Stadt, Bezirk »ad Nachbarschaft
Calw, 11. September 1913.
Tie Freigestellten.
Die Untergrenze des steuerpflichtigen Einkommens beträgt in Württemberg 500 Diese Untergrenze, auch Existenzminimum genannt, ist in anderen Staaten teils höher, teils niederer. Höher ist sie in Oesterreich mit 1200 Kronen, in England mit 160 Pfund, in Preußen, Hamburg, Bremen, Braunschweig, Sachsen-Meiningen und Baden wo sie 900 ./k. beträgt, in den Niederlanden mit 550 fl. in Bayern, Lübeck, Anhalt mit 600 niederer in Sachsen-Altenburg, mit 450 in Oldenburg und im Königreich Sachsen mit 400 ^/(., in Sachsen-Coburg-Gotha und Lippe-Detmold mit 300 ^., in den Kantonen der Schweiz mit meist 500 frs., in Italien mit 400 Lire. Diejenigen, welche unter diesem Existenzminimum bleiben, sind überhaupt steuerfrei. Es gibt aber auch solche subjektiv-steuerpflichtige Personen, die trotz eines die Untergrenze von 500 übersteigenden Einkommens gleichwohl kraft der Steuerermäßigungsvorschriften der Art. 20 und 21 des Einkommensteuergesetzes steuerfrei zu lassen sind; dies sind die sogenannten Freigestellten. Zieht man von der Zahl der Eingeschätzten (704 523) die Zahl der Freigestellten (18 713) ab, so erhält man diejenige der Besteuerten oder Einkommensteuerpflichtigen (685 810). Nach der Jndi- vidualstatistik auf 1. April 1910 kamen von den 18 713 Freigestellten auf den Neckarkreis 5472, den Schwarzwaldkreis 5230, den Jagstkreis 4576, den Donaukreis 3435. In Groß- Stuttgart wurden sreigestellt 665 Personen. Das Oberamt Calw zählt unter 6712 Eingeschätzten 69 Freigestellte, von welchen angehören der Landwirtschaft 40, der Forstwirtschaft 10, dem Mietshausbesitz 0, dem Gewerbe 3, dem Kapital 2, der Arbeiter- und freien Berufsschaft 9 und 15 dem Mischeinkommen. Ausländer, Reichsangehörige ohne Wohnsitz im Deutschen Reiche oder in einem deutschen Schutzgebiete haben nur ein steuerliches Existenzminimum von 200
X Die Frage des Gasbezugs Hirsaus von Calw ist im Fluß. In Sachen des Gasbezugs der Gemeinde Hirsau von unserm städtischen Gaswerk fanden gestern abend in Hirsau Vorbesprechungen statt, zu denen die bürgerlichen Kollegien Hirsaus, sowie einige Vertreter der Stadt Calw (Stadtschultheiß Conz, Stadtpfleger Dreher und die Gemeinderäte Staudenmeyer und Dreiß, sowie als Fachmann Gasdirektor Eg- linger von Karlsruhe, der Berater Calws für das städtische Gaswerk), sich eingefunden hatten. Die bürgerlichen Kollegien Hirsaus, soviel ließ sich aus dieser Vorbesprechung erkennen, zeigten sich dem Gedanken, daß Hirsau durch das städtische Gaswerk Calw mit Gas versorgt werden soll, nicht abgeneigt. Am kommenden Samstag soll die Angelegenheit der Bürgerschaft von Hirsau in einer öffentlichen Versammlung unterbreitet werden, die im Rößle stattfindet, und bei der Gasdirektor Eglinger die Frage vom fachmännischen Standpunkt aus erörtern wird.
ep. Zum Geburtsfest der Königin hat der König für die kirchliche Feier am 5. Oft. d. Js. als Predigttext die Schriftstelle gewählt: „Der Herr sendet dir Hilfe vom Heiligtum und stärket dich aus Zion" (Psalm 30,3).
ep. Kirchenkollekte. Den Kirchengemeinden Berneck, Bik- kelsberg und Maienfels ist für die dringend notwendig gewordene Erneuerung ihrer Kirchengebäude eine allgemeine Kirchenkollekte bewilligt worden, die in sämtlichen Kirchen des Landes am 5. Oft. d. Js. veranstaltet werden wird.
