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1877.

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Unparteiische Tageszeitung und Anzeigeblatt, verbreitet in den Gberamtsbezirken Nagold, Freudenstadt, Lalw u. Neuenbürg.

«r. 267

Ausgabeort Altensteig-Stadt.

Freitag, de« 13. November.

Amtsblatt für Psalzgrafenweiler.

1908.

Das Kaiser-Interview vor dem Reichstag.

1s Berlin, 1l. Novbr.

Präsident Graf Stolberg eröffnet die Sitzung um 1.20 Uhr. Am Bundesratslisch sind erschienen die Staats­sekretäre von Bethmann-Hollweg, von Tirpitz, Dernbnrg, Krätke, Sydow. Die Int er p e l l a lio n s b esp r e ch ung wird fortgesetzt. Frhr. v. Gamp (Reichsp.) Ich erblicke die Hauptursache der Vorkommnisse darin, daß nach dem Abgang Bismarcks der Kaiser nicht Reichs­kanzler zur Seite hatte, die den Mut, den Willen und die Macht besaßen, .die verfassungsmäßigen Pflichten auch nach oben zu wahren. Ich glaube aber, daß es dem Fürsten Bülow gelungen ist, auf den Kaiser einen bestimm­ten Einfluß auszuüben. Es wäre geboten, daß der Reichs­kanzler die Tatsachen mitzuteilen geneigt wäre, auf die er die Ueberzeugung stützt, daß der Kaiser sich in Zukunft Zurückhaltung auserlegen wird. Kann er garantieren, daß auch sein Nachfolger die Verantwortung übernimmt, wenn dergleichen sich wiederholt? Der Kaiser sollte mit den besten Männern der Nation in Fühlung treten. (Zuruf bei den Soz.:Sie rechne ich nicht dazu/' Heiter­keit!) Diese Männer müßten sich dem Kaiser gegenüber offen aussprechen. Zwei Momente verstimmen England: die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie und die Ver­mehrung der deutschen Flotte. Der Reichskanzler betritt den Saal. Wir werden durch die Vergrößerung der englischen Flotte zu einer Flottenvermehrung gedrängt. Er­kennt England dies an, so werden wir uns mit ihm ver­ständigen können. Kein Deutscher will die Flotte agressiv gegen England verwenden. In England freilich gibt es eine Kriegspartei. Ein englisch-deutscher Krieg würde einen Weltkrieg entfesseln. China hätte beim Erwachen aus seiner Lethargie soviele wirtschaftliche und soziale Aufgaben zu lösen, daß es kaum an eine Europa feindliche Politik denken kann.

Wir legen Verwahrung ein gegen die Flottenverwendung für Zukunftsprobleme in fernen Landen. Es ist in der De­batte eine Erweiterung der Parlamentsrechte angeregt worden. Aber ein sogenanntes parlamentarisches Regime wider­spricht den monarchischen Anschauungen der Volksmehrheit, den föderative» Verfassnngsgrundlageu und den vitalsten Volksinteressen. Wir legen Wert darauf, daß die Ver­fassungs-Vorschriften aufrechterhalten und die Reichskanzler­verantwortlichkeit nicht vermindert wird. Daß unser Ansehen im Ausland schweren Schaden erlitten hat, ist übertrieben. Auch der leitende Staatsmann genießt im Ausland Ver­trauen. Wir müssen gerade gegenwärtig wünschen, daß er das Steuer des Staatsschiffes weiter in seinen Händen be­hält. Die deutsche Nation ist durch dieses Gespräch nicht in Mitleidenschaft gezogen. ' Deutschland ist eine Nation des Friedens und strebt danach, im Friedenswerk mit den an­deren Nationen zu wetteifern. Wir stehen noch auf Bis­marcks Standpunkt, daß wenn wir Krieg führen wollen, dies ein Volkskrieg sein muß. Der Deutsche fürchtet Gott und sonst nichts in der Welt. (Hurrarufe.)

