Der rätselhafte Findling.
Eine Detektivgeschichte von Rudolf Presber.
Sogleich, nachdem der rätselhafte Knabe mutterseelenallein im Tiergarten aufgefunden wurde, stand es bei mir fest: nur Sherlock Holmes wird imstande sein, das Rätsel dieses Kindes zu lösen.
Ich wandte mich also zunächst an die Verlagsbuchhandlung in Stuttgart, die stets das Neueste von Sherlock Holmes weiß, und erhielt als Antwort folgende Depesche: .Sherlock Holmes seit 4 Wochen im Taucherkostüm im Atlantischen Ozean verschwunden, wo er nach einer Wasserleiche sucht, welche die Beweise für die eheliche Untreue der i Gattin des Oberkellners im .Grand Hotel Barnum" in
Boston kurz vor ihrem Sprung über Bord eines Ozeandampfers gekaut und verschluckt haben soll."
Zur Vorsicht wandte ich mich nocheinmal an die ! Feuilletonredaktion eines Berliner Blattes, das sich gern mit
! dem außerordentlichen Detektiv beschäftigt, und erhielt die
I telephonische Auskunft: .Sherlock Holmes ist seit Wochen,
als Neger entkleidet, in Zentralafrika auf der Suche nach einem Bleistift (Faber Nr. 3), der Henry Stanley vermutlich aus der Hand fiel, als er in Livingstone suchte, und der von einem diebischen Schwarzen aufgehoben und veruntreut wurde."
Als ich zerschmettert über diese Nachrichten sinnend aus dem Fenster sah, kam von dem gegenüberliegenden Trottoir ein schlanker, blasser Mann mit den geschmeidigen Bewegungen eines fünfjährigen, gefleckten Jaguars in den Dschungeln über den Asphalt der Straße, stieg — da der Portier wieder mal nicht rasch genug öffnete — durch ein Parterrefenster und über das Bett einer leidenden amerikanischen Dame in mein Haus und stand nach 2 Minuten vor mir.
Der Fremde legte einen zwölfläufigen Revolver achtlos vor sich aus meinen Schreibtisch, ließ seine Uhr repetieren, steckte sich eine von meinen Zigarren an und sagte: .Ich bin Sherlock Holmes".
.Ja, erlauben Sie, woher —"
.Woher ich weiß, daß Sie mich suchen? Wir wollen keine Zeit verlieren Sie haben eine blaue Weste an mit grünen Tupfen. Blau ist die Farbe der Sehnsucht, grün ist die Hoffnung. Sie haben sicher mehrere Westen, viele Westen — ich schließe das aus dem Mietsprets ihrer Wohnung. Wenn Sie heute nun diese blaue Weste mit den grünen Tupfen angezogen haben, so folgen Sie darin Ihrer Stimmung. Das tut man immer bei der Westenwahl. Ich kannte bei Delhi einen später an der Cholera verstorbenen Rajah, der immer rote Westen anzog, wenn er Todesurteile fällte. Und so viel Knöpfe an der Weste fehlten, so viel > Köpfe fehlten abends in seiner Umgebung. Also die Sehn- . juchtsfarbe Ihrer Weste sagt mir: Sie suchen jemand.
Wen? Sie hatten ein Buch von Robert Lutz-Stuttgart in der Hand, als Sie am Fenster standen. Das ist mein Verlag. Allem Anschein nach beschäftigten sich also diese Ihre suchenden Gedanken mit mir. Und zwar in einer bestimmten Angelegenheit. Ich kenne diese Angelegenheit nicht, aber sie interessiert mich. Wollen Sie mir Litte sie auseinandersetzen? Ohne unnötige Umschweife. Ich habe", der merkwürdige Mann zog wieder die Uhr, „sieben- undfünszig Minuten dreißig Sekunden Zeit, ehe mein Zug in den Ural abgeht, wo ich für ein Honorar von 50000 Rubeln einem russischen Fürsten herausbringen soll, wer ihm aus Bosheit seit dreizehn Monaten jeden Morgen den Treppenflur seines Palastes verunreinigt. Ich werde mir zu Ihrem Berichte Notizen machen. Dieser Bleistift ist übrigens — wenn Sie das interessieren sollte — der Rest des Schreibstifts, mit dem sich Stanley Aufzeichnungen in Afrika machte, und den ich als Zahnstocher eines uralten Pimpumpa-Negers südöstlich vom Viktoria-Nyansa dieser Tage wiedersand. Doch lassen wir das. Also bitte".
Sherlock Holmes hatte, wenn er bat, eine so eindrucksvolle Art, mit dem Revolver zu spielen, daß ich nicht zögerte, seinen Wünschen nachzukommen.
