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Amts- und Anzeigeblatt für den OberamtsbezirL Calw.

118.

Mittwoch, den 22. Mai 1912.

87. Jahrgang.

Um das preußische Wahlrecht.

Der Deutschkonservativen Partei, die im Preußi­schen Abgeordnetenhause die überwiegende Anzahl von Abgeordnetensitzen innehat, hat das preußische Volk es zu danken, daß die in der Montagsitzung von der Volkspartei sowohl wie von den Nationallibe­ralen eingebrachten Anträge auf Abänderung des z. Zt. geltenden Wahlrechtes zum preußischen Abge­ordnetenhaus abgelehnt wurden. Preußen behält wiederum sein Wahlsystem, das Bismarck das elendste aller Wahlsysteme nannte. Es ist bei diesem Anlaß nicht ohne Interesse, kurze geschichtliche Erinnerungen an die Entstehung dieses Wahlrechts, das gar keines ist, zu wecken. Preußen war schon im Besitz eines besseren Rechts. Das Sturmjahr 1848 hat ihm ein allgemeines, gleiches, geheimes und indirektes Wahl­recht gebracht, das sogar die Zustimmung des Königs erhalten hatte. Dieses Wahlrecht aber wurde ein Jahr später von diesem selben König wieder durch einseitigen Willensakt beseitigt und an seiner Stelle trat das Dreiklassenwahlrecht in Kraft, durch das Preußen heute noch im Rufe des rückschrittlichsten deutschen Bundesstaates ist. Die das Dreiklassen- wahlrecht einführende königliche Verordnung vom 30. Mai 1849 beurteilte der preußische Minister des Innern v. Herrfurth seinerzeit als eine solche, die auf Grund des hierfür allerdings eine genügende Rechtsbasis nicht gewährenden Artikels 105 der oktroyierten Verfassungsurkunde" erlassen worden sei. Das Volk übersetzte diese diplomatische Definie- rung des königlichen Willensaktes mit dem Begriff Verfassungsbruch. Seit dem Jahre 1867 wählen alle wahlberechtigten Preußen auf dem Wege direk­ter Wahl in den Reichstag. Es ist widersinnig, un­gerecht und eines Kulturvolkes unwürdig, die in­direkte Wahl und ihre Begründung, die ihr 1849 mitgegeben wurde, heute noch anzuerkennen:daß nach der politischen Bildungsstufe einer ehrenwerten, von dem Wahlrecht nicht füglich auszuschließenden Schicht unseres Volkes die aus derselben hervorgehen­den Wahlberechtigten zwar den Mann ihres Ver­trauens, der statt ihrer den Abgeordneten wählt" (bei der indirekten Wahl werden sogenannte Wahl­männer, und von diesen erst der Abgeordnete ge­wählt),mit richtigem Takt zu bezeichnen imstande sein würden, daß aber ihr politisches Urteil noch nicht so herausgebildet sei, um sie in der Wahl des Abgeordneten richtig zu leiten". Die preußische Re­gierung und mit ihr diejenigen, die sich immer noch an das Dreiklassenwahlrecht ankrampfen, halten die preußischen Wähler für unheimlich dumm, wozu immer noch die Frage beantwortet werden muß, mit welchem Recht die preußische Regierung ihre wahlberechtigten Preußen auch heute noch so nieder einschätzt. Mit dem Recht der Vernunft doch wohl nicht. Und ein Staatsmann muß sich doch in der Einschätzung des preußischen Volkes geirrt haben: entweder der, der das Dreiklassenwahlrecht für den Landtag schuf, oder jener, der das Volk gescheit und würdig genug dazu hielt, daß es seine Vertreter in den Reichstag direkt und geheim wählt. Man kennt den Einwand, mit dem das Dreiklassenwahlrecht Preußens als berechtigt verteidigt wird:Dem preu­ßischen Volk muß seine Eigenart erhalten bleiben". Diesen Einwand hält selbst der beste Hasser des Reichstagswahlrechts, v. Heydebrand, nicht 'mehr stichhaltig genug, um ihn durchschlagend zu finden. Was es mit der preußischen Eigenart auf sich hat, das verrät der konserv. Führer ungeschminkt:Sind Sie der Auffassung, daß es für ein großes Kulturvolk wie das unsrige ein vernünftiger Zustand ist, daß fast alle Großstädte lediglich durch die Sozialdemo­kratie vertreten sind? ..." So v. Heydebrand in der Wahlrechtsdebatte am Montag. Unbekümmert um den tatsächlich vorhandenen Drang des preußischen Volkes, ein seiner kulturellen Bedeutung auch wür­