Schräder (frs. Vgg.); Unbegreiflich ist es, daß das Interview am 28. Oktober erscheinen konnte und bis zum 10. November keinerlei Berichtigung erfolgte. Der Reichskanzler mußte früher informiert sein über das, was der Kaiser gesagt hat. Er mußte früher richtig stellen, was er gestern richtig gestellt hat. Schon am 4. November war der Reichstag der Platz, wo das geschehen mnße. Alle hätten gewünscht, daß der Kaiser nicht fern von Berlin wäre. So wichtig ist das Geschäft, Zeppelin aufsteigen zu sehen und zu belohnen, nicht gewesen, als hier zu sein und dem Reichs­kanzler beizustehen in der schwierigen Lage. Ich möchte wünschen, daß die unterbrochene Bismarckpolitik wieder ausgenommen wird. (Zustimmung links.) Ich bitte den Reichskanzler eindringlich, dem Kaiser vorzustellen, daß es so nicht weiter gehen kann. Ein einmütiger Reichstag, getragen von der Ueberzeugung eines einmütigen Volkes, ist leine Macht, der kein Kaiser und kein Kanzler wider­stehen kann. (Lebhafter Beifall links.)

A bg. v. Normann (kons.): Die Antwort des Reichs­kanzlers scheint uns der Situation entsprechend. Wir gehen nicht weiter auf den Sachverhalt ein und erivarten, daß der Reichskanzler seinen Worten diejenige Ausführung gibt, die das Wohl des Vaterlandes erfordert.

Abg. Zimm ermann (Dtsch. Rfpt.): Tatsache ist, daß der Kaiser die Fühlung mit weiten Volksschichten ver­loren hat. In weiten Offizierskreisen besteht Opposition gegen die Hofgenerale. Alle klagen über die Zurücksetzung des eigenen Volkes gegenüber den Fremden. Wenn der Kaiser den Mangel an nationaler Gesinnung beklagt, so trägt er selber einen Teil der Schuld. Unbegreiflich war, daß der Kaiser in diesen erregten Zeiten einen höfischen Be­such in Oesterreich machte. Zu einem Vertrauensvotum für den Reichkanzler können wir uns nicht aufschwingeu. (Beifall bei den Antisemiten).

Haustmann (südd. Vp.): Wie in den Tagen des Zeppelinunglücks zeigte die Nation gestern und heute eine Einmütgkeit aller Parteien. Auch die Konservativen ver­teidigen nicht die Haltung des Kaisers; auch aus Bundes­ratskreisen heraus hat niemand sie als richtig bezeichnet. Der Mund, der einmal sagte, Schwarzseher dulde ich nicht, hat selber Millionen von Schwarzsehern geschaffen. Wir wollen Freundschaft mit England, vor dessen tüchtigen Lei­stungen wir die allergrößte Hochachtung haben. Der Kaiser soll schwere Tage hinter sich haben. Es wäre richtig ge­wesen, wenn er im Mittelpunkt der Regierungsgeschäfte in diesen Tagen gewesen wäre und den Reichskanzler zu Er­klärungen ermächtigt hätte, die die ganze Nation beruhigt hätten. Der Reichskanzler hat die in den Interpellationen gestellten Fragen nicht beantwortet. Wenn der Kaiser in das Goldene Buch von München die Worte eintrng: rsZis voinntas suprsma lsx, so sind derartige Kundgebungen nicht geeignet, selbständige Staatsmänner zu erziehen. Der Reichs­kanzler ist nicht nur verantwortlich für das Funktionieren seines Refforts, sondern auch für die Staatshandlungen des Monarchen. Der Bundesrat sollte regelmäßige Zusammen­künfte haben, um derartige Vorkommnisse zu verhindern. Ein Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit ist erforderlich. Die Geschäftsordnung des Hauses müßte derartig sein, daß Fragen über die äußere Politik leichter gestellt und beantwortet werden könnten. Der Reichskanzler kann nur mit der parla­mentarischen Mehrheit die Geschäfte gedeihlich führen. (Lebh. Beifall bei den Freis.)

