93. Amts- und AnzeigeblatL für den Oberamtsbezirk Calw. 88. Jahrgang.
Sr
.»weise: vmal wöchentlich. «Njetgenprei«: Im vberamt»- 8a7w für die einspaltige Borgiszeil« 10 Pfg.. außerhalb desselben 12 Pfg., men 28 Pfg. Schluß für Jnseratannahme 10 Uhr vormittags. Telefon 8.
Mittwoch, den 23. April 1913.
Luneville macht Schule.
Die Franzosen können sich wirklich nicht beklagen, wir seien unhöflich. Gewiß nicht. Erst führen wir ihnen den Z. 4 vor und schaffen ihnen die Gelegenheit, die sorgsam gehüteten Geheimnisse vom Bau und Wesen dieses Luftkreuzersystems in aller Behaglichkeit zu photographieren — die Regierung bedankt sich hintennach noch höflichst für die korrekte Erledigung des Falls. Nachher halten ein paar gutmütige Deutsche französischem Pöbel den Buckel hin, lassen sich verhauen, anspeien, an Hab und Gut schädigen, — alles unter den Augen der gesetzlichen Hüter der Ordnung — damit der Deutschenhaß fröhlich sprossende Auswirkung erhalte. Damit nicht genug, fliegt gestern früh nun ein deutscher Doppeldecker über die Grenze und landet auf unsres liebenswürdigen Nachbarn gastlichem Gebiet. — Wenn's die Franzosen mit der Deutschenfurcht zu tun bekämen, wäre es ihnen wahrhaftig nicht zu verübeln. Wenn rasch nacheinander Militärflieger auf ein und demselben außerdeutschen Boden, beide ziemlich auf einer Strecke, niedergehen, so bedarf es bei der Hitzköpfigkeit der Franzosen nicht viel Hetzerei in der Presse, um flammende Aufregung hervorzubringen. Die deutsche Regierung darf nicht versäumen, nun solchen Vorfällen vorzubeugen. Die Führer dieser Fahrzeuge aber müßten weniger leichtsinnig steuern; sie leisten mit ihren Unvorsichtigkeiten dem Reiche keinen Dienst.
Nancy, 22. April. Ein mit zwei deutschen Offizieren besetzter Doppeldecker ist heute morgen um 7,45 Uhr nördlich von Arracourt gelandet. Der Führer des Flugzeuges, Hauptmann v. Dewall, der Leiter des Flugübungsplatzes Darmstadt, erklärte, er sei in Darmstadt zu einem Flug nach Metz aufgestiegen und habe aus Mangel an Benzin landen müssen, wobei er geglaubt habe, sich über deutschem Gebiet zu befinden. — Einzelheiten über den Vorgang besagen: Heute früh um 7,30 Uhr landete in Arracourt, ungefähr S Kilometer von der Grenze entfernt, ein deutscher Doppeldecker. Das Flugzeug, Modell Heller, hatte einen Motor von 70 Pferdekräften. Es war bemannt mit 2 Offizieren, von denen der eine die Uniform eines Fliegerhauptmanns und der andere die Uniform eines Jnfanterieleutnants trug. Das Flugzeug hatte ungefähr 6 Kilometer französisches Gebiet überflogen. Die Offiziere erklärten, daß sie um 5 Uhr morgens in Darmstadt mit der Bestimmung nach Metz abgefahren seien. Sie hätten in dichtem Nebel in der Umgebung ron Dieuze die Richtung verloren und erst bei ihrer Landung und nach Befragen der Bewohner erkannt, daß sie sich auf französischem Gebiet befänden. Der Unterpräfekt von Luneville prüfte die Angaben über die von dem Flugzeug zurückgelegte Strecke und verhörte die beiden Offiziere. Drei Fliegeroffiziere aus Toul, Epinal und Verdun und ein Flie
