133-
Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.
88. Jahrgang.
Erscheinungsweise: 6mal wöchentlich. Anzeigenpreis: Im Oberamtsbezirk Calw für die einspaltige Borgiszeile 10 Pfg., außerhalb desselben 12 Psg., Reklamen 25 Pfg. Schluß für Jnseratannahme 10 Uhr vormittags. Telefon 0.
Mittwoch, de« 11. Juni 1913.
Bezugspreis: In der Stadt mit Trägerlohn Mk. 1.25 vierteljährlich, Post- KezugSpreiS für den OrtS- und Nachbarortsverkebr Mk. 1.20, im Fernverkehr Mk. 1.30. Bestellgeld in Württemberg 30 Pfg., m Bayern und Reich 42 Pfg.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich.
Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Vassermann schreibt in der Wiener Neuen Freien Presse: Der Aufsehen erregende Leitartikel der „Westminster Gazette", der das in Europa herrschende Mißbehagen und Gefühl der Unsicherheit auf das Bestreben der französischen Regierung, die Dienstzeit um ein Jahr zu verlängern, zurückführt, wird in Deutschland viel beachtet. Wer die Verhandlungen der Budgetkommission des deutschen Reichstags nüchtern und objektiv betrachtet, wird das charakteristische Moment alsbald herausfinden. Den bürgerlichen Parteien, Konservativen, Zentrum und Liberalen, die sich in der Bewilligung der Heeresverstärkung zusammenfinden, mutz man die ernste Entschlossenheit, das Vaterland zu sichern gegen jede Gefahr, nachrühmen. Daneben aber tritt der absolut friedliche Charakter dieser rein defensiven Heeresverstärkung auch in diesen Verhandlungen offensichtlich zutage, so datz nur böser Wille oder mangelnde Einsicht uns die Absicht frivolen Angriffs auf Frankreich zuschreiben kann. Wie der Artikel der „Westminster Gazette" treffend hervorhebt, ist es in Frankreich nur möglich, die dreijährige Dienstzeit durchzudrücken, wenn das Land in einen Zustand glühenden Patriotismus versetzt wird, der gleichbedeutend ist mit der Furcht vor einer wirklichen oder angenommenen Gefahr. Von alledem ist in Deutschland nicht die Rede. Kaum datz man da oder dort von einer Volksversammlung liest, in der die Heeresvorlage besprochen wird; von Chauvinismus ist nirgends die Rede. Die Friedensliebe unseres Volkes weiß sich frei davon, und der sittliche Ernst, der uns die Sicherheit des Vaterlandes durch Ausbau unserer Wehrkraft sichern läßt, bedarf des Auf- peitschens der nationalen Leidenschaften nicht. Wir haben kein Recht, den Franzosen Vorschriften zu machen. Wie sie ihre Wehrpflicht regeln zu müssen glauben, ist ihre Sache. Datz aber die deutsche Militärvorlage keine Veranlassung sein konnte, die dreijährige Dienstzeit in Frankreich einzuführen, ist nach den Verhandlungen des deutschen Reichstags in seiner Budgetkommission noch klarer als zuvor. Wenn trotzdem Frankreich zur dreijährigen Dienstzeit übergeht, so wollen wir daraus nicht den Schluß ziehen, datz Frankreich willens ist, zum Angriff überzugehen. Aber wenn die exaltierte Stimmung in Frankreich, von der die „Westminster Gazette" spricht, Gefahr der Friedensstörung für die europäische Welt bringt, wollen wir zur Verteidigung gerüstet sein. Es ist erfreulich, wenn das Ausland und insbesondere die Staaten der Tripleentente sehen, wo der Sitz der Gefahr für den Frieden ist, und wenn so klar, wie es in dem Artikel der „Westminster Gazette" der Fall ist, ausgesprochen wird, datz Frankreich weder Ermutigung noch Unterstützung zu einer aggressiven Bewegung erhalten wird.
Parlamentarisches.
Aus dem Reichstag.