Heine (Soz.) Kein Wort sagte der Reichskanzler über Casablanca, jene Bagatelle, deretwegen man sich mit Frankreich nberworfen hat. Wenn alles wahr ist, was über diese Veröffentlichung mitgeteilt worden ist, so bleibt immer noch ein erhebliches Verschulden des Reichskanzlers bestehen. Zn unserem Glück ist der Feldzugsplan nicht benützt worden von Lord Roberts. Mögen wir mit derartigen Ausarbeit­ungen immer ein solches Glück haben. Daß die Arbeiter den Kaiser verkennen, ist nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, daß sie so oft von ihm als vaterlandslos u. s. w. beschimpft worden sind. Wir brauchen konstitutionelle Garantien und eine volle Ministerverantwortlichkeit, damit wir eine Basis für die Diskussionen im Reichstag gewinnen. Wären auch die Verdienste des Reichskanzlers um das Volk so groß wie um die Agrarier, so müßte er jetzt doch gestürzt w.rden, um dem Kaiser zu zeigen, daß sich kein Kanzler halten kann, der nicht energisch seine Politik vertritt. Schließlich würde der Kaiser sein Verhalten doch ändern. Das deutsche Reich braucht weniger einen Schutz vor dem Ausland, als seiner eigenen Leitung gegenüber. Solche Affären können einen Krieg herbeiführen, den niemand ge­wollt hat, weder das Volk noch der Kaiser. Tie Vertreter des Volkes sollen über Krieg und Frieden zu entscheiden haben und nicht der Monarch allein.

Die gegenwärtige Situation ist außerordentlich günstig, parlamentarische Rechte zu verlangen. Mit der Reichsfinanz - reform haben wir ein großartiges Pressionsmittel in der Hand. Man riskiert keine Reichstagsauflösnng unter der ParoleFür den Kaiser und für neue drückende Steuern" (Heiterkeit bei den Soz.). Die Parteien der Mehrheit sind selber schuld an dem Vorherrschen des persönlichen Regiments. Wie hat sich der Block in der Wahluacht 1907 benommen, als seine Vertreter huldigend vor das Schloß zogen. Meine Herren! Ihr seid allzumal Sünder. (Große Heiterkeit.) Die Idee des Gottesgnadentums war früher ein Ausdruck from­mer Bescheidenheit; heutzutag ist sie ein Ausfluß einer phantastischen Vorstellung eines besonderen persönlichen Ver­hältnisses zu Gott. Sie steht in Widerspruch mit dem re­ligiösen, politischen und sittlichen Empfinden der Besten des deutschen Volkes. Schadenfreude hat uns fern gelegen, wenn wir es auch gewesen sind, die seit Jahrzehnten alle auf dem Posten gewesen sind bei der Bekämpfung des persönlichen Regiments. Einer würdig abgesaßten Adresse hätten auch

wir uns anschließen können, aber das konservative Manifest können wir nicht als eine derartige Grundlage betrachten.

Gesandter v.) Kiderlen-Wiichter, als Vertreter des Staatssekretärs v. Schön: Der vom Auswärtigen Amt begangene Fehler wird von niemand mehr bedauert als vom Auswärtigen Amt. Es handelt sich um einen Spezialfall, der dadurch hervorgerufen ist, daß mit der wachsenden Ar­beitslast nicht die Arbeitskräfte vermehrt worden sind. Die Eingänge (haben sich in den letzten 25 Jahren um das Vierfache gesteigert (Große Heiterkeit und Unruhe.). Es wird nirgends so genau gearbeitet als bei uns (Große Heiter­keit). Wenn man das Auswärtige Amt im eigenen Lande herabsetzt, wie sollen da unsere Diplomaten gestärkt werden. Die Regierung wird nächstens mit Vorschlägen zur Ver­mehrung des Personals hervortreten. Unsere Bureaus sind vortrefflich organisiert. Man sollte durch abfällige Beurteilung ihnen nicht die Schaffensfreudigkeit nehmen.