8. Schwäbische Gedenktage. — Am 10. September 1742 wurde in Nürtingen geboren Joh. Gottlieb Steeb, zuletzt Pfarrer in Grabenstetten, wo er am 30. November 1799 starb. Er war ein durch Schrift und Tat um die Landwirtschaft ungemein verdienter Mann. — Am 11. September 1316 lagerte König Ludwig der Bayer vor den Mauern Schorndorfs. — Vom 11.—13. September 1634 wurde die Stadt Herrenberg von den Kaiserlichen ausgeplündert und viele Einwohner getötet. — Am 12. September 1442 erkauften die Nonnen von Frauenzimmern O. A. Brackenheim die Probstei Kirchbach bei Ochsenbach und verlegten ihr Kloster dahin. — Vom 12. bis 17. September 1305 befand sich Kaiser Albrecht im Lager bei Oberboihingen. — Vom 13. bis 18. September 1634 wurde Oehringen durch die Kaiserlichen geplündert und verwüstet. — Zwischen dem 14. und dem 21. September 1286 zerstörte König Rudolf in seinem Kampf mit dem Grafen Eberhard dem Erlauchten den befestigten Kirchhof von Nürtingen. — Am 15. September 1644 ereignete sich in Leonberg das Wunder, daß in Gegenwart des Herzogs Eberhard III. ein 26jähriges Mädchen, Katharina Hummel, aus Ohmden O. A. Kirchheim, deren Füße schon 9 Jahre zusammengebogen waren, und die an Krücken ging, plötzlich eine aufrechte Gestalt erhielt, die Krücken wegstellte und von dem Dekan in die Mitte der Kirche geführt wurde. Auf des Herzogs Befehl wurde am 22. September eine Dankpredigt gehalten. — Am 16. September 1787 brannten in Nürtingen 30 Häuser nieder.
Für Hundefreunde. Am nächsten Sonntag findet hier in der Turnhalle eine große Schau für Hunde aller Rassen statt, bei welcher Gelegenheit geboten ist, die Hunde von sachverständigen Richtern begutachten zu lassen. Es kommen dabei piele Geld- und Ehrenpreise zur Vergebung. Der Beginn der Prämiierung ist auf 12 Uhr festgesetzt; die an ihr teilnehmenden Hunde sollen um 11 Uhr am Platze sein.
8cd. Mutmaßliches Wetter. Für Freitag und Samstag ist fortgesetzt mehrfach bedecktes, wenn auch nur zu geringen Niederschlägen geneigtes Wetter zu erwarten.
8t. Schömberg, 10. Sept. Pfarrer Weitbrecht hier ist auf die 1. Stadtpfarrstelle in Bietigheim ernannt worden.
8t. Nagold, 10. Sept. Die offene wissenschaftliche Hauptlehrerstelle am Lehrerseminar ist dem Hilfslehrer Or. Georg Wagner am Gymnasium in Hall übertragen worden. W. erhält den Titel Professor.
Nagold, 11. Sept. Die Frau des Schuhmachers Frey von Altensteig ist von einem Garbenwagen abgestürzt und hat eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.
Württe«derg.
Militärisches.
Das Militärverordnungsblatt bringt eine Reihe von Personalveränderungen, die auf die neue Heeresvorlage zurückzuführen sind. Mit Wirkung vom 1. Oktober ab ist zum Inspektor der Landwehrinspektion Stuttgart Generalmajor von Steinwardt ernannt worden, der bisher Kommandant von Stuttgart war. Die Kommandantur wird bekanntlich infolge Reichstagsbeschlusses am 1. Oftober aufgehoben. Zahlreiche Veränderungen sind durch die Neuschaffung von Verkehrstruppen notwendig geworden. Es wurden besetzt mit wüct- tembergischen Offizieren die 4. (württ.) Kompagnie des Eisenbahnbataillons Nr. 4, ferner das württembergische Detachement der königlich preußischen Festungsfernsprech-Komp. Nr. 4, die 4. Komp, des Luftschifferbataillons Nr. 4 und das
württ. Detachement des Kraftfahrbat. Aus den sonstigen Personalveränderungen ist hervorzuheben, daß der jetzige Chef des Generalstabs des 13. Armeekorps, Oberst v. Mutius zum Kommandeur der 44. Kavallerie-Brigade und an seiner Stelle der preußische Oberleutnant Loßberg, z. Zt. Bataillonskommandeur im Jnf.-Reg. Nr. 94, zum Chef des Generalstabs des Armeekorps ernannt worden ist. Freiherr von Lupin, Kommandeur des Ulanen-Reg. König Karl Nr. 19 in Ulm, ist zum Kommandeur der 43. Kavallerie-Brigade ernannt und nach Preußen kommandiert worden. An seine Stelle tritt Major Oerthling, z. Z. beim Stab des Dragoner-Reg. Nr. 26. Die zahlreichen übrigen Beförderungen sind größtenteils eine Folge der Heeresvorlage.
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Ein letztes Wort zum Fall Wagner.
