Gegründet

1877.

Fernsprecher Nr. 11.

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Amtsblatt für

Reklanien IS Pfg. die Textzeile.

Erscheint täglich mit Ausnahme der Sonn- und Festtage.

Bezugspreis für das Vierteljahr im Bezirk und Nachbarorteverkehr Mk. 1.25

außerhalb Mk. I.3S,

Unparteiische Tageszeitung und Anzeigeblatt, verbreitet in den Gberamtsbezirken Nagold, Freudenstadt, Talw u. Neuenbürg.

Nr. 172.

Ausgabeort Altensteig-Stadt.

SawStag, den 19. Oktober

Amtsblatt für Pfalzgrafenweiler.

1907.

Das Ende einer Sensation.

(Nachdruck verboten.)

Auch derjenige, der ein Gegner der Todesstrafe ist und einem Angeklagten, der auch nach dem Richterspruche seine Unschuld behauptet, die werteste Verteidigungs-Freiheit einge­räumt wissen will, wird mit dem Spruch des Reichsgerichts zufrieden sein, welcher die im Prozeß Han beantragte Re­vision verworfen hat. Die Revisions-Schrift des Vertreters des Verurteilten ivar zu gekünstelt, um aus streng rechtlich denkende Männer einen tieferen Eindruck machen zu können, und gewiß wäre bei ihr ein Weniger Mehr gewesen. Wer gar zu viel nach Gründen sucht, der verliert bei seinen For­schungen leicht den Blick für die nun einmal feststehenden Tatsachen, und so ist es auch hier gekommen. Man darf in diesem Drama ebenfalls sagen: Es gibt noch Richter in Deutschland, das heißt Männer, die gegen die Flutwelle der Sensation der Panzer sicheren Rechtsbewußtseins schützt, sie vor Mißgriffen und einer Sentimentalitäts-Justiz bewahrt, die nicht weniger bedenklich und gefährlich ist, wie diejenige der Voreingenommenheit.

Als die Geschworenen in Baden den des Mordes an- geklagten Hau schuldig gesprochen hatten, da wurden mehr­fache ausländische, namentlich amerikanische Stimmen laut, die nicht allein den Verurteilten unschuldig naunten, sondern auch aussprachen, Hau hätte anderswo, eben in den Ver­einigten Staaten von Nord-Amerika überhaupt nicht ver­dammt werden können. Den deutschen Volksrichtern ward damit die erforderliche Einsicht abgesprochen. Natürlich konnten sie darüber lächeln, denn was sich in der großen, freien Republik jenseits des Ozeans vollzieht in juristischen Möglichkeiten, das mag laut für das Heraustisteln von allerlei Kniffen und Pfiffen reden, aber für ein ehrliches, wahres Rechtsbewußtsein spricht es in keinem Fall. Wir haben da gerade in New-Aork den Fall, in welchem ein arg degenerierter Millionärssohn den Verführer seiner Frau erschossen hat. Es ist da sehr viel amerikanische Reklame und Raffiniertheit aufgeboten, um aus dieser Affäre etwas Amerikanisch-Besonderes zu machen, in Wahrheit sind alle Beteiligten solche traurigen Charaktere, daß man es nicht begreift, wie aus einzeluen von ihnen Helden gemacht wer­den sollen, selbstverständlich zum Zweck der juristischen Lös­chung. Für Geld wird der Dame Justitia zu der Binde, die sie im Interesse der Gerechtigkeit schon vor den Augen tragen soll, noch extra eine vorgebunden, so daß sie über­haupt nichts mehr weiß. So etwas ist am Wenigsten Kultur- Justiz, sondern das direkte Gegenteil. Ta ist unsere deutsche doch besser!

