Mittwoch.

11. März 1913.

Zweites Blatt zu Nr. 59.

Aus Höhen und Tiefen.

Fragen.

Mein Kind, sprich: was heißt leben? Genießen heißt es nicht.

Es heißt: stets weiter streben Und treu sein seiner Pflicht.

Mein Kind,und was heißt: lieben?

Nicht ist's ein süßer Wahn.

Es heißt: im Dienst sich üben,

Mehr geben, als empfahn.

Mein Kind, und was heißt: sterben?

Nicht heißt es untergehn.

Es heißt: den Himmel erben,

Es heißet: auferstehn.

Marie Lalm.

Panamakanal und Matthäus-Evangelium.

" Wenn bis auf den heutigen Tag der mittel­amerikanische Kanal, der den Atlantischen und Stillen Ozean mit einander verbinden soll, noch nicht geschaffen worden, wenn erst im Lauf dieses Jahres der Panama­kanal fertiggestellt werden soll, fast genau 400 Jahre nach der Entdeckung des Stillen Ozeans durch Balboa (25. September 1510), so ist an dieser langen Verzöge­rung eines der großartigsten Kulturwerke aller Zeiten nicht zum wenigsten der Evangelist Matthäus schuld, der freilich nie geahnt haben kann, in wie bornierter Weise eines seiner schönsten Worte zu kulturhemmenden Zwecken mißbraucht werden würde.

Der Plan zum mittelamerikanischen Kanal wurde nämlich schon wenige Jahre nach Balboas Entdeckung zum ersten Male ausgesprochen, und zwar durch keinen Geringeren als Fernando Cortez, den großen Bezwinger Mexikos, der in einem vom 15. Oktober 1524 aus der Stadt Mexiko datierten Briefe an Kaiser Karl V zum ersten Male den Gedanken aussprach, man solle, wenn eine natürliche Wasserverbindung zwischen beiden Ozea­nen in mittleren Breiten nicht gefunden werden solle, auf andre Weise" künstlich nachholen, was die Natur versäumt habe. Der Kanalgedanke, der schon im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts bald an Panama, bald an Nikaragua, bald an Mexiko (Isthmus von Tehuan- tepöc) anknüpfte, gewann alsbald so viel Leben, daß eine ganze Reihe von Expeditionen von Spanien nach Mittelamerika gesandt, um die günstigsten Stellen für einen Kanal ausfindig zu machen. Karl V wandte zeitlebens dem mittelamerikanischen Kanal sein Inter­esse zu. Auch sein Sohn und Nachfolger Philipp II war in den ersten Jahren seiner Regierung ein Freund

des Gedankens und entsandte gleichfalls noch eine Ex­pedition von Ingenieuren nach Mittelamerika. Mit einem Male aber, etwa im Jahre 1567, wandelte sich seine Stellung vollständig. Welches die wahren Ur­sachen des Gesinnungswechsels waren, ist nicht zu er­kennen. Vielleicht waren die Ingenieure mit wenig ermutigenden Nachrichten zurückgekehrt; wahrscheinlicher ist es, daß der mißtrauische Herrscher politische Besorg­nisse empfand und vermeinte, ein Kanal werde die mit Spanien konkurrierenden Seefahrer-Nationen, vor­nehmlich die Engländer, Franzosen und die abtrün­nigen Holländer in unerwünschter Weise nach Mittel­amerika ziehen und den Besitz der Spanier bedrohen. Nachdem diese politischen Bedenken sich festgesetzt hatten, wurden jedoch religiöse Skrupel als Vorwand benutzt, um die Abwendung von dem Kanal-Plan zu begründen.

Philipp befragte nämlich die Dominikaner-Mönche um ihre Meinung über den mittelamerikanischen Kanal. Diese zogen ihrerseits die Bibel zu rate und erklärten den Kanal-Gedanken für sündhaft. Zum Beweise zogen sie einOber-Gutachten" des Evangelisten Matthäus an, bei dem im 6. Verse des 10. Kapitels das be­rühmte, schöne Christusmort steht:Was nun Gott z u s a m m e n g e f ü g e t hat, das soll der M ensch nicht scheide n."

Auf Grund dieser Dominikaner-Belehrung ver­bot Philipp II dann in der Tat jede weitere Erörterung des Kanalplans. Ja, er drohte Jedem, der von dem mittelamerikanischen Kanal auch nur sprechen würde, die Todesstrafe an. Noch nach Philipps Tod, im Jahre 1615, wurde ein amerikanischer Kreole, der den Ge­danken einer Durchstechung des Isthmus wieder auf­nahm, eingekerkert und entging nur mit knapper Not der Hinrichtung.

Länger als zwei Jahrhunderte war der Kanal- Plan vollkommen begraben; erst seit dem Jahre 1771 erwacht er langsam wieder zu neuem Leben. Und das hat mit seinen Worten der Evangelist Matthäus getan-! _

Bilder aus dem heimischen Vogelleben.

