Samstag,
Zweites Blatt zu Nr. 56
8. März 1913.
Aus Höhen und Tiefen.
Die Nonne.
Sie führten mich an den Altar,
Weil dir mein Herz gehört;
Sie schnitten mir mein wallend Haar,
Weil's deinen Sinn betört,
Und hüllten Nacken und Gesicht Mir tief in Schleier schwarz und dicht.
Sie pred'gen mir von ihrem Gott,
Ich aber glaube dich;
Sie lieben den Herrn Zebaoth,
Ich aber liebe dich;
Sie tragen Kreuz und Skapulier,
Ich eine Locke schwarz von dir;
Und singen sie von Erabesruh,
So schleich ich aus dem Chor:
Wann endlich, endlich kommest du Und sprengst das Gittertor?
Ach, wieder schied der Sonne Licht,
Und wieder, wieder kommst du nicht.
Wo du auch weilst, geliebter Mann,
Gewaltig ruf ich dich;
Will mit dir teilen Fluch und Bann,
Und sterben mit dir will ich.
Ach eile, haste her zu mir Und nimm mich selig fort mit dir.
Horch, hallt's nicht von fern wie Rossestritt? Schallt's nicht wie Schwerterklang?
Und sieh, wer jagt im tollen Ritt Herab vom Bergeshang?
Er ist's, er ist's! O Seligkeit!
Nun schwindet all mein Weh und Leid.
Ihm grünt im Haar der Eichenkranz,
Es flammt sein Stahl.
Sei mir gegrüßt im Siegesglanz,
Gegrüßt sei, mein Gemahl!
Schon weicht das Tor, schon bricht das Erz;
Zieh mich aufs Roß, nimm mich ans Herz! — Verstummt sind Bittgesang und Chor,
Der Abendgruß verhallt.
Am grünummoosten Gittertor,
Da lag sie stumm und kalt;
Der Schleier wallt im Mondenlicht Ums bleiche Totenangesicht.
Dahn.
Nur vierhundert Mann Infanterie und sechshundert Reiter mit neun Geschützen überschritten wieder die russische Grenze. Schlotternde Jammergestalten waren es, in stinkende, schmutzstarrende Lumpen gehüllt, umhangen von Tierhäuten, Pelzen, Weiberröcken. Ein toller Maskenzug des Todes! „Mit Mann und Roß und Wagen, so hat sie Gott geschlagen!" Dieser grausige Anblick dämpfte den frechen Uebermut Soulards, doch als dann die Kunde von den gewaltigen Rüstungen Napoleons kam, wie er fünfhundertdreißigtausend Konskribierte ausgehoben habe, da schwoll dem Franzosen wieder der Kamm. Gestern nun, als ihr Vater, sie und Monsieur Soulard beim Kaffee im Eßzimmer saßen, hatte das gelbe Männchen, lebhaft gestikulierend, zu prahlen begonnen: „Ah bah! Ma belle France seien nix perdue! Le grand, invincible Empereur wird macken eine imposante Armee 3 Paris und wird kommen, zu vernichten alle seine Ennemis. Oh, er sein colossal! Er sein superbe! Seine vieux Marechals und E?nerals es- pagnols!"
Da klang vom Hofe die schrille Stimme des Fusel-Ede dazwischen, die bunten Tiraden des kleinen Franzosen frech durchreißend: „Lumpen! Lumpen!"
Monsieur Soulard runzelte die Stirn und biß sich nervös auf die schmalen Lippen. „Die Garde d'honneur —"
„Papier! Papier!" gellte Ede dazwischen.
„Und die Reste der großen Armee —"
„Knochen! Knochen!" Lbertönte ihn die Stimme vom Hose her.