gerhauptmann aus Nancy sind von der Militärbehörde an Ort und Stelle geschickt worden. Die Zivil- und Militärbehörden erkennen übereinstimmend als Grund der Landung höhere Gewalt an. Nach den gegenwärtig vorliegenden Ergebnissen der Untersuchung dürfte der Doppeldecker imstande sein, heute nachmittag den Flug fortzusetzen. Instruktionen sind an unseren Botschafter in Berlin gesandt worden, durch die er aufgefordert wird, die ganze Aufmerksamkeit der kaiserlichen Regierung auf die wiederholten Landungen von deutschen Ballons und Aviatikern in Frankreich nahe der Grenze hinzulenken und auf die ernsten Unzuträglichkeiten, die aus diesen bedauerlichen Zwischenfällen entstehen könnten. Cambon ist beauftragt worden, den deutschen Reichskanzler zu ersuchen, Maßregeln zu treffen, um Wiederholungen derartiger Ereignisse zu vermeiden. Im übrigen sind Besprechungen eingeleitet worden, zwischen den beiden Regierungen so schnell wie möglich zu einem Uebereinkommen zu gelangen zur Festsetzung der Regeln, die bei den Schwierigkeiten anzuwenden sind, die zwischen den Regierungen infolge der Luftschiffahrt entstehen könnten. Eine Militärkommission hat die Offiziere untersucht, der Apparat wurde von französischen Fliegeroffizieren photographiert, visiert und ausgemessen, auch viele französische Journalisten photographierten den Apparat. Die Offiziere mußten ihre Karten und Papiere abgeben, erhielten sie aber wieder zurück, als sie die Erlaubnis zur Abreise bekommen hatten, auch durften sie erst dann Benzin einfüllen. Für die Flurschäden mußten sie 70 Franks bezahlen. Die deutschen Offiziere haben wiederholt den Korrespondenten des „Deutschen Telegraphen" gebeten, er möchte in der deutschen Presse erklären, daß die Aufnahme in Arracourt die denkbar liebenswürdigste- und entgegenkommendste gewesen sei.
- Paris, 22. April. Die deutsche Botschaft hat in der Angelegenheit der Landung deutscher Fliegeroffiziere bei Arracoutt unverzüglich die erforderlichen Schritte unternommen. Der Ort Arracout liegt ungefähr 3 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.
Paris, 22. April. Der deutsche Militärzweidecker ist nachmittags um 5 Uhr (nach deutscher Zeitmessung 6 Uhr) mit Erlaubnis der französischen Behörden zum Rückflug über die Grenze wieder aufgestiegen und um 7 Uhr in Metz eingetroffen.
Berlin, 22. April. Wie die Nordd. Allg. Ztg. hört, sind wegen der verschiedenen Fälle von Landungen deutscher Luftschiffe jenseits der Grenze bereits von der deutschen Regierung Maßregeln eingeleitet worden, um solche Vorkommnisse gänzlich zu verhüten. Mit der französischen Regierung sind Besprechungen im Gange, die die Schaffung eines Abkommens zur Regelung der Luftschiffahrt bezwecken.
Bezugspreis: In der Stadt mit Trägerlohn Mk. 1.25 vierteljährlich, Post« bezugSprviS für den OrtS- und Nachbarortsverkehr Mk. 1.20, im Fernvenehr Mk. 1.30. Bestellgeld in Württemberg 30 Pfg., in Bayern und Reich 42 Pfg.
Stadt, Bezirk und Nachbarschaft.
Calw. 23. April 1913.