Mühlhausen, a. Enz, 10. September. Man muß nun schließen mit den Mitteilungen über die Bluttat, denn was sich noch neues ergeben wird, insbesondere aus den psychologisch überaus wertvollen Ermittlungen über des Mordbrenners Vorleben, wird vorläufig in den Akten der Untersuchungsbehörde verschwinden, lieber die Beschaffenheit des klaren Sinnes des Mörders wird sich der Psychiater aussprechen, ebenso wie über den Mangel an Reue. Daß sich der Mordbrenner noch sehr auf der Höhe fühlt und nicht wie andere Verbrecher zusammengebrochen ist, kann wohl damit erklärt werden, daß er als Kranker in einem an sich nicht unfreundlichen Zimmer gute Wartung genießt. Das muß ihm nach den bestehenden Gesetzen gewährt werden. Aber es wird ihm nach Lage der Dinge nicht erspart bleiben, daß er auch mit dem Gefängnis Bekanntschaft macht. Die vollständig veränderten Verhältnisse im Gefängnis mit ihren deprimierenden Wirkungen werden auch einen Wagner beugen. Vorläufig wird also die Oeffentlichkeit sich begnügen müssen mit der Fülle dessen, was bisher über den Fall berichtet wurde; was später kommt, muß man abwarten. In Mühlhausen wurde der ganze große Grabhügel nun über den vierzehn Särgen gewölbt; das Befinden der in Vaihingen liegenden Verwundeten ist so, daß man wohl glauben darf, daß man das Riesengrab nicht noch einmal zu öffnen braucht. Die Brandstätten haben aufgehört zu rauchen; man beginnt teilweise schon, sie abzuräumen. Das Geld für die eingeleitete Sammlung geht in guten Summen ein und kann wenigstens .für das krasse äußere Elend, das einzelnen Familien drohte, Linderung schaffen. Die Arbeit, die tagelang liegen blieb, muß wieder ausgenommen werden, und wenn auch die Ueber- lebenden die Schreckensnacht nie vergessen, so ist doch jeder seither verflossene Tag ein Tröpflein mildernden Balsams für die blutenden Herzen gewesen, und sie werden langsam, langsam vernarben.
Plochingen, 10. Sept. Beim Rangieren auf dem hiesigen Bahnhof kam gestern mittag eine Rangier-Maschine mit 15—20 Wagen vom Stellwerk I die Steigung herunter der Neckarbrücke zu. Durch die nachdrängenden Wagen kam der Zug in Schuß. Die Bediensteten konnten auf die Notsignale des Lokomotivführers, der die gefahrvolle Lage erkannt hatte, nicht zeitig genug die Bremsen lösen. Mit großer Wucht fuhr die Lokomotive auf den Prellbock auf, so daß die vorderen Wagen an der Lokomotive in die Höhe stiegen. Der Heizer rettete sich durch Abspringen von der Maschine. Der Unfall wurde durch die Hilfsmannschaften aus Eßlingen behoben.
Das Schloß Dürande
9. von Joseph von Eicyendorff.
Renald stand, wild um sich blickend, auf der stillen Treppe. Da bemerkte er erst, daß er den Zettel noch krampfhaft in Händen hielt; er entfaltete ihn hastig und las an dem flackernden Licht einer halbverlöschten Laterne die Worte: „Hütet Euch. Ein Freund des Volks." —
Unterdes hörte er oben den Grafen heftig klingeln: mehrere Stimmen wurden im Hause wach, er stieg langsam hinunter wie ins Grab. Im Hofe blickte er noch einmal zurück, die Fenster des Grafen waren noch erleuchtet, man sah ihn im Saale heftig auf und niedergehen. Da hörte Renald auf einmal draußen durch den Wind singen:
"" Am Himmelsgrund schießen
So lustig die Stern'.
Dein Schatz läßt dich grüßen Aus weiter, weiter Fern'!
Hat eine Zither gehangen An der Tür unbeacht',
Der Wind ist gegangen Durch die Saiten bei Nacht.
Schwang sich auf dann vom Gitter Ueber die Berge, übern Wald —
Mein Herz ist die Zither,
Gibt einen fröhlichen Schall.