.Also, es handelt sich um ein Kind ..."
.Ihr Kind?"
„Mein? Nein!"
„Ist das beweisen? Ich meine, haben Sie sich in dem Jahre vor der Geburt des Kindes niemals im Wohnort seiner Mutter ausgehalten?"
,Ja, diesen Wohnort und diese Mutter kennt man ja l eben nicht".
! „Sehen Sie nun", — Sherlock Holmes strafte mich
durch einen langen Blick — „wie können Sie dann be- ! haupten, daß Sie nicht der Vater sind!"
Erschauernd vor der imponierenden logischen Kraft dieses Geistes beschloß ich meine Angaben mit knapper Präzision zu machen:
„Also, der Knabe wurde allein im Tiergarten gefunden. Sein Geschlecht ist männlich. Und bei ihm war niemand."
Schon unterbrach mich Sherlock Holmes: „Hatte er Ungeziefer?"
Die Frage verwirrte mich. „Ich weiß nicht recht."
„Ich sehe schon," sagte Sherlock Holmes, „so kommen wir nicht weiter." Er ging an mein Telephon. „Wo ist der Knabe? Auf der Polizei? Schön. Dann ist er also ein unschuldiger Knabe?"
„Wieso?"
„Nun, wenn er ein Mörder wäre, dann hätte ihn die Polizei doch nicht!"
Ich bewunderte wieder Sherlock Holmes' Scharfsinn. Er aber nahm das Sprachrohr des Telephons und klingelte.
Und nun begannen die wunderlichsten Bestellungen, die jemals durch meinen Apparat gemacht worden sind. Sherlock Holmes sprach zunächst mit dem Zentralviehhof und bat, umgehend ein lebendes Schaf nach dem Alexanderplatz zu bringen. Dann bestelle er eben dahin eine Apfeltorte mit Schlagsahne von Hilbrich und aus einem Spielwarengeschäft der Leipzigerstraße ein Schaukelpferd und einen spanischen Rohrstock. Nach diesen erstaunlichen Anordnungen wandte er sich wieder zu mir: „Jetzt rasch einen Taxameter, ich habe nur noch 49 Minuten 51 Sekunden Zeit.
Dem Taxameterkutscher bedeutete er, nach dem Alexanderplatz Karriere zu fahren, mit der Versicherung, er würde ihm das Pferd vergüten, wenn es dort zusammenbräche. Zwölf Minuten später waren wir am Alexanderplatz, wo schon die Boten mit dem Hammel, der Äpfeltorte, dem Schaukelpferd und dem spanischen Rohr aus uns warteten.
Da ich vergessen hatte, genügend Geld zu mir zu stecken, so entlohnte Sherlock Holmes rasch entschlossen den Mann, der den Hammel gebracht, mit meiner goldenen Taschenuhr, gab dem Boten mit der Apseltorte meinen neuen Zylinder und den beiden andern meine Krawattennadel und meine Lackschuhe als Pfand. Dann hieß er mich den Hammel führen und die Torte zu tragen, was ich auch — da ich ohne Hut und Schuhe, ohne Uhr und Nadel nicht mehr elegant aussah — ohne aufzufallen tun konnte.
Im Polizeipräsidium erkannten sie alle Sherlock Holmes sofort. Der Polizeipräsident kam selbst heraus und begrüßte Sherlock Holmes, während mich und den Hammel nur ein argwöhnischer Blick streifte. „Ich werde Sie für meinen Bediensteten ausgeben," flüsterte mir Sherlock Holmes zu, „das vereinfacht die Sache." Und in der Tat, der merkwürdige Mann verstand's so vortrefflich, mich wie einen Bediensteten zu behandeln, daß nicht einmal die Geheim- Polizisten, die aus allen Korridoren herbeiströmten, ihren berühmten Kollegen zu sehen, mich für etwas anderes hielten als einen Bedienten.
Sherlock Holmes veranlaßte, daß wir sofort zu dem rätselhaften kleinen Jungen geführt wurden, der in einer Ecke saß und an einem großen Butterbrot kaute. Sherlock Holmes ließ ihn nicht aus den Augen, während er das lebende Schaf, das Schaukelpferd und die Apfeltorte vor ihn hinstellte, den Rohrstock aber hinter seinem Rücken behielt. Sherlock Holmes zog seinen Rock und seinen Hemdkragen aus und gab mir beide zu halten, um besser Nachdenken zu können. Dann sagte er zu dem Polizeipräsidenten, der mit gespanmester Aufmerksamkeit lauschte:
„Ein Berliner ist das Kind nicht. Das Blut hätte sich nicht verleugnet. Er wäre auf die Apfeltorte mit Schlagsahne losgestürzt, wenn er Berliner wäre."