Wer will nicht zugestehen, daß in dem Prozeß Hau ein vollwichtiger Beweis hätte erbracht werden können, wenn sofort auf verschiedene Einzelheiten mit strengster Peinlichkeit eingegangen wäre? Aber man wird nicht vergessen dürfen, daß es sehr schwer ist, im ersten Moment Alles zu erkennen, was später sich nach einander folgern läßt. In diesem Familien-Drama hat es nach dem Urteilsspruche sehr viele freiwillige und unberufene Privat-Detektives gegeben, die mehr verwirrten, als sie klarstellten. Unvergessen wird es sein, wie eine Zeit lang, einem nicht unerheblichen Teil des Pu­blikums der Angeklagte und verurteilte Hau als ein armer Unschuldiger erschien, während seine Schwägerin Olga Moli­tor als diejenige bezeichnet ward, über die von Rechtswegen der Stab hätte gebrochen werden müssen. Heute ist es davon sehr still geworden, die lauten Rufer im Streit, die sich beinahe von der faszinierenden Gewalt der Sensation hätten fortreißen lassen, schweigen zur Stunde meist beschämt.

es verachtet. Ebenso natürlich wie die Vaterlandsliebe ist die Menschheitsliebe. Jeder einzelne ist nicht blos Angehör­iger einer bestimmten Nation, sondern er ist vor allem Mensch, ja man kann sagen: Er ist LOOOmal Mensch, bis er ein­mal Deutscher, Spanier oder Engländer ist. Das den Men­schen Gemeinsame überwiegt das Trennende ebensosehr wie der Erddurchmesser die Unterschiede in den Erhebungen der Erdoberfläche. Mitleid und Hilfsbereitschaft sind Naturan­lagen, die nicht an der Grenze des Heimatlands Halt machen, sondern universell sind. Konflikte zwischen Patriotismus und Menschheitsliebe sind heute noch möglich, beweisen aber nur einen ungesunden Zustand. Sobald man lernt, daß nur die Menschheit der höchste Selbstzweck sein kann, daß auch das höchststehende Volk nichts anderes ist als ein Teil der Mensch­heit und daß der Teil am besten gedeiht, wenn für die Wohl­fahrt des Ganzen gesorgt wird, so werden die Konflikte ver­schwinden.

D e r s äch s i s ch e L a n d t a g ist am Donnerstag mit einer Thronrede eröffnet worden. Die Thronrede führt eine Reihe der dem Landtag vorzulegenden Gesetzesent­würfe, darunter die Aenderung der Bestimmungen über die Wahl der Abgeordneten der zweiten Kammer, auf und schließt mit dem Wunsch, daß dem deutschen Volk die Segnungen des Friedens auch in Zukunft erhalten bleiben mögen.

Die Gesandtschaft des Gegen sultans Mu- ley Hafid hat sich in Berlin einen Korb geholt. Die Herren, die in einen: Hotel abgestiegen waren, in ihrer marokkanischen Nationaltracht gleichwohl aber Aufsehen erregten, begaben sich am Mittwoch vormittags ins Auswärtige Amt, um sich dort ihrer Mission, eine Intervention des Kaisers zu Gun­sten Muley Hafids herbeizuführen, zu entledigen. Es wurde ihnen aber sofort eröffnet, daß ihre Bemühungen, vom Kaiser empfangen zu werden, vollkommen aussichtlos seien. Die Gesandten verließen daher schon am Donnerstag Berlin, um sich nach Rom zu begeben. Die Marokkaner Muley Hafids waren urechte Exemplare des scherifischen Reiches. Sie liefen barfuß und versuchten im Speisesaal ihre Hühner selbst zu schlachten. Von Stühlen und Sophas machten sie keinen Gebrauch, sondern hockten auf den Fußboden.

In einer sehr stark besuchten Volksversammlung in Ber­lin, in welcher der Abgeordnete Bcbel über den na­tionalliberalen Parteitag und die Sozialde­mokratie sprach, nahm am Mittwoch die Sozialdemokratie die öffentliche Agitation gegen die Blockpolitik und f ü r d i e Einsü hrung des a l l g e m e in e n W a h lr echts in Preußen auf.

Landesnachrichten.

* Nagold, 18. Oktober. Zur Vertilgung der Feldmäuse hatte die hiesige Stadt ein Präparat ange­schafft mit welchem man jedoch kein gutes Resultat erzielte. Es wird das Fangen der Mäuse als das beste Mittel emp­fohlen und die Güterbesitzer werden deshalb von der Stadt aufgesordert, im eigenen Interesse die Mäuse zu fangen und gegen Bezahlung abzuliefern.