diges Volksrecht zu erhalten, unbekümmert um na­türliche Menschenrechte und unbekümmert auch um verpfändete Kaiserworte bleibt Preußen ein wider­sinniges, ungerechtes Wahlrecht erhalten weil die Konservativen vor der Sozialdemokratie Bange haben. Dieses Verhalten einer Partei, deren Vor­handensein niemand als unnötig für unsere Kultur zu bestreiten wagen wird, mutz sich durch den Lauf der Entwicklung an ihr selbst rächen. Das preu­ßische Volk des 20. Jahrhunderts hat es nicht not­wendig, von einer Partei, die nur durch ungerechte Wahlkreiseinteilung die gesetzgebende Uebermacht be­sitzt, sich den Weg versperren zu lassen, der zu gerech­teren, freieren Verhältnissen und Zeiten führt. Der Hinweis auf die Rüpelszenen der Sozialdemokratie im preußischen Landtag und im Reichstag auf Grund deren man erst recht wahlreformerischer Betäti­gungen unlustig werde, sollte von ernsthaften Leuten gar nicht erst versucht werden. Volksrechte verkuh- handelt man nicht, Volksrechte verschachert man nicht: wenn du brav bist, bekommst du dein Wahlrecht, so­zialdemokratische Partei Rechte, wenn sie ein Volk sich nicht selber mit Gewalt zu nehmen ge­zwungen wird, haben die Gesetzgeber entsprechend dem Willen des Volks und seiner Vertreter zu geben. Zwei Drittel der preußischen Wähler fordern Aen- derung ihres Landtagswahlrechts, ein Drittel ist da­gegen; also. Wir in Süddeutschland rütteln leise da und dort am Reichstagswahlrecht, es zu ersetzen durch den Proporz unser größter Bundesstaat aber schleppt immer noch ein Wahlrecht nach sich, das seine und des Reiches Entwicklung längst überholt hat. Soll das Volk aufs Blut gereizt werden? X. X.

Parlamentarisches.

Berlin, 21. Mai 1912.

Aus dem Reichstag.

Am Bundesratstisch: Staatskommissäre. Präsident Dr. Kämpf eröffnet die Sitzung um 11 Uhr 20. Auf der Tagesordnung steht zunächst die erste Lesung eines Gesetzentwurfes zu einem Militärluftfahrer­fürsorgegesetz. Erzberger (Z.), Schulen­burg (natl.) und Doormann (F. V.) begründen die Vorlage. Die Vorlage wird ohne Kommissionsbera­tung auch in zweiter Lesung angenommen. Es folgen Etatsreste. Beim Etat der allgemeinen Finanzver­waltung wird von der Kommission für die Deckung der Wehrvorlagen die Hinausschiebung der Herabsetzung der Zuckersteuer und die Einbringung eines Gesetzes zur Einführung der Erbschaftssteuer zum 1. April 1913 vor. Abg. Erzberger (Z.) berichtet Uber die Verhandlun­gen in der Budgetkommission. Abg. Bassermann (natl.): Uns wäre es am liebsten, wenn heute schon über die völlige Regelung der Deckungsvorlagen eine Einigung erzielt werden könnte. Mit unserem Antrag auf Einführung einer Besitzsteuer haben wir eine Bin­dung der Regierung herbeiführen, aber den Weg offen lassen wollen, ob eine Vermögens- oder die Erbschafts­steuer gewählt wird. Die Ueberschüsse aus dieser Steuer könnten zur Herabsetzung der Altersgrenze bei der Altersversicherung verwendet werden, oder den Kriegs­veteranen zugute kommen. Abg. Ledebour (Soz.): Die Hinausschiebung der Herabsetzung der Zuckersteuer ist eine verschleierte Konsumsteuer. Bei der kommen­den Steuer werden wir uns alle Rechte Vorbehalten und uns für eine Erbschaftssteuer entscheiden. Spahn (Z.): Die Herabsetzung der Zuckersteuer tritt spätestens am 1. Oktober 1916 in Kraft, jedenfalls aber 6 Monate nach dem Inkrafttreten der bis zum 30. April 1913 dem Reichstag zugehenden Besitzsteuer, lieber die Gestalt dieser Vesitzsteuer soll der Regierung freie Hand ge­lassen werden, ob sie die Form einer direkten Reichs­steuer oder eine einzelstaatliche Abgabe wählt. Graf Westarp (kons.): Eine Bindung der Regierung ist nicht ganz unbedenklich, aber wir sind auch hierzu be­reit. Heber die Form der Besitzsteuer soll später ent­schieden werden. Dem Kompromißantrag stimmen wir zu. Die Erbschaftssteuer werden wir ablehnen. Das mobile Kapital muß erfaßt werden. Staatssekretär Kühn: Auf die Frage, was die Regierungen unter einer Besitzsteuer verstehen, antworte ich: Wir verstehen

darunter Steuern vom Vermögen oder Nachlaß in den verschiedensten Formen. Auch die Erbschaftssteuer ge­hört dazu. Schon der erste Entwurf enthält die Forde­rung der Erbschaftssteuer. Ihm würden sich die verbün­deten Regierungen nicht entgegenstellen, sofern der zweite Absatz fallen würde, wonach die Höhe der Steuer­quote alljährlich durch den Etat festzulegen ist. Wir sind bei Annahme des Kommissionsantrages bereit, den verlangten Gesetzentwurf in der angegebenen Frist vorzulegen. Hierauf wird ein Schlußantrag ange­nommen.

