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Amis- und Anzeigeblatt für den OberamtsbezirL Calw.

88. Jahrgang.

Erscheinungsweise: 6mal wöchentlich. Anzeigenpreis: Im Oberamls- bezirk Calw für die einspaltige Borgiszeile 10 Psg.. außerhalb desselben 12Psg., Reklamen 25 Psg. Schluß für Jnseratannahme 10 Uhr vormittags. Telefon 9.

Mittwoch, den 23. 3uli 1913.

Ve-ugSpreiS: In der Stadt mit Trägerlohn Mk. 1.25 vierteljährlich, Post- bezugSpreiS für den OrtS- und Nachbarortsverkehr Mk. 1.20, im Fernverkehr Mk. 1.30. Bestellgeld in Württemberg 30 Psg., in Bayern und Reich 42 Pfg.

Der Fall Maurenbrecher.

Der Mannheimer Prediger Maurenbrecher hat zusammen mit seiner Frau der Sozialdemokratie enttäuscht den Rücken gekehrt. Einst war er ein Partei­gänger Friedrich Naumanns, hat sich aber von ihm ab­gekehrt, da er seine Träume vom Heil und Wohl der Menschheit in und mit der Sozialdemokratie durch­setzen zu können wähnte. Jetzt hat er auch diese ver­lassen und will fürder allein seinen Weg wandeln. Er ist der erste nicht, dem dieses Schicksal wurde, und er wird auch der letzte nicht sein. Als im Jahr 1896 Friedrich Naumann in Erfurt die Seinen sammelte, um eine neue nationalsoziale Partei ins Leben zu rufen, die dem Sozialismus einen vaterländischen Charakter geben sollte, da saß neben Eöhre und Sohm, neben Tischendörfer, von Gerlach und Damaschke auch Mauren­brecher, und auch er unterschrieb damals die Sätze des neuen Programms,_in denen es hieß, daß die neue Par­tei fest auf dem Boden der Verfassung stehe, daß auch für sie die Monarchie ein mitwirkender Faktor im politischen Leben sein sollte. Und gerade Mauren- brocher hat als einer der eifrigsten Kämpfer, als Re­dakteur derHilfe" für die neue Partei auch die Sätze verfochten, er hat mit den anderen gemeinsam lange Jahre hindurch den fruchtlosen Kampf gekämpft. Heute sind sie, die damals Seite an Seite fochten, in alle Winde zerstreut. Naumann hat einen Unterschlupf ge­funden bei der freisinnigen Volkspartei, Damaschke wurde ein Vorkämpfer der Bodenreform, von Gerlach kämpft für eine Neuorganisatnon der extremen Demo­kratie, und Eöhre und Maurenbrecher haben geglaubt, das Heil, das ihnen der Kampf für den National­sozialismus versagte, durch den Anschluß an die Sozial­demokratie finden zu können. Es mag reiner Idealis­mus gewesen sein, der beide zu diesem Schritte trieb. Versicherte doch noch Maurenbrecher, als er 1904 von den früheren Freunden schied, daß er es sich auch unter den neuen Parteigenossen nicht nehmen lassen werde, die Idee des Vaterlandes im nationalsozialen Sinne wei­ter zu verfechten. Es sind Leidensjahre, die sowohl er wie Eöhre bei der Sozialdemokratie durchmachten. Sie hofften eine Freiheit des Geistes zu finden, sie gedachten in frohem Arbeitsfchaffen die Ideale zu verwirklichen, die sie in ihrer Weltfremdheit sich schufen. Und sie fanden das starre Parteidogma, die Schablone, den Zwang der Einengung in die Formeln des Marxismus, unüberwindliche Mauern, an denen schon härtere Schädel als die ihrigen zerschellt waren. Sowohl Eöhre wie Maurenbrecher haben sich die redlichste Mühe gegeben, sich einzugewöhnen, oft wohl sogar auf die Kosten ihrer besseren Erkenntnis. Zumal Maurenbrecher mühte sich, sozialdemokratischer zu sein, als die Sozialdemokratie. Er schwor auf die für jeden Einsichtigen abgetane Ver­elendungstheorie, verteidigte die unverletzliche Heilig­keit der längst überholten und als unrichtig erkannten Marxschen Theorien. Und doch war sein Mühen um­sonst. Er blieb in der Sozialdemokratie ein Einsamer, ein Fremder, ohne daß ihm die Macht und der Einfluß wurden, die er so heiß ersehnte. Um wenigstens etwas zu retten, warf er sich auf die Propaganda für eine freireligiös-mystische neue Religionslehre, ein gekün­steltes Erzeugnis seines eigenen Kopfes. Man hörte ihn an und schüttelte den Kopf, und er galt noch mehr als ein Sonderling, für die Sozialdemokratie nicht verwendbar. So zerfiel er innerlich und auch äußerlich mit der Partei, und wenn er jetzt den Staub des mit solcher Begeisterung betretenen Landes wieder von den Füßen schüttelt, so ist das nur ein folgerichtiges Ergeb­nis der ständig im Laufe der Jahre sich mehrenden Er­kenntnis, daß es ein leerer Traum war, wenn er er­wartete, bei der Sozialdemokratie das zu finden, was er suchte. L. N. N.