Der Polizeipräsident nickte: „Sie können recht haben."
„Ich habe immer recht," lächelte Holmes bescheiden. „Auch einem Reitervolk gehört das Bürschchen nicht an."
„Woraus schließen Sie das?"
„Er hätte sonst das Schaukelpferd bestiegen. Das hätte er auch getan, wenn sein Vater bei der Gardekavallerie stünde. Nein, sein Vater kann überhaupt nicht Soldat gewesen sein, denn der Mann ist linkshändig."
„Wie? Der Vater? Links? Ja, woraus sehen Sie denn das?"
„Sehr einfach. Beobachten Sie nur, der Kleine bohrt mit dem Zeigefinger der linken Hand in der Nase. Das tun die Kinder sonst mit der rechten. Er muß das gesehen haben, oft gesehen haben, als Gewohnheit gesehen haben. Nicht bei anderen Kindern, das hätte ihn ohne tieferen Eindruck gelassen. Bei einem Erwachsenen, der ihm vorbildlich schien. Im schulpflichtigen Alter ist er noch nicht. Der Lehrer fällt weg. Bleibt — der Vater, der links sein muß. Sie sehen es auch daran, daß das rechte Ohrläppchen des Jungen etwas tiefer hängt. Daran hat der Vater offenbar den vor ihm Stehenden öfter gezogen. An das rechte Ohrläppchen kommt er nur mit der linken Hand."
Ohne sich irgendwie um unser wachsendes Erstaunen über seinen Scharfsinn zu verwundern, führte Sherlock Holmes dem Kinde das lebende Schäfchen zu, und zwar so, daß es mit dem Schwanz nach dem Kleinen zu stehen kam. Der Junge interessierte sich für das Schaf; erst streichelte er es, dann brach er ein Stück aus seiner Butterstolle, ging um das Schaf herum und hielt ihm das Brot ans Maul, aber das Schaf machte bloß „Bäh" und fraß nichl.
„Ich dachte mir", nickte Sherlock Holmes, „der Junge ist aus viehreichem Lande und zwar aus angesehener wohlhabender Familie."
„Da wär' ich denn doch begierig wie Sie —" meinte der Polizeipräsident.
Sherlock Holmes lächelte mitleidig. „Daß der Junge viel Vieh gesehen hat in seinem Leben, erkenne ich erstens daran, daß er bei meinem Eintritt nicht erschrak ..."
„Sie meinen, weil wir das Schaf bei uns haben?"
„Natürlich. Was ^aben Sie gedacht? Ferner erkenne ich untrüglich eine Vertrautheit mit solchen Tieren
daraus, daß er, als -r ou-> Schaf füttern wollte, sein Brot dem Tiere nicht unter den Schwanz hielt, sondern den Kops aufsuchte und fand. Er kennt also aus der Anschauung recht wohl die Einnahme- und Ausgabestellen für die Speisen bei Schafen."
Ein Gemurmel der Bewunderung ging durch die dichten Reihen der Geheimpolizisten. Nur ein alter Kom
missar brummte vor sich hin: „Na, wenn er gewöhnt ist, das Vieh zu füttern, kann er doch nicht aus angesehener, wohlhabender Familie sein!"
Sherlock Holmes besah einen Augenblick seine Nasenspitze, was er immer tat, ivenn er sich ärgerte. Dann sagte er kühl: „Er hal eben nicht selbst das Vieh gefüttert, sondern nur gesehen, wie es die Knechle und Mägde taten. Hätte er selbst gefüttert, so wüßte er, daß ein Schaf sich von Pflanzen nährt und keine Butterstulle frißt. Folglich ist er aus einer Familie, die ihr Vieh nicht selbst fütterte!"
„Dunnerja, er hat recht!" brummte der Kommissar in seinen eisgrauen Bart.
„Wir sind der Sache also schon näher", faßte Sherlock Holmes seine Beobachtungen zusammen. „Das Kind ist ein Kaabe männlichen Geschlechts, kein Berliner, Sohn eines linkshändigen Vaters, der keinesfalls bei der Gardekavallerie stand, aus einem äußerst viehreichen Lande und aus wohlsituierter Familie."
„Fragt sich nur, wo das Land liegt", nickte der Polizeipräsident.
„Wir werden dieser Frage näher treten", sagte Sherlock Holmes und redete das Kind mit liebreichen Worten in einundfünfzig lebenden Sprachen und, als das nichts half, in 15 toten an, indem er ihm in jeder Sprache versicherte, er werde ihm eine zuckersüße Birne schenken, wenn er ihn verstehe.