Berlin, 10. Juni. Am Bundesratstisch: Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück, Kriegsminister v. Heeringen, viele Kommissare des Kriegsministeriums. Präsident Dr. Kaempf eröffnet die Sitzung um 2,05 Uhr. Auf der Tagesordnung stehen zunächst Anfragen. Das Haus tritt nach deren Beantwortung durch Regierungsvertreter in die zweite Beratung der Wehrvorlagen ein. Die Vorlage ist von der Budgetkommission in einigen Punk- ten abgeändert worden. Der Regierungsentwurf sah dre Erhöhung des Mannschaftsbestandes auf 661176 Kommission hat hiervon 1613 Mann ge- hat sie 15 von den angeforderten
^bkadrons bei der Kavallerie für überflüssig er- ^ nationalliberaler Antrag verlangt jedoch dre Wiederherstellung der Position nach der Regie
rungsvorlage. Noske (Soz.): Von der Notwendigkeit der hier von der Regierung geforderten Verstärkungen haben wir uns nicht überzeugen können. Die Anbahnung besserer deutsch-englischer Beziehungen ist die beste Friedensgewähr. Der Hinweis auf die veränderten Balkanverhältnisse in der Begründung der Heeresvorlage ist verfehlt. Die Balkanverbündeten sind wirtschaftlich und an Menschenmaterial auf lange Jahre hinaus so geschwächt, datz sie an einen Frontwechsel nach Norden in absehbarer Zeit nicht denken können. Wie Stimmung für Rüstungen gemacht wird, haben wir ja erlebt. Wenn die Materialien für Rüstungen in reichseigenen Betrieben hergestellt würden, so ginge die Begeisterung weiter Kreise für Heeresverstärkungen bald zurück. Es herrscht geradezu eine Korruption bis in die höheren Stellen hinauf. Wie kann sich das Offizierkorps das schamlose Schmierwesen gefallen lassen? Geschäftsgewandtheit ist die Stärke der Heeresverwaltung nicht, viele von den Millionen, die dem deutschen Steuerzahler abgeknöpft werden, fließen in die Taschen gerissener Spekulanten. Wenn ich von den Auswüchsen des militärischen Systems spreche, mutz ich auch den Fall Redl erwähnen. Dazu führt das System, datz die eine Regierung die Heerführer der anderen besticht. In der Kommission hat der Kriegsminister uns mit Gesindel, Dirnen, Zuhältern usw. auf eine Stufe gestellt! (Stürmische Pfuirufe links, Glocke des Präsidenten, erneute Pfuirufe. Vizepräsident Paasche ruft den ALg. Antrick zur Ordnung. Abermalige Pfuirufe. Rufe: Der Kriegsminister soll das zurllcknehmen! Er hat wohl keine gute Erziehung! Heftiges Läuten des Präsidenten.) Redner fortfahrend: Das Volk wird um seine Rechte betrogen. Selbst ein Königswort wird nicht eingelöst. Kriegsminister v. Heeringen: Es ist nicht wahr, datz ich die Sozialdemokraten auf eine Stufe mit Dirnen usw. gestellt hätte. Ich habe auf eine Frage in gedrängter Form die Richtlinien für Lokalverbote zusammengestellt. Staatssekretär Dr. Delbrück: Der Abg. Noske hat von einem uneingelösten Königswort gesprochen; damit hat er die Zuständigkeit des Reichstages überschritten. (Zuruf links: kläglich!) Von einer Nichteinlösung kann nicht gesprochen werden. Vizepräsident Dr. Paasche ruft den Redner nachträglich zur Ordnung. Nächste Sitzung: Mittwoch 1 Uhr. Schluß 7 Uhr.
Aus dem Landtag.