Stadt, Bezirk and Nachbarschaft

Talw, 23. Juli 1913.

st. llebertragen wurde das Dezirksbauamt Calw dem etatsmäßigen Regierungsbaumeister, tit. Bau­inspektor Wieland hier. Verliehen wurde dem

Bahnwärter Maier auf Posten 41 der Abteilung Alt- hengstett die Verdienstmedaille des Friedrichsordens.

Das Erdbeben. Die Nachrichten aus den verschie­denen Landesteilen lassen erkennen, daß das Erdbeben vom Sonntag nirgends einen nennenswerten Schaden verursacht hat. Auch dieser Umstand zeigt, daß es we­niger stark war als dasjenige vom 16. November 1911; ebenso bleibt die räumliche Ausdehnung des jetzigen Erdbebengebietes hinter derjenigen vor 2 Jahren zurück; wenigstens liegen genaue Beobachtungen nur vor für das durch die Linien Straßburg, Zürich, München und Taunus umschriebene Viereck. Die Erschütterungen schei­nen am stärksten gewesen zu sein in Stuttgart und Um­gebung, in der Gegend von Rottenburg und Tübingen, sowie im Balinger Bezirk. Der Herd des Erdbebens ist bis jetzt noch nicht sicher festgestellt. Von meteorolog. Seite wird das Erdbeben in Zusammenhang gebracht mit der Aenderung in der Luftdruckverteilung, die sich von Samstag auf Sonntag vollzog und große Druck­unterschiede auslöste. Die Aufzeichnungen des Baro­graphen zeigten während des Bebens ganz erhebliche Schwankungen des Luftdrucks. In einigen Orten, so in Maulbronn, wurde schon vom Samstag abend an ein ängstliches Umherschwirren einer Menge von Schwal­ben beobachtet.

v. Neue Landwehr-Dienstauszeichnung. Die Neu­ordnung des deutschen Heerwesens bringt auch eine Ver­änderung der Dienstauszeichnungen an Angehörige der aktiven Truppen, sowie der Landwehr-Dienstauszeich- nung 2. Klasse. Letztere wird künftig als Medaille von Kupfer hergestellt (bisher Schnalle); sie führt auf der Vorderseite die Königskrone mit der UmschriftTreue Dienste Reserve Landwehr", auf der Rückseite die In­schrift:Landwehr-Dienstauszeichnung 2. Klaffe". Die­jenigen Personen, denen die Landwehr-Dienstauszeich­nung 2 .Klaffe bisher zuerkannt worden ist, können sie künftig in der neuen Form auf eigene Kosten anlegen.

Ausländisches Fleisch. Von den 28 deutschen Städ­ten, die ausländisches Fleisch bezogen, haben 16 diesen Fleischbezug wieder eingestellt; in Stuttgart geschah dies schon vor mehreren Wochen. In erster Linie ist dies darauf zurückzusühren, daß der deutsche Viehstand durch den bedeutenden Rückgang der Maul- und Klauen­seuche sich erfreulicherweise so gehoben hat, daß er den früheren Stand llbertrifft. Nur bezüglich der Schweine fehlt es noch, besonders in Süddeutschland.

Die Seife wird teurer. Die enorme, noch nie da­gewesene Preissteigerung der Rohprodukte, die zum allergrößten Teil von der Speisefettindustrie zu den höchsten Preisen aus dem Markt genommen werden, hat die süddeutschen Seifenfabriken gezwungen, die Preise für Kernseife in den letzten Wochen um 12 ^ das Pfund zu erhöhen. Da trotz dieser Erhöhung sich die Seifenpreise immer noch ziemlich tief unter den heuti­gen Gestehungspreisen bewegen, wird von einer weite­ren Erhöhung, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, kaum Umgang genommen werden können. Die mißliche Lage der süddeutschen Seifenindustrie mag auch dadurch gekennzeichnet werden, daß die mittel- und nord­deutschen Seifenfabriken 34 mehr für das Pfund Kernseife erzielen, als die süddeutschen, obgleich letztere, wenigstens was die in Württemberg gelegenen Betriebe betrifft, größtenteils sowohl höhere Frachten als höhere Arbeitslöhne bezahlen, als die norddeutschen.

8cb. Mutmaßliches Wetter. Für Donnerstag und Freitag ist wohl etwas wärmeres und vorherrschend trockenes, aber zeitweilig trübes und strichweise auch regnerisches Wetter zu erwarten.