„Und die Nationalgarden und Konskribierten werden
Der braune und der weiße Totenkopf. Aus Bonn wird der Köln. Ztg. erzählt: In meiner Familie befindet sich ein Kruzifix, das nachweisbar schon mehrere 100 Jahre alt ist. Der fein geschnitzte Lhristuskörper ist vom Alter tief gebräunt und ebenso der Totenkopf, der wie gewöhnlich sich auf dem Postament zu Füßen des Christuskörpers befindet. An diesen Totenkopf knüpft sich eine höchst merkwürdige Erinnerung an die Kriege, die vor 100 Jahren geführt wurden. Damals waren die Orte hier am Rhein gar sehr mit Einquartierung geplagt, und je nach den Wechselfällen des Krieges waren es bald Franzosen, bald Deutsche, bald Kosaken, die ins Quartier kamen. Letztere waren die Gefürchteten, sie stahlen, was nicht niet- und nagelfest war, und noch heute heißt es hier am Rhein: sie hausten „wie die Kosaken". So bekamen auch meine Großeltern, die damals in einem Ort am Rhein wohnten, einmal einen Kosaken ins Quartier. Man hatte wohlweislich alles Wertvolle vorher entfernt. Als die Kosaken wieder abgezogen waren, fehlte der Totenkopf am Kruzifix. Nachdem alles Suchen vergebens gewesen war, kam man auf den wohl richtigen Eeedanken, daß der Kosak, durch irgendeinen Aberglauben getrieben, ihn mitgenommen. Der Totenkopf blieb verloren, und nun ließen meine Eltern einen neuen schnitzen, der natürlich jetzt durch seine Helle Farbe von dem Christuskörper abstach. Die Wo- gen des Krieges gingen hin und her, Schlachten wurden geschlagen, und wieder bekamen meine Großeltern eines Tages Einquartierung, diesmal aber von einem deutschen Soldaten. Als der sich gestärkt und sich seine Pfeife angezündet hatte, gingen seine Augen neugierig im Zimmer umher, und nun fiel es meinen Großeltern auf, daß seine Blicke immer wieder nach dem Kruzifix zurückkehrten, bis er schließlich die Frage stellte: Wie kommt es, daß der Totenkopf so viel Heller ist als der Christus? Nun erzählten ihm meine Großeltern das Vorgefallene und daß wahrscheinlich ein Kosak den Totenkopf mitgenommen. Da greift der Soldat in die Tasche und holt einen braunen Totenkopf hervor, steht auf und vertauscht ihn mit dem neuen am Kruzifix, und meine Großeltern erkannten aufs beestimmteste, daß es der verloren gegangene Totenkopf war, von dem nun der Soldat meinen staunenden Großeltern erzählte, daß er ihn auf dem Schlachtfeld einem toten Kosaken abgenommen, der ihn an einer Schnur um den Hals getragen. So kam der echte Kopf wieder an seinen Platz, auf dem er sich nunmehr wieder seit 100 Jahren befindet.
Der größte Bahnhof der Erde. Noch sind die großen Arbeiten am Panamakanal nicht ganz zu Ende, und noch erwartet die Welt mit Spannung die Botschaft, daß dieses Toor der Meere endlich der Schiffahrt offen sei, da kommt schon die Kunde von einem neuen Wunder der Technik zu uns über den Ozean, die Nachricht, daß in Neuyork der
sich vereinigen zu einer kompakten Masse, und la Victoire wird sein bei unseren Musketen und Canons —"
„Altes Eisen!" brüllte Ede wieder.
„Abah! Die Elevation von die Peuple, auf die das deutsche Mensch hoffen, sie werden sein vor die Visage von unserm grand Empereur wie eine Maus von die Katz. Unsere courageux Soldats haben . . ."
„Hasenfelle!" heulte die Branntweinstimme vom Hofe dazwischen.
„Haben besiegt die Oesterreich, die Spanien, die Preußen, die Rußland und die heiße Aegypten und sie werden überwinden alles — tout! — was vor ihre —"
„Flaschen! Flaschen!" schrie Ede.
„Bajonettes kommt. Uraa! llraa! Vive l'Empereur! Vive la Fränce!"
Die Wut des gallsüchtigen Franzosen über die zufälligen Zwiscyenrufe des alten Lumpensammlers hatte sie fast zum Hellen Lachen gebracht. Heute morgen nun, als sie ihrem Vater die Morgensuppe brachte, war er vor ihr stehen geblieben und hatte sie scharf angesehen. „Höre einmal, Mädchen," hatte er unsicher zu sprechen angefangen: „Hm — es ist so eine eigene Geschichte! — was meinst du? hm! — wenn du dich bald verheiratest?" Als sie fast vor Ueberraschung das Tablett hatte fallen lasten, hatte er begütigend gemeint: „Brauchst nicht so zu erschrecken! Hm! Es soll ja heute noch nicht sein! Aber du kannst es dir einmal überlegen." Dann, nachdem er seine Suppe hastig ausgelöffelt hatte, war er aufgeregt davongegangen, in der Richtung nach den Linden zu.
