Schwarzwälder Sonn tagsblatt.

Das Rind.

Was eine Kindesseele Aus jedem Biick verspricht,

So reich ist doch an Hoffnung Ein ganzer Frühling nicht.

Wie uns den Frühling kündet Ein Veilchen schon im März,

So ward dein Kind ein Frühling Für dich, o Mutterherz!

Es wird zur Rose werden In Zucht und Sittsamkeit,

Und dir erneu'n auf Erden D,ie eigne Frühlingszeit.

Hoffmcmn v. n Fallersleben.

Gehetztes Wild.

Roman von E. von Winterseld-Warnow.

(Fortsetzung) (Nachdruck verboten.

Die Flut stieg unaufhaltsam weiter.

Tagelang war kein Nachlassen, kein Ablaufen zu be­merken. Der Verkehr im Ueberschwemmungsgebiet konnte nur notdürftig ausrecht erhalten werden. Anfangs suchte man sich noch durch Bretterstege in den Außenorten zu be­helfen, bis schließlich auch die letzte Verbindung mit den verlassenen menschlichen Wohnungen aufgegeben werden mußte das Wasser war überall.

Eines Tages war auch Lolo Lüning mit ihrem Vater hinausgefahren ins

(Überschwemmungsge­biet. Als Senator war natürlich der alte Herr an der Beobachtung der Hochflut, die das ganze bremische Land über­schwemmte, stark inte­ressiert.

Lolo hatte wohl von der Rettung der Beling- schen Hosleute durch Leut­nant von Tessow gehört.

Diese Rettung bildete vorübergehend sogar das Tagesgespräch in der Stadt, Wenn eigentlich der Leutnant auch nur seine Pflicht getan, es wurde doch allgemein anerkannt, daß er sie in einer außerordentlich schneidigen und tüchtigen Art erfüllt hatte. Das Herz der Siebzehnjähri­gen verklärte die Tat mit schwärmerischer Apo­theose.

Um dieselbe Zeit, als Lüning Vater und Tochter sich die Ueberschwemmung ansahen,, war auch Leutnant von Tessow noch einmal herauskommandiert, um das Terrain unter Beobachtung zu halten.

Bei einer alten, hochgelegenen Windmühle traf er mit den Herrschaften zusammen. Hier endlich lernte er Lolos Vater näher kennen. Bei seinem Besuche im Lüningschen Hause seinerzeit hatte er ihn eigentlich nur flüchtig gesehen und gesprochen. Lolo hielt sich ganz im Hintergründe; aber er mußte sie doch begrüßen, und da konnte sie es doch nicht hindern, daß ein schwärmerisches Leuchten aus ihren blauen Augen ihm entgegenstrahlte.

Am Bahndamm, unweit der Windmühle, war provi­sorisch eine Anlegestelle für Boote erdichtet. Dorthin gingen sie gemeinschaftlich; im Gespräch stieg man zusammen ein und gemeinschaftlich fuhr man ab.

Zuerst hatte Lolo das Ganze sehr amüsant gefunden, das Balancieren auf den Brettern machte ihr Spaß. Als sie aber auf die glatte Fläche hinauskamen, wurde sie ernst. Ueberall Wasser, wo sie sonst zu Fuß gegangen war, über­all Wasser, wo im Sommer die Kühe weideten. Da wohnte der Bauer Klatte, wo sie als Kind so oft und gern Eierpflaumen geschüttelt hatte. Da war der Garten mit der Schaukel, in der sie noch im vergangenen Sommer jauchzend im weißen Kleide gegen den strahlend blauen Himmel aufgeflogen war.

Immer ernster wurde ihr Gesicht, immer stiller und trauriger die schönen, blauen Augen, die sonst so gerne lachten.

Die Fahrt bewegte sich zuerst in nordwestlicher Rich­tung dem Schorf zu.

Hier stand das Wasser sechs bis acht Fuß hoch. Wo sonst die Wintersaat fröhlich grünte, da zog jetzt der Nachen seine Furchen, da herrschte trostlose Oede, unheimliche Stille, da war Wasser und nur Wasser, soweit das Auge reichte.

Endlich war man am Lehester Deiche.

Die Zerstörung schien hier am weitesten vorgeschritten zu sein. Die Wellen, die im Sturm gegen die Häuser ge­trieben worden waren, halten den Putz abgerissen. Kahle Balken starrten ihnen überall entgegen. Ein Haus, das schief -hing, drohte jede Minute einzustürzen. Bei einem anderen, das eigentlich schon nicht mehr war, konnte man durch die stehengebliebenen Balken hindurchsehen. Steine und Mörtel dazwischen waren herausgebrochen, im Wasser versunken und verschwunden.