Oberkollivangen, 18. Okt. (Korr.) Einer seltenen Jagdbeute erfreute sich in dieser Woche die hiesige Jagdgesellschaft. Es wurde nämlich aus der am 16. ds. Mts. abgehaltenen Treibjagd u. a. ein 45 Pfund schwerer Dachs zur Strecke gebracht. Gewiß eine Seltenheit!

js Calw, 17. Okt. Die nengegründete Genossenschaft für Gewinnung und Verwertung von elektrischer Kraft im hiesigen Bezirk liegt mit der Kentheimer Fabrik im Prozeß wegen Erwerbs einer Wasserkraft. Auf den Ausgang des Prozesses ist man allgemein gespannt.

js Stammheim b. Calw, 17. Okt. Unter der hiesigen Kinderwelt treten die Maser n in großer Ausdehnung auf, sie haben aber bis jetzt kein Opfer gefordert.

fs Tübingen, 17. Oktober. In vergangener Nacht hat sich der Untersuchungsgefangene Gipser Fischer von Reic­hen g stet t, der im Gefängnis schon öfters alles demoliert und die Fesseln zerbrochen hat, selbst die Freiheit gegeben und ist entflohen. Ein Dienstmädchen der Nachbarschaft be­merkte das Bemühen des Gefangenen, eine Lücke am Gitter zu schaffen, aber der Gefangenenwärter maß der Sache keine Bedeutung bei. Nun hat er das Nachsehen.

js Reutlingen, 17. Oktober. Zu dem Selbstmord des jungen Wick, der sich in der Nacht vom Samstag auf Sonn­tag vom Schnellzug überfahren ließ, erführt man, daß der

elfjährige Knabe zu diesem Schritte infolge von Zerwürf­nissen mit seinen Eltern gekommen sein soll. Er hatte sich vor ungefähr 10 Tagen schon in auffallender Weise von zu Hause entfernt. Die amtlichen Erhebungen ergaben eine unangemessene strenge Behandlung und Züchtigung des Kna­ben seitens seiner Eltern seit längerer Zeit.

js Urach, 17. Oktober. Zwischen Sond e lfin g e n und Oferdingen stritten sich junge Burschen um die Mädchen. Ein 17jähriger Sondelfinger zog den Revolver und jagte dem Bruder seiner 14jährigen (!) Geliebten eine Kugel in den Rücken. Der Revolverheld ist in Haft.