Von Dr. K. Floericke, Eßlingen.

Lgue Märztage! Rings um das Dörfchen herum prangt das erste Grün, überall sickert und purzelt es von rin­nenden Wassern, während auf den Höhen, in den Rinnen und Rissen, in Schluchten und Furchen der Schnee eine un­definierbare kränkliche Farbe angenommen hat und den Wald dazwischen kohlschwarz erscheinen läßt. Das streifige Gewölk erscheint regenschwanger, die weichliche Luft liegt schwer und ermüdend auf allen Gliedern.

Was die Feldlerche als Sängerin für den Ausgang des Februar bedeutet, das ist die H e id e l e r ch e als Frühlings- verkündtgerin für die rauheren Gebirgsgegenden am Ende des März. Sie kann's ebenso gut, wenn auch in anderer Manier. Ueber den ödesten, nur mit Krüppelkiefern bewachsenen Heideflächen erhebt sie sich flötend und trillernd mit dem

ersten Morgengrauen und steigt beinahe noch höher zu den Wolken empor als ihr Mühmchen. Leise, leise hebt sie an, dann klingen die kleinen Silberglöckchen, die in ihrer sanges­kundigen Kehle versteckt zu sein scheinen, lauter und lauter, um endlich wieder ckecrL8ceu(ü> zu verschwimmen. Die ganze melancholische Poesie einer weiten Heidesläche ist in ihrem Liede ausgedrllckt. Oft habe ich sie auch in sternenheller Nacht gehört, wie ihr Lied zu den alten Hünengräbern unten her­abtönte, gleich als beklage sie den Tod der seit Jahrhunder­ten im Erdenschoße schlummernden Helden. Wer könnte das auch besser als die kleine Heidelerche mit ihrer süßen, weh­mütigen Stimme?

Der Vogelzug ist jetzt schon in vollem Gange und fast jeder Tag bringt neue Ankömmlinge. Mit Jubel wird von groß und klein Gevatter Storch begrüßt, wenn er laut klap­pernd wieder auf dem altvertrauten Scheunendache steht oder gravitätisch auf der Wiese herumstolziert, um nach Fröschen oder Junghäschen Ausschau zu halten Ein alter Be­kannter ist uns auch das Hausrotschwänzchen, das sein fröhliches Treiben oben auf den Hausdächern entfaltet, was aber nicht gerade sein musikalisches Talent zu fördern scheint, denn der Schlußsatz in seinem kleinen Gesänge klingt gerade wie das Knarren einer verrosteten Wetterfahne, oder als ob man einen alten Eisendraht durch eine Kneipzange gerade zöge. Das elegante Schwarzkehlchen hat sich wieder an der jungen Kiefernschonung auf dem kahlen Berg­hange eingefunden, und auf Feld und Flur treiben sich durch­ziehende Wiesen pieper in überraschender Zahl herum. Bussard und Turmfalke sind auch schon wieder in der Heimat erschienen und auf den Teichen sind jetzt die ver­schiedensten Entenarten anzutreffen.

Auch die Reiher haben nun schon wieder ihre Horste bezogen, und es gewährt ein eigentümliches Bild, diese lang­beinigen Gesellen in größerer Zahl stocksteif auf den alten Bäumen herumstehen zu sehen. Der Wald widerhallt am Tage von dem Trommeln unermüdlicher Spechte und in der Nacht von den heulenden Rufen verliebter Eulen. Am Wasser ist allabendlich das Plätschern und Quaken der Enten weithin wahrnehmbar, denn die Stockente feiert jetzt ihre Hochzeitsfeste. Auch so manche Singvögel tragen schon eifrig zu Neste, so namentlich Singdrosseln und Amseln. Kurz, Frühlingswehen, freudiges Schaffen und Werden geht durch die ganze, ewig junge Natur, die nun bald aus dem langen Winterschlaf« völlig erwacht sein wird, zu neuer, froher, schöpferischer Tätigkeit._

Reklameteil.

Für die Schriftleitung verantwortlich: Paul Kirchner. Druck und Verlag der A. Oelschläger'schen Buchdruckerei.

i) 3m Sturm genommen!

Roman aus den Freiheitskriegen 18131814.

Von H. E. Jahn.

Da dröhnte Waffenlärm auf dem Flur, die Tür ward aufgerissen, und herein drängten struppige Gesellen. Wäre ein grausiges Gespenst vor Soulard plötzlich aus der Erde eemporgestiegen, er hätte nicht entsetzter sein können, als beim Anblick dieser wilden Krieger.

Oh, quel Malheur! Je suis perdu! J'ai etä cosa- que!" heulte er erbebend. Sein wächsernes Gesicht wurde erdgrau, seine rollenden Augen starr und leer, und noch schneller, als er vom Stuhl emporgesprungen war, fuhr er unter den Tisch.