Damit ist die erste Lesung der beiden Gesetzent­würfe angenommen. Eine Resolution auf Vorlegung eines Gesetzentwurfs zur Revision des Zollgesetzes, wo­durch die Voraussetzungen für den Erlaß gesetzlich vor­geschriebener Abgaben festgesetzt werden, wird ange­nommen. Das Haus tritt sofort in die zweite Lesung ein und schreitet nach kurzer Debatte zur Abstimmung. Angenommen wird in einfacher Abstimmung der erste Gesetzentwurf betr. Ermäßigung der Zuckersteuer, abge­lehnt der sozialdemokratische Zusatzantrag betr. jährliche Festsetzung der Höhe der Steuerquote. In namentlicher Abstimmung wird mit 184 gegen 169 Stimmen der zweite Gesetzentwurf angenommen. Weiter hat der Reichstag mit 184 gegen 169 Stimmen folgenden Jni- tiativgesetzentwurf angenommen. Dem Reichstag ist der Entwurf eines Gesetzes betr. Aenderung des Erb­schaftssteuergesetzes, wie er dem Reichstag bereits am 14. Juni 1909 vom Bundesrat vorgelegt worden ist, so rechtzeitig vorzulegen, daß er mit dem 1. April 1913 in Kraft treten kann.

Beim Titel Zuwachs st euer weist Arendt (Reichsp.) darauf hin, daß die Ergebnisse der Wertzu­wachssteuer hinter der Veranschlagung weit zurückge­blieben seien. Staatssekretär Kühn: Davon kann keine Rede sein. Im April sind z. B. nicht 400 000, sondern 3 400 00 Mk. vereinnahmt worden. Schluß 4 Uhr 20. ^ "

Eine zweite Sitzung wird um 4 Uhr 53 eröffnet. Am Vundesratstisch der Reichskanzler, Staatssekretär Tirpitz und der Kriegsminister. Auf der Tagesordnung steht die dritte Lesung der Wehrvorlagen. In der Generaldebatte führt Haase (Soz.) aus: Wir bedauern, daß wir noch nicht stark genug sind, um eine so volksfeindliche Vorlage zu Fall bringen zu können, wir werden aber in die breiten Massen hineingehen und immer weitere Kreise mit Abscheu gegen das wahn­witzige Wettrüsten erfüllen. Ohne weitere Debatte werden hierauf die Wehrvorlaen in getrennter Ab­stimmung auf Antrag M ll l l e r - Meinigen en bloa angenommen, und zwar die Heeresvorlagen gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Elsässer und Polen, die Marinevorlage gegen die der genannten und der Welfen. Nach jeder Abstimmung erschallt bei den bür­gerlichen Parteien lebhaftes Bravo, bei den Sozialde­mokraten Zischen. Damit sind die gesamten Wehrvorlagen definitiv angenommen. Der Reichskanzler verabschiedet sich mit lebhaftem Händedruck von Tirpitz und von Heeringen. Es folgen Wahlprüfungen. Ueber die Wahlen von Kösch (natl.) und Kämpf (F. V.) wird Beweiserhebung geschlossen.

Es folgt die dritte Lesung der Branntwein­steuer v o r l a g e . In der Spezialdebatte hiezu wird das Gesetz nach den Beschlüssen der zwei­ten Lesung mit nur geringfügigen Abänderungen angenommen. In der Gesamtabstimmung wird hier­auf das Gesetz gegen die Sozialdemokraten, Freisinni­gen, Elsässer, Polen und einige Nationalliberale ange­nommen. Bei der Abstimmung über eine Resolution der Polen, die Ueberschüsse aus dem Vranntweingesetz für die Herabsetzung der Altersgrenze bei der Alters­versicherung und zur Unterstützung der Kriegsveteranen zu verwenden, ist abermals Hammelsprung notwendig. Dafür stimmen 156, dagegen 168 Abgeordnete. Die Re­solution ist abgelehnt. Damit ist die Tagesordnung er­ledigt. Nächste Sitzung morgen vormittag 10 Uhr. T.-O.: Vorlage betr. Vertagung bis 26. November. 3. Lesung des Etats, Wahlprüfungen. Schluß 714 Uhr.

Stuttgart, 21. Mai 1912. Württembergischer Landtag.

Da die Zweite Kammer in etwa vier Wochen vertagt werden soll, ist eine nochmalige kurze Tagung im Oktober in Aussicht genommen. Die Neuwahlen