Schließlich kamen sie auch zu dem Hause des Arbeiters, der sie führte. Hier stiegen die Herren aus, um ins Haus zu gehen. Lolo konnte sich nicht enthalten, ebenfalls einen Blick in das Innere zu werfen. In dem einen Zimmer stand ein Bett auf hohem Gerüst. Darin lag eine kranke Nachbarsfrau, während das Wasser unter dem Gerüst hin und her flutete.

Im Nebenzimmer hockte in ihrem Lehnstuhl, der ebenfalls hatte höher gestellt werden müssen, an dem jetzt kalten Ofen die alle, taube Großmutter. Ein trostloses Bild ! Lolo fühlte heiße Tränen zu den Augen aussteigcn.

Daß es solches Elend geben konnte, hatte sie in ihrem bisher so behüteten Leben kaum geahnt. Sie war ganz Mitgefühl. Selbst Leutnant von Tessows Gegenwart ver­schwand daneben. Sie atmete auf, als sie hörte, daß der Vater mit dem Mann besprach, wie ihm zu helfen sei, daß er vor allen Dingen mit seiner Familie in die Stadt über­siedeln müsse, wo ihm durch den Senator Arbeit und Unter­stützung zugewiesen werden sollte. Ach, wenn doch allen, allen so geholfen werden könnte!

Es fing an zu dämmern; man mußte an die Rückfahrt denken.

Eine fahle, matte Wintersonne stand am Horizont, ein fahlgelber Schein lag über den Wassern.

Lolo fröstelte. Sie schob ihre Hände fester in dem kleinen Muff zusammen. Da nahm Tessow seinen Mantel und legte ihn ihr um.

Erst wollte sie sich wehren. Aber er zog ihn mit ruhiger Bestimmtheit fester um ihre Schultern.

Da saß sie ganz still, und durch ihre Seele flutete, immer klarer, immer deutlicher, bewußter werdend, eine herr­liche Melodie. Es war das Mendelsohnsche Lied: »Mit meinem Mantel vor dem Sturm beschütz' ich dich".

Die Sonne war inzwischen untergegangen; ehe die Dunkelheit vollständig wurde, war auch die Fahrt glücklich beendet. Es galtuur noch, die letzte Wegstrecke auf schwankenden Brettergerüsten zu passieren, um die Stelle der Chaussee zu erreichen, wo die Droschke hielt. Dem Herrn Senator half der Fährmann beim Aussteigen; der Schritt aus dem schwankenden Kahn auf die gleichfalls schwankenden Bretter war nicht ganz leicht. Währenddessen wartete Lolo geduldig. Da nahn» Tessow sie einfach in die Arme und hob sie aus dem Kahn.

Es war nur ein kurzer Augenblick. Aber er durchzuckte beide wie ein seliger Wonnerausch.

Lolos Herz klopfte zum Zerspringen.

Und er, der Mann, der vor nicht allzulanger Zeit noch ein anderes Weib an seinem Herzen gehalten hatte, er fühlte es wie einen heiligen Schauer durch alle seine Glieder gehen, als sich der junge, keusche Körper so vertrauend an ihn schmiegte.

In dieser unvergeßlichen Minute ward das Bild der andern für immer aus seinem Herzen verdrängt.

»Fall mir nicht, Kind," mahnte der Senator. »Bleib dicht hinter mir!"

Ein leiser Druck der Hand dankte Tessow. Dann folgte sie langsam und vorsichtig dem voranschreitenden Vater.

Der Fährmann, dem Lolo den ganzen Inhalt ihres Geldtäschchens in die Hand geschüttet hatte, starrte ihr dankend und ergriffen nach. Für so viel Geld konnte er ja eine ganze Menge Lebens- und Stärkungsmittel für die alte Großmutter und für die kranke Nachbarin erstehen! Gottlob für den Augenblick war ihnen geholfen. Gleich am

andern Morgen wollte er die alte Frau und die Kranke in seinem Boot zur Stadt schaffen. Das würde schwer halten; aber er würde sich Hilfe aus der Nachbarschaft holen. Die gemeinsame Not machte ja auch hier die Menschen hilfreich.

Als die kleine Gesellschaft den Wagen erreicht hatte, verabschiedete sich der Senator mit unleugbar herzlichem Ausdruck in seinen Worten von dem Leutnant, indem er ihn gleichzeitig einlud, seinen Besuch recht bald zu wiederholen.