Lachend rissen die Kosaken den Feigling aus seinem Versteck hervor, schleppten ihn auf die Straße und banden ihn an eines der Pferde an. Dann saß ein Krieger auf und führte den Gefangenen durch die Straße dein Lands­berger Tore zu. Die Gassenjungen gaben ihnen johlend das Geleite.

Ueberall durch die Straßen hallte der Generalmarsch, die französischen Soldaten auf die Sammelplätze rufend, überall knatterte das Kleingewehrfeuer, untermischt mit ver­einzelten Kanonenschlägen.

Wie ein Lauffeuer ging es von Mund zu Mund: Tscher- nitsches hatte, die Armeeabteilung des Generals Poin^ot umgehend, Pankow mit seinen kaum dreitausend leichten

Reitern erreicht, von hier aus hatte er die Keckheit, den Marschall Augereau, der über sechstausend Mann und vier­zig Geschütze verfügen konnte, zur Räumung Berlins auszu­fordern. Eine Abteilung Dragoner, die ausgesandt wurde, die Russen zu vertreiben, wurde durch Oberst Tettenborn mit einem Pulk Kosaken so unwiderstehlich angefallen, daß alles überritten wurde. Nun drangen die Sieger mit den Fliehenden zugleich durch das Oranienburger-, Landsberger-, Bernauer- und Frankfurter Tor ein. Die meisten der ver­wegenen Steppenreiter kamen nur bis zum Alexanderplatz, wo Infanterie und Artillerie das weitere Vorkommen hemmte. Einzelne Reiter aber und kleinere Schwärme der Kosaken sprengten mit äußerster Todesverachtung bis in die Mitte der Stadt, wo sie mit Hilfe der freiwilligen Jäger viele Franzosen gefangen nahmen. Aus der Wohnung des Geh. Rats Dr. Heim holten sie einen französischen Obersten als Gefangenen heraus; und in dem Beckschen Hause in der Leipziger Straße konnte sich ein General nur dadurch retten, daß er mit seinen Pistolen aus dem Fenster schoß. Auf dem Schloßplatz hatte ein einzelner Kosak die Verwegenheit, mitten durch ein ganzes Bataillon Infanterie mit eingeleg­ter Lanze zu preschen; und die sonst so beherzten Soldaten sprangen vor dem rasenden Kosaken bestürzt zur Seite.

Die französischen Bataillone sammelten sich indessen, be­setzten die Plätze und Straßen. Die Russen wurden aus der Stdat gedrückt, wobei auch mehrere Berliner Einwohner ihr Leben verloren, und zogen sich auf Kanonenschußweite vor die Tore zurück. Auch von hier versuchten die Franzosen sie zu vertreiben, doch die herausgesandten Abteilungen wur­

den von den Husaren und Dragonern Tschernitschefs und den Kosaken Tettenborns übel zugerichtet. Alsbald wurden alle Tore verrammelt.

Die grauen Schneewolken hatten sich zu schwarzen Mas­sen verdichtet, Hagel prasselte herab, und in das Krachen der Kanonen und Musketen mischte sich das Dröhnen des Donners. Die Kosaken hatten Berlin verlassen, ihnen hatten sich die meisten freiwilligen Jäger angeschloffen, sowie meh­rere junge Leute, die sich nach Pommern oder Schlesien be­geben wollten, um dort in die Regimenter cinzutreten.

Am Abend kam der Schlächtermeister Emil Fischer, ein Freund des alten Rentier Lange, zum Besuch. Er war ein dicker Mensch, mit großen, runden Froschaugen, die immer wie erstaunt in die Welt sahen. Er sprach langsam im breitesten Berliner Dialekt und ließ so leicht keinen anderen zu Wort kommen. Fischer pustete und riß die runden Augen groß auf und begann:Na, det is een sauberer Zimt! Vor drei Dagen ha'ck noch jelacht iber dedeutsch-russischen Dol­metscher", die se in de Buchhandlungen ausstellten, un nu sind se wirklich da de Wudkibrider un Talchlichtfresser. Un mein Junge, der Fritz, is mit ihnen jeloofen! So eene dusslige Kreete! Könnt' es so scheen Ham, bei Muttern achtern Ofen, un macht solche Zicken! Aber det war imma so'n nichtsnutziger, jelber, naseweeser Jrinschnabel. As ick ihn neilich frage, von wat der Pastor in de Kirche jesprochen hat, sagt er von Adam und Eva; det jinge ihn aberst nichts an, det würn kecne Berliner. Warum denn nich, du dummer Bengel! sage ick. Na, Vota, meent er, da wachsen doch keene Feijeu! Nee, det hat er neulich jezeigt, det er nich feige