Tendenz überall bestehe, selbst Industrien zu schaffen, und die vorhandenen auszubauen, daß die Gefahr aber nicht übertrieben werden dürfte und auch nicht unab­wendbar sei. Vor allem wirkt hier wohltätig die Tat­sache der industriellen Differenzierung der Staaten, in­dem die Entwicklung der Industrie in den einzelnen Ländern nicht in der gleichen Richtung vor sich geht; so ist beispielsweise in England und Deutschland die Industrie am weitesten vorgeschritten, und doch sind beide Staaten sehr gute Kunden. Wir verkaufen an England fast doppelt so viel, wie an die Vereinigten Staaten, fast ebensoviel wie an Oesterreich-Ungarn und Italien zusammen, und bleiben doch als Abnehmer Eng­lands nicht weit hinter den Vereinigten Staaten zu­rück. Dann vermag die Qualifizierung der Arbeit der ausländischen Konkurrenz zu begegnen. Einige Industrieländer vermögen noch keine Qualitäts­erzeugnisse zu liefern. Dazu ist ältere industrielle Er­fahrung nötig. So kommt es darauf an, den Vorsprung zu behalten. Voraussetzung dafür ist aber rechtzeitiges Erkennen und Mitteilungen der Veränderung durch die Auslandsvertreter der deutschen Volkswirtschaft. Ini­tiative der deutschen Unternehmer, Fortschreiten der Technik und Verständnis der Arbeiterschaft für die im­mer schwieriger werdenden Aufgaben.

Vom sozialdemokratischen Parteitag.

l.

Jena, 14. Sept. Der Sozialdemokratische Parteitag wurde heute hier eröffnet. Namens des Lokalkomitees begrüßte Reichstagsabgeordneter Leber die Versamm­lung und Reichstagsabgeordneter Molkenbuhr er- öffnete den Parteitag im Auftrag des Parteivorstandes. Seine Rede war dem Andenken Bebels gewidmet und wurde vom Parteitag stehend angehört. Sie war eine programmatische Aeußerung der Parteileitung an den Parteitag, denn sie feierte Bebel nicht eigentlich als Parteidogmatiker, sondern als Taktiker. Er wurde als der größte Taktiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie geschildert. Nach der Rede Molken- buhrs wurde zum Leiter des Parteitages, also als Nach­folger des klassischen Parteitagsleiters Singer, das Par­teivorstandsmitglied Ebert gewählt. Ebert ist einer der intelligentsten Parteibeamten, seiner Wahl zum Parteitagsvorsitzenden folgt vielleicht die zum Partei­

vorsitzenden. Zum zweiten Parteitagsvorsitzenden wurde der Genosse Bock-Gotha gewählt wegen seiner Ver­dienste bei dem 38 Jahre zurückliegenden Partei- Einigungskongreß in Gotha. Nachdem ein Telegramm an den erkrankten Parteivorsitzenden Haase geschickt worden war, sprachen die ausländischen Genossen. Es wurde dann folgendes Programm aufgestellt: 1. Ge­schäftsbericht, 2. Bericht der Kontrollkommission, 3. Be­richt der Reichstagsfraktion (Genosse Schulz), 4. Arbeits­losenfürsorge (Kimme), 5. Maifeier (Ebert), 6. Steuer­frage (Wurm und Südekum), 7. Anträge, 8. Wahl des Parteivorstandes. Im Geschäftsbericht befürwortete Scheidemann die Gründung einer vierzehntägig erscheinenden illustrierten Familienzeitung. Der Still­stand der Partei, so bemerkte der Redner weiter, sei nicht beängstigend. Die Intensität der Arbeit inner­halb der Organisation wiege den Stillstand der Ex­tensität reichlich auf. Von einem Verschwinden des Vertrauens der Massen zur Parteileitung zu reden, sei unverantwortlich. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel sei die Wehrvorlage gekommen, deren Annahme von vornherein ohne jeden Zweifel war; nur blieb übrig, die Deckung sozial zu gestalten. Redner hielt einen Massenstreik für ausgeschlossen. Man dürfe die deutschen Verhältnisse nicht durch die russische Brille betrachten. Der Massenstreik wird von selbst kommen. Der volle Wind der Demokratie muß ihm zur Hilfe kommen, sonst ist er eine Dummheit. Der Kassenbericht kon­statierte einen Ueberschuß von 394 000 -4l. Der Rück­gang in der Mitgliederzunahme habe seinen Grund nur in der wirtschaftlichen Krise. Durch bessere Organi­sation des Finanzwesens, Hauskassierung, laste sich grö­ßere Stabilität erzielen. Br ü h n e - Frankfurt ge­dachte für die Kontrollversammlung des verstorbenen Genossen Haas. Dann trat man in die Diskussion über den Geschäftsbericht ein. Von verschiedenen Seiten wird vor Schönfärberei gewarnt. Das Feuilleton sei zu hoch. Die bürgerliche Jugendpflege dürfe nicht unterschätzt werden. Man sei sich noch nicht genügend klar über die Behandlung der Jugend zwischen 14 und 18 Jahren. Von vielen Seiten werden Wünsche und Beschwerden laut. Klara Zetkin-Stuttgart sprach über die so­zialdemokratische Frauenbewegung. Paul- Nürnberg bedauerte die schablonenhafte Eintönigkeit der sozial­demokratischen Presse. Er fand in der Versammlung vielfach Zustimmung.