„Warum gerade eine Birne?" fragte ein strebsamer Polizist, der ganz weiß vor Aufregung war.
„Weil mich der Junge ja schließlich wirklich verstehen und beim Wort, nehmen könnte, mein Lieber", antwortete Sherlock Holmes, „und Birnen sind jetzt am billigsten. Aber mir scheint leider, er versteht mich nicht. Gut, er soll mich hören stärker beschwören."
Mit diesen Worten zog Sherlock Holmes den Rohrstock hinter seinem Rücken hervor, bemächtigte sich mittels des sehr komplizierten patagonischen Polizeigriffs des zappelnden Knaben, legte ihn auf gut mitteleuropäische Art übers Knie und verabfolgte dem gänzlich überraschten Jüngling einige Jagdhiebe auf den schon seit uralter Zeit meist zu solcher Unterhaltung herangezogenen Körperteil.
„Au wau hu — wuhu — au, wuhu!" brüllte der geprügelte Knabe.
Sherlock Holmes legte den Rohrstock beiseite und schmunzelte sehr befriedigt. „Wie ich mir dachte, meine Herren! Der Junge stammt vom Himalaja."
„Wer ist das!" platzte ein alter Wachtmeister heraus. Aber der Polizeipräsident, der nicht gern sah, daß seine Leute in ihrer Bildung Lücken zeigten, blinkte ihm zu, den Mund zu halten.
„Und zwar vom südlichen Himalaja", fuhr Sherlock Holmes, der solche Dinge stets taktvoll überhörte, fort. „Wäre er vom nördlichen Teil des Gebirges, so hätte er zweifellos nach dem dortigen Sprachgebrauch das „wuhuwu" an die Spitze seiner Wehklage, das heißt vor das „Au— mau—hu" gestellt."
„Sind Sie dessen sicher?"
Ich bitte, mir das Gegenteil zu beweisen! — Ferner bemerkten Sie: die Züchtigung kam ihm ganz überraschend und war ihm unangenehm. Er ist offenbar selten oder r mals geprügelt worden. Nun prägest sich auf dem ^ laja alles. Nur — der Dalai Lama von Tiber ist «ns ^yre Inkarnation der Gottheit sakrosankt. Seine Familie ebenso. Den Dalai Lama selbst können wir nicht vor uns haben. Wohl aber seinen Sohn. Und ich darf als erwiesen annehmen, daß wir den Sohn des Dalai Lama von Tibet vor uns sehen, der offenbar von schlauen Priestern entfernt wurde, ehe die Engländer in Lhassa einzogen."
Der Junge hatte sich unterdessen in eine Ecke verkrochen, rieb sich den von Sherlock Holmes bei seiner psychologischen Prüfung in Mitleidenschaft gezogenen Körperteil und schluchzte dazwischen in abgebrochenen Stammellauten. Ich mit meinen ungeübten Ohren hätte geschworen, das Kerlchen jammere „Ma —ma . . . Ma — ma!" was ja schließlich auch einen Sinn gegeben hätte. Sherlock Holmes' Züge aber verklärten sich, und mit tiefer Befriedigung sprach er zu seiner Umgebung: „Hören Sie, meine Herren, nun verrät er sich: er sagl immerzu: „La — ma — La - ma."
„Verzeihen Sie Herr Holmes," erlaubte sich der Polizei- präsidem zu bemerken, „mir kommt's vor, er schreit: Ma — ma—Ma — ma!" '
„Das L im Anlaut," belehrte ihn Holmes, „sprechen die Tibetaner in der Gegend von Lhassa immer wie M. Sie sagen zum Beispiel Mist statt List, Mord statt Lord, und wenn sie Lampe sagen wollen, so sprechen sie Mampe . . . Und nun" — er wandte sich an einen uniformierten Schutzmann — „da meine Aufgabe hier erfüllt ist, holen Sie mir eine Automobildroschke, ich muß rasch zur Bahn nach dem Ural. Aber, bitte, eine mit einem betrunkenen Kutscher."
„Warum das ?"
„Weil der erstens stets leichter zu finden ist, als ein nüchterner, und zweitens, weil ein solcher sich nicht an die erlaubte Fahrgeschwindigkeit hält. Mit dieser würde ich nämlich das Telegraphenamt nicht mehr erreichen."
„Ich dachte, Sie wollen —"
„Auf den Bahnhof? Jawohl. Aber vorher muß ich an den Dalai Lama depeschieren: „Sohn gefunden. Dynastie gerettet. Erbitte umgehend Großkomturstern des tibetanischen Hausordens vom Großen Schaf am gewässerten Bande. Sherlock Holmes."