G Bad Liebenzell, 23. Juli. Der lustige Schwank Die Welt ohne Männer" wurde gestern bei gut besetz­tem Hause gegeben. Im 1. Akt treffen wir dreijunge" Mädels, die sich zu gemeinsamer Verachtung der Män­ner, desminderwertigen Geschlechts" zusammengefun­den haben. Die sonst so liebenswürdige Fr. Kraus findet nicht Worte genug, über die verabscheuungs­würdigen Männer herzufallen. Sie sieht in den Män­nern diejenigen, die die Frauen aus den Stellungen verdrängen, sie in ihrem Fortkommen behindern. In

der Wohnung dieser dreinetten" Mädels kommt es allerdings teilweise zu recht tollen Auszügen, umso stür­mischer ist aber der Beifall. Der zweite Akt führt uns in das Bureau des Advokaten Specht. Gusti und Chri­stine haben hier Stellung gefunden. Auch Dr. Max, den wir schon im 1. Akt auf schiefer Bahn wandeln sahen, treffen wir hier. Viel Spaß erregt das Zusammen­stößen des Kanzleibeamten Eamperl, eines ausge­sprochenen Weiberfeinds, mit Gusti, der Männerfeindin. Und doch bekommt man von letzterer dann und wann wieder den Eindruck, als ob sie doch nicht so gar unzu­gänglich wäre. Der dritte Akt führt uns wieder in die Wohnung der drei Mädels. Der Weiberfeind Eamperl klagt der Christine, daß es in seiner Wohnung eben immer so kalt sei und diese zeigt ihm, daß dieser Woh­nung nur die Wärme und Licht spendende Sonne, die Frau, fehlte. Gusti wird die Braut des Dr. Max und so haben wir zum Schluß des Stücks zwei glückliche Pärchen, geheilt von ihren Vorurteilen. Gespielt wurde wieder tadellos.

Weilderstadt, 22. Juli. Auf dem heutigen Schweinemarkt verkaufte ein Händler an zwei Bauern je ein Paar Milchschweine. Alldieweil sich dieser um einen weiteren Handel bekümmerte, suchten die beiden mit je 1 Paar Milchschweinen das Weite, ohne zu be­zahlen! Der.Betrogene soll ein Mann in dürftigen Verhältnissen sein.

Neuenbürg, 23. Juli. Gestern abend 8 llhr gingen über die Gegend sehr schwere Gewitter nieder. Dabei schlug in Birkenfeld der Blitz zweimal ein; einmal in die Wirtschaft zum Hohenzollern und einmal bei Al­bert Schmidt. Frau Schmidt wurde durch den Blitz­schlag betäubt; sie fiel vom Stuhle und war über eine Stunde bewußtlos, sodaß man sie für tot hielt.

Württemberg.

Stuttgart, 22. Juli. Zur Nachprüfung der von der Firma Robert Bosch über die Zahlen ihrer Arbeiter veröffentlichten Angaben waren auf Aufforderung der Firma in den Blättern heute die Herren Watcher, Re­dakteur der Schwäbischen Tagwacht, und Rau, Bureau­beamter des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in dem Bosch'schen Betrieb, zusammen mit dem von Bosch dazu berufenen königlichen öffentlichen Notar GLnßle, der der Firma über das Ergebnis der Nachprüfung eine Urkunde ausgestellt hat, die die Richtigkeit der Zahlen voll bestätigt. Die Arbeiterzahl hatte heute mittag 12 Uhr schon den Stand von 1607 Leuten erreicht. Unter diesen befinden sich 1042 frühere Arbeiter und Arbeite­rinnen, d. h. solche, die am 2. Juni in den Streik ge­treten sind oder ausgesperrt wurden.

Zuffenhausen, 22. Juli. In der Nacht vom Sams­tag auf den Sonntag wurde ein wieder bei der Firma Robert Bosch in Stuttgart arbeitender jüngerer Ar­beiter von hier auf dem Heimweg von einer hiesigen Wirtschaft, nachdem er dort vorher belästigt und be­schimpft worden war, von mehreren Burschen überfallen und mißhandelt. Die Sache wird ein gerichtliches Nach­spiel haben.

Baihingen a. Enz, 22. Juli. Auf der Sicherung der Bogenlampen im großen Saal des Bahnhotels hatte sich ein Rotschwänzchenpaar häuslich eingerichtet. Da die Sicherung für die Niederlassung gefährlich werden konnte, verjagte der Wirt die Vögel einigemale, ließ sie aber zuletzt doch bauen, da sie immer wiederkamen. Plötzlich aber machte sich ein brenzlicher Geruch im Saale bemerkbar und man entdeckte, daß das Nest, in dem sich 5 Junge und die Mutter befanden, brannte. Zum Erbarmen war es, zuzusehen, wie die arme Mutter sich mühte, die Jungen vor den Flammen zu retten. Sie hätte fortfliegen können, doch blieb sie treu und ver­brannte so mit ihnen. Hilfe von Seiten der Zuschauer kam zu spät.

Rottenburg, 22. Juli. Die Beschwerde der Reut- linger Handwerkskammer über die Vergebung der Brot­lieferungen für das Rottenburger Ferienheim des Jung­deutschlandbundes an die Eefängnisbäckerei hatte rasch Erfolg. Die Brotlieferung ist nunmehr den Rotten­burger Bäckermeistern übertragen worden.