größte Bahnhof der Erde seiner Vollendung entgegengeht. Von vornherein war man sich darüber klar, daß der neue Bahnhof von riesenhafter Größe sein müsse, um den zu erwartenden Ansprüchen auf längere Zeit zu genügen. Dafür aber war Raum und nochmals Raum erforderlich, und gleich hier fingen die Schwierigkeiten an. Man mußte ein Dutzend Häuserviertel, die an den bestehenden Bahnhof angrenzten, aufkaufen, und das erforderte bei den Erundstückspreisen im Mittelpunkt Neuyorks, zusammen mit den Kosten der Elektrifizierung und den Baukosten des neuen Bahnhofsgebäudes, Ausgaben, die selbst diese reiche Gesellschaft nicht ohne Besorgnis wagen konnte. Da unterbreitete nun ein Oberingenieur Wilgus dem Präsidenten der Gesellschaft einen Plan für den Bahnhofsbau, dessen Wert man sofort erkannte, und den man ohne weiteres annahm. Wilgus ging, nach einem packenden Aufsatz in den Technischen Monatsheften (Stuttgart), davon aus, daß auf jedem Grundstück sozusagen drei Rechte ruhen: das Recht auf das Grundstück selbst, das Recht auf die Erde darunter und das Recht auf den Luftraum darüber. Bisher hatte man bei den Gleisanlagen der Bahnhöfe nur daran gedacht, das Bodenrecht zu verwerten. Das stellte den ganzen Grund in den Dienst des Bahnbetriebs, und dieser Betrieb allein hätte im vorliegenden Fall die ungeheuren Kosten der Anlage aufbringen müssen. Wilgus aber wollte auch die beiden andern Rechte nutzbar machen. Er schlug vor, an der Stelle des alten ein neues, größeres Bahnhofsgebäude zu errichten, darin aber nur Eingangshallen mit Schaltern und Warteräumen unterzubringen. Die großen Bahnsteighallen, die sich an das Gebäude anschlossen, die ganzen Gleisanlagen usw. aber wollte er unter die Erde verlegen, um sie zu überdachen, die jetzt durch die Gleisanlagen zerschnittenen Straßen wiederherzustellen und auf dem riesigen Gewölbe, unter dem die Gleise lagen, Hotels, Kaufläden, Theater, Klubs usw. zu errichten. Die Miete dieser Häuser sollte die Anlagekosten verzinsen und tilgen helfen. Und so geschah's. Die rechnerische Prüfung des Objekts ergab seine Rentabilität. Die Stadt erteilte im Juni 1003 die Bauerlaubnis. Die Frage der Elektrifizierung, die ja überhaupt erst die unterirdischen Anlagen möglich machte, wurde nach eingehenden Studien zugunsten des Eleichstromsystems (mit Leitungsschiene) gelöst, und nun begannen die Bauarbeiten auf dem felsigen Areal, das man inzwischen durch Erundstückskäufe auf die notwendige Größe von 0,28 Quadratkilometer gebracht hatte. Noch im Laufe dieses Jahres wird der Riesenbau dem Betrieb übergeben werden.
Warum nehmen Vögel Steine auf? Bekanntlich verschlucken körnerfressende Vögel regelmäßig Sand und Steinchen, die im Magen zur Zerreibung hartschaliger Sämereien dienen müssen. Zu dieser Tatsache berichtet uns ein bekannter Ornithologe ergänzend: Auch die Weichfresser benötigen von Zeit zu Zeit Sand oder Erde, was der Vogelpfleger nicht vergessen sollte, falls er vielleicht Torfmull oder Fließpapier als Bodenbelag verwendet. Freilich brauchen sie diese anorganischen Körper nicht zur Unterstützung der Magenfunktion, sondern aus einem anderen Grunde, der wohl auch bei den Körnerfressern neben dem bereits angeführten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die Tiere nehmen nämlich meiner unmaßgeblichen Ansicht nach diese Steinchen und Erdpartikelchen auf, um ihr Blut dadurch mit den nötigen anorganischen Nährsalzen zu versorgen.
Da war Monsieur Soulard in das Zimmer hereingeträllert, geschniegelt und gebügelt wie ein Tanzmeister, in hellblauer, silbergestickter Uniform, roter Weste, weißen Beinkleidern: „Quel Bonheur, Mademoiselle!" hatte er geschnarrt. „Mais, was sehen ick? Eure göttlichen Augen rouges de pleurs? Was euch fehlen? Was trüben die Blau in die schöne Aug ?"
Sie hatte sich rasch abgewendet. Soulard aber war nähergeschlichen und hatte gewispert: „O, adorable, douce Fille, wenn Sie wüßten, wie serr, wie affectueux ick Sie lieben, Sie würden ausgissen alle Douleurs in Herz mir, wie in ein klares Bach!"
Sie hatte sich jede weitere Bemerkung energisch verbeten, der Südländer hatte aber frech gelacht. Alors comme alors! Er und Monsieur seien einig. Er sein aus guter Familie, er sein Offizier, viele deutsche Mädchen hätten geheiratet Soldaten des Kaiserreiches und wären stolz, in die schöne Frankreich zu kommen. Die majestueuse Frankreick seien unbesiegbar, Preußen seien doch kaputt, pour tous jours perdue. Es seien klug, zu halten mit das, was oben sein! Monsieur seien klug, Mademoiselle werden auch werden klug mit die Zeit. Patience! Mon Ange! Wenn die ganze Preußen erst sein ein Territoire franqais, dann werde er sein wie ein coq en pstte, dann werde er sein Cuqueluche.
Sie hatte tief empört das Zimmer verlassen. Ach, wenn doch nur Hans wieder da wäre! Er hatte ja ein so braves deutsches Herz und so festen Mut, an dem man sich aufrichten konnte.
(Fortsetzung folgt.)