—I. Die diesjährige Hauptversammlung des Fremdrn- verkehrsvereins wurde gestern abend im Easthof zum Adler abgehalten. Sie wurde vom Vereinsvorsitzenden, Stadtschultheiß Conz, geleitet. Er begrüßte die Erschienenen mit freundlichen Worten und gab einen Rückblick auf das Vereinsjahr 1912, in welchem der Tätigkeit des Vereins durch die ungünstige Witterung eine ergiebige Entfaltung habe versagt bleiben müssen. Nichtsdestoweniger könne das festzustellen sein, daß ein gewisser Zugang an Fremden aus der Gegend um Karlsruhe, Stuttgart usw. unserem Tal zu in Bewegung sei, was wohl der Reklame des Vereins zu danken sei. Auch die übliche Iahressammlung unter der Einwohnerschaft fiel aus im letzten Jahre, in der Hoffnung, daß diese zarte Rücksicht auf die Geldbeutel der Bevölkerung sich Heuer um so glänzender lohnen wird! Aber so ganz ohne Arbeit verlief das Jahr keineswegs. Die Stuttgarter Ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr hat auch von der hiesigen Vereinsleitung viel vorbereitende Arbeit gefordert. Die Ausstellung war von 70 000 Personen besucht und warf einen Ueberschuß von 8000 -K ab, die der Württ.- Hohenzollersche Landesverein für Fremdenverkehr zurücklegte zur entsprechenden Verwendung auf das 25jährige Regierungsjubiläum des Königs im Jahre 1916. Der Calwer Verein bezahlt an den Landesverein 75 -4t Jahresbeitrag; sie sind ein außerordentlich gut angelegtes Kapital im Hinblick auf die umfassenden, erfolgreichen Bemühungen des Landesvereins, Württembergs und Hohenzollerns Fremdenverkehr zu steigern. Herr Lonz streifte in diesem Zusammenhänge auch die abfällige Kritik, die da und dort über die Ausstellung laut wurde, er tröstet sich aber damit, daß diese Kritik zumeist nur von solcher Seite kam, die nichts oder fast nichts an der Sache bezahlte. Calw hätte besser und eindrucksvoller vertreten sein dürfen, aber einmal war es die von den meisten ausstellenden Städten beobachtete Zurückhaltung der Ausstellung gegenüber, die auch Lalw zögern ließ, dann aber hätte eine entsprechende bildnerische oder figürliche Vertretung — viel mehr Geld gekostet. Des Vorsitzenden Ausführungen löste der Rechner des Vereins, Paul Eeorgii, mit Bekanntgabe des Rechnungsabschlusses von 1912 ab. Gebucht sind an Einnahmen 1170 -4t, an Ausgaben 1060 -4t; darunter für Zeitungsanzeigen in auswärtigen Zeitungen allein 834,30 -4t. Stadtpfleger Dreher verlas anschließend daran die Aufstellung des Voranschlags für 1913, in welchem 1100 -4t Einnahmen laufen und 365 -4t mehr Ausgaben als Einnahmen. Unter den Ausgaben ist auch eine Summe von 400 -4t zum Druck eines neuen Führers von Calw enthalten. Die Nachfrage nach einem solchen
35 ) 3m Sturm genommen!
Roman aus den Freiheitskriegen 1813—1814.
Von H. E. Jahn.
Ihr Herz jubelte bei den Tönen dieses bekannten, von dem Studenten Lange gedichteten Liedes hell auf, denn sie glaubte, unter all den fremden Stimmen die Stimme ihres Geliebten Hans Hoya herausgehört zu haben. Anders wirkte das Brausen des Ostwindes auf Bosquet. Der Sturm erweckte aufs neue all die furchtbaren Szenen, all das bittere Elend aus den Schneewüsten Rußlands in seiner Erinnerung. Er sieht die Kämpfe an der Beresina, sieht den entsetzlichen Rückmarsch der Brigade Dendell, Badenser, nach Studienka.
Während Helene hinabblickte in das weite, in das Schwarz der Nacht versinkende Land, dachte sie, wenn sie nur entfliehen könnte, hinaus zu den Landsleuten. Aber dann sah sie die Mauern, Gräben, Palisaden, Verhaue, die ringsum die Festung umgaben, und hörte bald näher, bald ferner die Anrufe: „Prenez garde, sentinelles!", übertönt oft durch ein scharfes: „Qui vive!" Ab und an blitzte auch bei den Vorposten ein Schuß auf und zog einen roten Streifen durch die Dunkelheit.