Stadt» Bezirk «nd Nachbarschaft

Calw, 16. September 1913.

8t. Oberamtsarzt Medizinalrat Or. Müller hier ist seinem Ansuchen entsprechend in den Ruhestand ver­setzt worden und ihm aus diesem Anlaß das Ritter­kreuz 1. Klasse des Friedrichsordens verliehen worden.

X Vom Schwarzwaldverein. An dem Ausflug des Schwarzwaldvereins auf die Teufelsmühle beteiligten sich 14 Mitglieder, darunter 5 Damen. Der Aufstieg nach Dobel erfolgte noch bei ziemlich zweifelhaftem Wet­ter, je'näher wir aber der Teufelsmühle auf den Leib rückten, desto schöner und Heller wurde der Himmel und bei Erreichung der Mühle wurden wir durch eine wunderbar klare Aussicht auf das Murgtal und die Schwarzwaldberge bis zur Hornisgrinde erfreut, auch den Zeppelin konnte man lange verfolgen auf seiner Rückreise von Stuttgart. Ein fröhliches Leben herrschte auf der Höhe die Teufelsmühle ist nämlich keine Mühle im Tal, sondern der schönste Aussichtspunkt zwi­schen Murg und Nagold; es wurde vielfach abge­kocht, jedem schmeckte sein mitgebrachtes Esten, aus ver­schiedenen Gruppen ertönte Gesang mit Zupfgeigen­begleitung und so ging die auf 2 Stunden festgesetzte Rast schnell vorbei. Um 1>t Uhr wurde aufgebrochen und aus meistens ebenem Weg um 4X Uhr Wildbad erreicht. Eesamtmarschzeit 7)4 Stunden. Im Kühlen Brunnen" zu Wildbad stand ein sehr gutes, reichliches und billiges Esten bereit. Co schön die Wanderung war, so unangenehm war die Heimfahrt. Vollgepfropfte Wagen läßt man sich am Ende noch ge­fallen, aber der Z4 ständige Aufenthalt in Brötzingen

war für die Unmenge Leute, die auf den Zug hieher warten mußten, eine Qual; daß es in Strömen goß, nahm der Bahnverwaltung niemand übel, aber daß man nicht mehr wie früher nach Pforzheim hinein­fahren darf, wird als hart, unnötig und nach den vie­len Aeußerungen, die man hörte, als noch viel mehr angesehen. Endlich wird von niemand begriffen, warum der vorzügliche Zug, der um 7 Uhr in Wildbad abging, und direkt über Calw nach Stuttgart fährt, im Sep­tember nicht mehr geht. Jetzt, nachdem die Urlaube so ziemlich abgelaufen sind, werden die schönen Herbsttage mit Vorliebe zu einer Tour in den Schwarzwald be­nützt Wenn aber ein Stuttgarter von Wildbad Uber Calw nach Hause fährt, so braucht er über 4 Stunden, sollte er nicht vorziehen, mit dem Pariser Schnellzug ab Psorzheim zu fahren, was aber auch kein Vergnügen ist, da dieser Zug meistens überfüllt ist. Etwas ntehr praktischer Sinn und mehr Anpasten an das Verkehrs­und Ausflugsleben wäre sehr am Platze und würde sich für die Bahn sehr rentieren.