Die Weise ging ihm durch Mark und Bein; er kannte sie wohl. — Der Mond streifte soeben durch die vorüberfliegenden Wolken den Seitenflügel des Schlosses, da glaubte er in dem einen Fenster flüchtig Gabriele zu erkennen; als er sich aber wandte, wurde es schnell geschlossen. Ganz erschrocken und verwirrt warf er sich auf die nächste Türe, sie war fest zu. Da trat er unter das Fenster und rief leise aus tiefster Seel hinauf, ob sie drin wider ihren Willen festgehalten werde? so solle
sie ihm ein Zeichen geben, es sei keine Mauer so stark als die Gerechtigkeit Gottes. — Es rührte sich nichts als die Wetterfahne auf dem Dach. — „Gabriele," rief er nun lauter, „meine arme Gabriele, der Wind in der Nacht weint um dich an den Fenstern, ich liebte dich so sehr, ich lieb' dich noch immer, um Gottes willen komm, komm herab zu mir, wir wollen miteinander sortziehen, weit, weit fort, wo uns niemand kennt, ich will für dich betteln von Haus zu Haus, es ist ja kein Lager so hart, kein Frost so scharf, keine Not so bitter als die Schande."
Er schwieg erschöpft, es war alles wieder still, nur die Tanzmusik von dem Balle schallte noch von fern über den Hof herüber; der Wind trieb große Schneeflocken schräg über die harte Erde, er war ganz verschneit. — „Nun, so gnade uns beiden Gott!" sagte er, sich abwendend, schüttelte den Schnee vom Mantel und schritt rasch fort.
Als er zu der Schenke seines Vetters zurückkam, fand er zu seinem Erstaunen das ganze Haus verschlossen. Auf sein heftiges Pochen trat der Nachbar, sich vorsichtig nach allen Seiten umsehend, aus seiner Tür, er schien auf des Jägers Rückkehr gewartet zu haben und erzählte ihm geheimnisvoll: das Nest nebenan sei ausgenommen, Polizeisoldaten hätten heute Abend den Vetter plötzlich abgeführt, niemand wisse wohin! — Den Renald überraschte und verwunderte nichts mehr, und zerstreut mit flüchtigem Dank nahm er alles an, als der Nachbar nun auch das gerettete Reisebündel des Jägers unter dem Mantel hervorbrachte und ihm selbst eine Zuflucht in seinem Hause anbot.
Gleich am andern Morgen aber begann Renald seine Runde in der weitläufigen Stadt, er mochte nichts mehr von der Großmut des stolzen Grafen, er wollte jetzt nur sein Recht! So suchte er unverdrossen eine Menge Advokaten hinter ihren großen Tintenfässern auf, aber die sahen's gleich .alle den goldbortenen Rauten seines Rockes an, daß sie nicht aus seiner eigenen Tasche gewachsen waren; der eine verlangte unmögliche Zeugen, der andere Dokumente, die er
nicht hatte, und alle forderten Vorschuß. Ein junger reicher Advokat wollte sich todlachen über die ganze Geschichte; er fragte, ob die Schwester jung, schön, und erbot sich, den ganzen Handel umsonst zu führen und die arme Waise dann zu sich ins Haus zu nehmen, während ein anderer gar das Mädchen selber heiraten wollte, wenn sie fernerhin beim Grafen bliebe. — In tiefster Seele empört, wandte sich Renald nun an die Polizeibehörde; aber da wurde er aus einem Revier ins andere geschickt, von Pontius zu Pilatus, und jeder wusch seine Hände in Unschuld, niemand hatte Zeit, in dem Getreibe ein vernünftiges Wort zu hören, und als er endlich vor das rechte Bureau kam, zeigten sie ihm ein langes Verzeichnis der Dienstleute und Hausgenossen des Grafen Dürande: seine Schwester war durchaus nicht darunter. Er habe Geister gesehen, hieß es, er solle keine unnützen Flausen machen; man hielt ihn für einen Narren, und er mußte froh sein, nur ungestraft wieder unter Gottes freien Himmel zu kommen. Da saß er nun todmüde in seiner einsamen Dachkammer, den Kopf in die Hand gestützt; seine Barschaft war mit dem frühzeitigen Schnee auf den Straßen geschmolzen, jetzt wußte er keine Hilfe mehr, es ekelte ihm recht vor dem Schmutz der Welt. In diesem Hinbrüten, wie wenn man beim Sonnenglanz die Augen schließt, spieltest feurige Figuren wechselnd auf dem dunklen Grund seiner ?ele: schlängelnde Zornesblicke und halbgeborene Gedanken blutiger Rache. In dieser Not betete er still für sich; als er aber an die Worte kam: „vergib uns unsere Schuld, als auch wir vergeben unseren Schuldnern", fuhr er zusammen; er konnte es dem Grafen nicht vergeben. Angstvoll und immer brünstiger betete er fort. — Da sprang er plötzlich auf, ein neuer Gedanke erleuchtete auf einmal sein ganzes Herz. Noch war nicht alles versucht, nicht alles verloren, er beschloß, den König selber anzutreten — so hatte er sich nicht vergeblich zu Gott gewendet, dessen Hand auf Erden ja der König ist.
(Fortsetzung folgt.)