De Bosquet sah die Unruhe des lieblichen Kindes und sagte, ihre kleine, bebende Hand erfassend, herzlich: „Made
moiselle, seien Sie nicht traurig, Sie sind so jung, und vor Ihnen liegt noch das ganze Leben. Ich möchte mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, aber glauben Sie mir, Sie werden keinen besseren Freund auf Erden finden als mich. Kein Vater kann sein Kind mehr lieben und es besser mit ihm meinen, als ich mit Ihnen." Da Helene, still weinend, schwieg, fuhr er sanft fort: „Sehen Sie, meine Haare sind grau, und ich bin ein alter Mann. Ich habe niemanden auf der Welt, der mich liebt und bei meinem Tode weint. Meine Brüder sind tot; der eine fiel bei Austerlitz: den zweiten, er war der jüngste und der Liebling seiner Eltern, habe ich in die eisigen Fluten der Beresina schleudern sehen. Er sah mich am Ufer stehen, reckte die entkräfteten, wunden Hände nach mir aus, und ich konnte ihm nicht helfen, halb erfroren und gelähmt, wie ich war. Auch meine Frau ist tot, sie starb -jung an gebrochenem Herzen. Wir hatten ein Töchterchen, unsere kleine Polanthc. Sie glich Ihnen, nur daß sie dunkelbraune Locken hatte. Es war in den Jahren 1793 und 1794, wir standen gegen die Chouans in der Vendee und der Bretagne unter Waffen. Ich hatte daher Frau und Kind in Nantes sicher untergebracht, wenigstens glaubte ich es. In der Stadt aber war ein junger Sousleutnant Loupblanc, und diese Kanaille wußte sich in das Herz meiner Tochter einzuschleichen. Sie war damals erst sechzehn Jahre, und ihr Herz war wie ein sonniger Garten. Da kam dieser Bösewicht und schleuderte die Brandfackel in diesen schönen Eottesgarten, daß er versengt wurde. Ich stand im Felde,
umringt von Tod und Gefahr, und wußte nicht, daß der Bösewicht mir mein Kind stahl. Er war eine Kreatur des Blutmenschen Carrier, der so viele Gefangene Chouans in dem Wasser der Loire ertränken ließ, zusammengedrängt in eigens dazu gebauten Schiffen, deren Böden aus beweglichen Klappen bestanden. Ueber 10 000 dieser Unglücklichen fielen dem Blutdurst dieses Massenmörders, eines früheren Rechtsanwaltes, anheim. Und dort, wo der Gönner Loupblanc' all die Tausende hinschlachtete, in den Wellen der Loire, hat mein unglückliches Kind seine Schande verborgen und sein armes, krankes Herz zur Ruhe gebracht." Die Stimme des Greises zitterte, er ballte krampfhaft die Hände und drückte sie fest auf das Herz.
Helene erfaßte voll inniger Teilnahme die Hand des Veteranen, während Helle Tränen ihre bleichen Wangen niederrannen. „Armer, armer Mann! Armer, armer Vater!" hauchte sie weich.
„Ja, armer, armer Vater!" rief Bosquet, sich stolz aufrichtend. „Aber eine innere Stimme sagt mir, ich werde den Schurken noch finden auf dieser Welt, um Abrechnung mit ihm zu halten! Und verkröche er sich in den fernsten Winkel der Erde, Gott findet ihn doch und wird ihn dahin führen, wohin er ihn haben will. Denn Gott hält immer sein Gericht auf dieser Welt, und ich klage ihn an vor dem Throne des Höchsten!" Der alte Mann hatte den Federhut abgenommen, seine grauen Haare flogen im Winde, und