Tessow warf einen fragenden Blick auf Lolo. Wie würde sie diese Einladung aufnehmen? Hatte sie ihm die Vernachlässigung nach dem Eislauf vergeben? Hatte er ver­gessen, daß er sie meiden wollte?

Ja! Beiden versank alles in dem Bewußtsein ihrer aufkeimenden Liebe, und tief, tief tauchten ihre Blicke beim Abschied ineinander.

Man tanzte für die Ueberschwemmten. Der große, schöne Saal des Künstlervereins war gedrängt voll.

Damit aber die Sache doch einen etwas wohltäligkeits- fähigen Anstrich haben sollte, gingen Aufführungen voraus.

Lolo Lüning war unter den Mitwirkenden.

Es wurden die beiden ersten Aufzüge desFaust" auf­geführt mit der Musik des Fürsten Radziwill.

Professor Bulthaupt, der bekannte Dichter, hatte das Ganze arrangiert; er selbst spielte den Faust mit bekannter Meisterschaft. Man beneidete alle die, die zur Teilnahme aufgefordert worden waren, und die auf diese Weise in den Proben mit dem schwärmerisch verehrten Manne Zusammen­sein konnten. Ein Chor von jungen Damen sang den Oster­gesang hinter der Szene. Ein Primaner gab den Wagner, und alle die vielen Personen, die in dem berühmten Oster­spaziergang ihre kurzen Sätze zu sprechen haben, wurden von Damen und Herren der Gesellschaft dargestellt. Lolo Lüning beteiligte sich als eine der Schäferinnen am Reigentanz, Mimi Redleffsen mit ihrer schönen, schlanken Figur stellte eine Patrizierin dar.

Sie sah in einem weißen, wollenen Kleide, mit rotem Samt verbrämt, und einem großen, roten Samthut mit vielen wehenden und nickenden Federn wirklich schön und vornehm aus. Lolo als Schäferin, wie i-umcr liebreizend und harmlos hingebend, glich mehr einer eben aufgeblähten Knospe; dabei war sie lebhaft, beweglich und strahlend vergnügt. Der Ernst jener Wasserfahrt nachchen überschwemmten Gehöften schien ihrem Gedächtnis völlig ent­schwunden zu sein. Sie war eben eine leicht erregbare, doch gar nicht t es angelegte Natur. Das Leben mußte schon bedeutend stärker an­klopfen, ehe es sie dauernd zum Ernst und zur Aufmerksamkeit zwang Sie war aber in ihrer Heiterkeit so bestrickend, daß jedes Auge sich gern an so viel überquellender Jugendfrische erfreute. Sie schwamm in einem Meer von Wonne. Tessow mußte sie ja dann ebenfalls sehen in ihrem reizenden Kostüm, und dann würde er auch mit ihr tanzen. Diese Aussicht genügte, um sie für viele Tage geradezu kindlich froh zu machen.

Der Festabend kam.

Ein voller Saal, erwartungsvolle Menschen, Fächer­rauschen, Kleidsrrascheln, strahlende Helle, glänzende Augen und ein Gewoge von Spitzen und weißen Frauennacken, zu denen die Fracks der Herren eine wirksame Folie abgaben. Ob unter diesen geputzten Menschen einer daran dachte, daß die Einnahme den Armen da draußen zugute kommen sollte, die immer noch halb im Wasser steckten? Das war auch ein Fluten hier, ein Fluten wie von einem aufgeregten Meer, ein Wellenfluten und Rauschen.

Doch dann ertönte das Klingelzeichen, und tiefe Stille trat ein. Es war ein Wagnis, denFaust" hier von lauter Dilettanten ausführen zu lassen, und zwar den herrlichsten, den gewaltigsten Teil des ganzenFaust". Aber es gelang meisterhaft. Wenn Bulthaupt etwas arrangierte, dann mußte es ja gelingen. Der Vorhang hob sich, und Bulthaupt als Faust sprach mit tiefem Verständnis, mit sonorer, warmer Stimme die ewig herrlichen Goetheschen Strophen. Nach atemloser Stille folgte jubelnder Beifall. Doch das Beste kam noch, das Ereignis der Gesellschaft, der Augenblick, in dem man die Töchter, Schwestern, Freundinnen und Feindinnen auf der Bühne erblicken würde. Dann konnte man genießen, loben, bewundern und kritisieren. Die Operngläser, die Fächer waren fortwährend in Bewegung, man tuschelte und lachte.

Voller Ernst und andächtige Aufmerksamkeit fanden sich aber erst wieder ein, sobald Faust und Wagner auftraten. Faust-Bulthaupt begann:

Vom Eise befreit sind Ströme und Bäche

Durch des Frühlings holden, belebenden Blick."