! Tuttlingen, 16. Oktober. (Im Grabe fr ei ge­sprochen). Ein Fall, der einen hiesigen Bürgersohn be­trifft, der vor 11 Jahren verstorben ist, macht viel von sich reden. Am 10. März 1895 brannte in Kirchheim u. T. ein der Bäckerswitwe Katharina Maier gehöriges Stall- und Scheuergebäude nieder. Wegen angeblicher Brandstiftung wurde ein angeblicher Bäckergeselle namens Eugen Faul unter Anklage gestellt. Seine Beteuerung, er habe nicht ailgezündet, wurde vom Staatsanwalt und Gericht für Leugnen" erklärt und auf Grund der Taffache, daß er in der Richtung vom Brandplah weggesprungen sei, das Haupt­verfahren gegen ihn vor dein Schwurgericht Ulm eröffnet. Die Bemühungen des Staatsanwalts und die Prozeßleitung des damaligen inzwischen verstorbenen Schwurgerichtspräsi­denten hatte den Erfolg, daß die Geschworenen die Schuld­frage bejahten, worauf das Schwurgericht denselben zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilte. Eugen Faul wurde ins Gefängnis abgeführt. Tort erkrankte er so schwer, daß er nach Verbüßung eines Jahres begnadigt wurde. Wenige Wochen darauf, am 21. Mai 1896 starb er. Noch auf dem Totenbett beteuerte er seine Unschuld. Seither ruhte der Fall. Im Januar ds. Js. schrieb ein Geistlicher, der protestantische Stadtvikar in Aschaffenburg dem evangel. Stadtpfarramt Kirchheim u. T.:Ein erkrank­tes Gemeindemitglied, das seinen Namen zu verheimlichen wünsche, habe ihm erzählt, Faul sei unschuldig verurteilt worden, der wahre Täter leide schon lange an Gewissens­qualen, habe aber noch nicht den Mut gefunden, öffentlich die Tat einzugestehen. Das erwähnte kranke Gemeindemit­glied sei von dem Wunsche beseelt, doch zur Ehrenrettung des Faul etivas beizutragen und würde sich im Herzen erleichtert fühlen, wenn es am Ort der Tat bekannt würde, daß der Verurteilte uuschuldig gewesen sei." Da­raufhin reichten die Angehörigen des Verstorbenen, dessen hochbetagte, unter der Verurteilung ihres Sohnes schwer leidende, Mutter noch lebt, durch die Rechtsanwälte Hauß- ucann und Heusel den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein. Im April beschloß die Strafkammer des Landgerichts Ulm, trotz der gedachten Mitteilung des Geist­lichen, die Wiederaufnahme abzulehnen. Auf sofortige Be­schwerde des Anwalts hob das Oberlandesgericht Stuttgart diesen Beschluß und in der Folge noch weitere abweisende Beschlüsse der Strafkammer Ulm auf, ordnete Zeugenver­nehmung an und erkannte auf Grund derselben am 9. Okt. 1907 durch Beschluß auf Freisprechung des verstorbenen Faul. Der Beschluß spricht auf Grund einer sorgfältigen Nachprüfung aus, daß das verurteilende Erkenntnis des Schwurgerichts nicht aufrechterhalten werden könne und schon auf Grund der früheren Beweismittel anfechtbar ge­wesen sei. Das Gericht spricht aus, daß ein begründeter Verdacht gegen den Verurteilten nicht mehr vorliegt und daß die Staatskasse zur Entschädigung der Personen, denen gegenüber Faul kraft Gesetzes unterhaltungspslichtig gewesen sei, verpflichtet sei. Die 76 Jahre alte Mutter, die Frau Bäckermeisterswitwe Katharina Faul in Tuttlingen, die nach der ursprünglichen Abweisung der Wiederaufnahme zu kränkeln anfing, sieht so den Wunsch ihres Lebens, daß die Unschuld ihres toten Sohnes noch an den Tag komme, er­füllt. In Tuttlingen erregt der Beschluß des Oberlandes­gerichts berechtigte Befriedigung und Freude. Doch wird gleichzeitig über das frühere Verfahren viel gesprochen. Der Fall ist umso tragischer, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem rapiden Verlauf des Leidens und zwischen dem Justizmord nicht ausgeschlossen ist. Solche Fälle weisen dringend auf die Notwendigkeit einer Justizresorm mit Er­weiterung der Rechte der Angeklagten, und Einschränkung der Verhaftungen hin, durch die Verfolgte häufig an der Sammlung des Entlastungsmaterials gehindert find. Weiter­hin mahnen aber solche Erfahrungen zur Vorsicht in Ent­hebung wie in der Vertretung öffentlicher Anklagen in der Prozeßleitung, wie in der Auswahl der Schwurgerichts­präsidenten..

Tagespolitik.

Die Stuttgarter Friedensgesellschast hielt letzten Dienstag ihre Generalversammlung ab. Stadtpfarrer Umfrid sprach überPatriotismus und Mensch­heitsliebe" unter großem Beifall. Er stellte 10 Thesen auf, über die sich eine lebhafte Debatte entspann. Der Haupt­gedanke, den der Redner vertrat, war etwa folgender: Die Vaterlandsliebe ist an sich keine Tilgend, sondern ein Natur­trieb, der wie andere Triebe zum Fehler wie zur Tugend werden kann. Fehlerhaft ist der Patriotismus, wenn er in Vergötterung, Umschmeichelung, Selbstberäucherung des eige­nen Volkes und in den Haß der fremden Länder ausartet. Tugendhaft wenn er sich in selbstloser Unterordnung des Jn- dividiums gegeic das Ganze, in treuer Pflichterfüllung und Opserwilligkeit zeigt. Derjenige, der das Leben hochschätzt und dennocb bereit ist, es, wenn es sein muß, fürs Vater­land hinzugeben, bringt ein größeres Opfer, als derjenige, der

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