v. Dirksen (Reichsp.): Heine hat in unverantwort­licher und frivoler Weise mit der auswärtigen Politik gespielt. (Lärm bei den Soz.) Sie sprechen von Byzanti­nismus. Um den Byzantinismus, den Sie mit Ihren Heiligen treiben, beneiden wir sie nicht. Einer Adresse, wie sie Haußmann wünscht, können wir nicht zustimmen. Wir sollten durch unsere Haltung die Position unserer Vertreter im Ausland nicht erschweren. Wandel muß geschaffen wer­den. Die Schuldigen sind zu bestrafen und die Organisation muß geändert werden. Der Fehler wird schwer zu repa­rieren sein, unmöglich ist es nicht.

v. Oldenburg (kons.): Eine Adresse an den Kaiser würde eine Kritik der Handlungen des Kaisers in sich schließen, die wir dem Reichstag verfafsungsgemäß nicht zuerkenne«. Für Sie zu den Sozialdemokraten gewen­det ist der Kaiser eine Einrichtung. Wir aber iverden ohne Furcht, aber bis zum letzten Atemzug dem Kaiser "die' Treue bewahren, die wir ihm noch nie versagt haben. (Bei­fall rechts).

Lattmann (wirtsch. Vgg.): Der Reichstag hat das Recht, eine Adresse an den Kaiser zu senden. Wenn wir dies in einer Form tun, die dem monarchischen Gefühl durchaus Rechnung trägt, so sollen wir es auch rückgratlos (langandauernde, schallende, allseitige Heiterkeit) rückhaltlos tun. Eine solche rückhaltlose Aeußerung nimmt auch unser Kaiser in dieser schweren Zeit sicher entgegen.

Damit schließt die Besprechung. Bei Festsetzung der Tagesordnung für die nächste Sitzung beantragt Raab (wirtsch. Vgg.), den Antrag seiner Partei auf Absendung einer Adresse an den Kaiser als ersten Punkt auf die morgige Tagesordnung zu setzen. Nachdem v. Normann (kons.) er­klärt halte, daß seine Partei gegen die Adresse aus prin­zipiellen Gründen stimmen werde und Spahn (Ztr.) und Bassermann (natl.) sich Normann angeschloffen, Wiemer (srs. Vp.) und Singer (Soz.) sich dagegen erklärt hatten, wurde der Antrag Raab abgelehnt. Nächste Sitzung Donnerstag 1 Uhr; Rechnungssachen und Petitionen. Schluß 6'/; Uhr.

Eine Zusicherung -es Kaisers selbst.

* Berlin, 11. Nov. Bon autoritativer amtlicher Seite wird die Erklärung abgegeben, daß die Versicherung des Kanzlers, daß der Kaiser in seinen weiteren Privatgesprächen sich Zurückhaltung auserlegen werde, mit Wissen und Willen des Herrschers gegeben worden sei. Das hebt dieses Zu­geständnis umso mehr hervor, als es sicher ist, daß zwischen den vom Kaiser und Kanzler geführten Gesprächen gerade in diesem Punkte eine vollkommene Aussprache und Ver­ständigung erzielt ist.

Die Jnterpellatiousdebatte uud das Ausland.

* Wien, 11. Novbr. Tie gesamte Presse bespricht die gestrige Sitzung des deutschen Reichstages und drückt einhellig die Ansicht aus, daß der Reichstag den Schaden des Kaiser- Interviews wieder gut gemacht und die wahre Gesinnung des deutschen Volkes ausgesprochen habe. Auch die Haltung des Reichskanzlers wird durchweg anerkannt. Ter Tag wird als gewonnene Schlacht des Reichstags nach innen und außen bezeichnet.

' Rom, 11. Nov. Die Rede Bülows machte hier um so größeren Eindruck, als ne zusammentraf mit der Lösung des Konflikts von Casablanca, die für Deutschland als ehren­voll bezeichnet wird. Bis jetzt bringt nur der demokratische Mesiagerv" einen Kommentar. Er sagt, auch vor der Rede hatte Bülow alle Sympathien für sich gehabt. Bülow, der seit Jahren arbeitet, um der deutschen Politik Beständigkeit und Festigkeit zu geben, iah sein Wert durch die unzeit-