Stuttgart, 10. Juni. Die Zweite Kammer setzte heute nachmittag bei Beratung des Etats des Innern die Erörterungen über Fragen des Handwerks und der Industrie fort. Rembold - Gmünd (Ztr.) befürwortete nochmals die handwerksmäßige Ausbildung der Frauen. Heymann (Soz.) sprach von einem Stillstand der Sozialpolitik, namentlich hinsichtlich einer gesetzlichen Arbeitervertretung. West meyer (Soz.) warf den Nationalliberalen vor, sie hätten nicht den Mut, für das einzutreten, was sie wollen, und wandte sich gegen die Firma Bosch und sprach die Hoffnung aus, datz die Arbeiter aus diesem Kampfe siegend hervorgehen. Hill er (V.K.) sah in den Konsumvereinen sozialdemokratische Organisationen und erklärte, das gesamte Bürgertum habe allen Anlatz, seine Haltung zu den Konsumvereinen einer Revision zu unterziehen. Er verlangte außerdem die Aufhebung des K 100 g der Gewerbeordnung. Staatsrat v. Mosthaf übernahm die volle Verantwortung für den Erlaß des Gewerbeoberschulrats, der den Gewerbeschülern den Anschluß an sozialdemokratische Jugendorganisationen verbietet. Wieland (Natl.) wünschte eine bessere wirtschaftliche Vertretung im Ausland und trat für Bosch ein. Fischer (Vpt.) hielt Westmeyer vor, datz er durch sein Verhalten den Willen zu weiterer sozialer Verständigung bei Bosch lahmlege. Andre (Ztr.) betonte, die Konsumvereine seien an sich eine wohltätige Einrichtung, doch würden sie von der Sozial
demokratie zu politischen Zwecken mißbraucht. Der Minister des Innern v. F l e i s ch h a u e r hob gegenüber dem Abg. Heymann hervor, datz man einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt habe, wie man ihn sich nicht besser habe wünschen können. Es sprach dann noch Dr. Lindemann (Soz.) über Schutzzollpolitik, Submissionsverfahren und den Streik bei Bosch. Das Haus war schließlich so schwach besetzt, datz die Abstimmung auf morgen verschoben werden mutzte. Schluß gegen ^9 Uhr.
Stadt, Bezirk «nd Nachbarschaft
Talw, 11. Juyi 1913
Das Preislied des Calwer Liederkranzes beim Wettsingen in Tübingen. Der Tag nähert sich allmählich, an dem der Liederkranz Calw beim Sängerfest des Schwäbischen Sängerbundes mit andern Gesangvereinen in die Schranken treten will, um sein Können vor den maßgebenden kritischen Augen und Ohren zu erproben. Die Teilnahme des Vereins beim Wettgesang hat unter der gesamten Einwohnerschaft außerordentliches Interesse gefunden und mit Spannung sieht sie dem Ergebnis des für den Liederkranz so bedeutungsvollen Tages entgegen. Der vom Vereinsdirigenten, Oberlehrer Beutel, ausgewählte Preischor ist eine noch ganz neue Komposition des Oesterreichers August Micza und von Eichendorff gedichtet. Er ist überschrieben: „Sehnsucht" und hat nachstehenden Wortlaut:
„Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land;
Das Herz mir im Leibe entrennte,
Da Hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte ^
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wenn der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht."
Dieser durch und durch lyrischen Dichtung mit ihrem träumerisch-geheimnisvollen, sehnsüchtig-drängenden Stimmungsgehalt hat der Komponist in seiner, oft wundervoller Weise das musikalische Gewand umzukleiden verstanden, so datz ein wirkungsvoller, dankbarer Männerchor daraus geworden ist. Der Liederkranz tritt mit diesem Chor in der Abteilung für höheren Volksgesang auf. Des Chores musikalisch-künstlerische Qualität aber verweisen ihn unbedingt in eine höhere Stufe, in einfachen Kunstgesang, und an Sänger und Dirigent sind dadurch recht große Anforderungen gestellt. In unermüdlicher Arbeit übt der Verein. Einzelstimmen- und Chorproben verlangen seit Monaten die eifrigste Hingebung zur Bewältigung der weitgesteckten Aufgabe. Und das ist notwendig. So große Schönheiten, unnennbare Feinheiten die Komposition enthält, so schwierig ist es, diese Schönheiten völlig nach des Dichters und Komponisten Absicht herauszubringen. Der Chor verhaucht im duftigsten ppp, wie auch der dritte Vers durchweg ohne Fortestellen geschrieben ist. Das sind die wunden Stellen, die einer Sängerschar, der man anmerkt, datz in frühe-