8Ld. Mutmaßliches Wetter. Für Mittwoch und Donnerstag ist fortgesetzt mehrfach bedecktes, jedoch zeit­weilig aufklärendes, aber nur noch zu geringen Nieder­schlägen geneigtes Wetter zu erwarten.

Kirchliches Missionsfest.

k<. i. Bad Liebenzell, 15. Sept. Gestern fand hier, in bekränzter Kirche, das jährliche kirchliche Mis- sionsfest statt. Während das Zelt eigene Zwecke verfolgt, will dieses der im Nagoldtal alteingelebten Basler Mission dienen und hat dazu die Besonderheit, daß jedesmal auch die Innere Mission zur Gel­tung kommt. Nach der einleitenden Ansprache Stadt­pfarrer Sandbergers, der das Ganze unter den Leitgedanken der 2. Bitte des Vaterunsers stellte, führte Missionar Schmoll die zahlreiche Gemeinde auf das Basler Missionsfeld in China. Aus eigenem Erleben schilderte er anknüpfend an 2. Kor. 5, 14 die persönlichen Opfer des Missionars, die Schwierigkeiten der Arbeit in der Sprache und dem Fremdenhaß der Chinesen, den treibenden Beweggrund der Arbeit in der jammervollen inneren Gebundenheit des Heiden­tums und in der Christusliebe. Auch hier wurde uns bestätigt, daß die revolutionären Bewegungen der letz­ten Jahre nur Förderung für die Mission gebracht haben. Der Götterglaube ist weithin erschüttert. Ließ doch ein chinesischer Beamter einen Götzentempel einfach ausräumen, um für die Aufklärungsredner der Regie­rung einen Saal zu schaffen. Unerhört ist, daß am Altar des Himmels" in Peking ein Dankgottesdienst dem wahren Gott gehalten werden konnte, unerhört, daß die Regierung das Häuflein Christen, 2 Millonen unter dem 400-Millionen-Volk, offiziell bittet, um Se­gen und Gedeihen für das neue Staatswesen zu beten! Jetzt sollte man Geld und Kräfte ha­ben. 4 neue Stationen sollte die Basler Mission er­richten und das Schulwesen ausdehnen. Hier liegt eine Aufgabe für die Missionsfreunde! Für die Innere Mission erwärmte der 2. Redner, Pfarrer Mößner von der Karlshöhe, die Herzen, ausgehend von Joh. 13,34. Ein heiliger Krieg ist's, der in der Innern Mission geführt wird, viel zu wenig bekannt in un­serem Volk. Erschütternd ist die Not, gegen die es geht: eine Million Krüppel, einige Zehntausend Taub­stumme und ebensoviele Blinde! Dazu die Volkskrank­heit der Tuberkulose, die überhandnehmenden Geistes­krankheiten. Und die sittliche Not: Alkohol und ge­schlechtliche Verirrungen, das Kino, die wachsenden Ver­brecherzahlen, namentlich unter den Jugendlichen. Ge­genwärtig treibt Alles, Staat und Parteien, mit fast fieberhaftem Eifer zur Jugendfürsorge. Die Innere Mission war längst damit am Werk in aller Stille. Ueberall feiern die evang. Jünglingsvereine ihr 50- jühriges Bestehen (Calw!) und aus diesen Kreisen be­zieht die Innere Mission ihre meisten Arbeiter. Hin­ter diesen Nöten aber steht überall, namentlich in den Großstädten eine religiöse Not, die der Redner mit einigen beängstigenden statistischen Zahlen aus Berlin