Jerusprecher

Nr. 11.

Erscheint Dienstag Donnerst., Samstag und Sonntag mit der wöch. Beilage Der Sonntags- Gast".

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MKWM f Ällgemeine^An^ige

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Mr. 57.

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Dienstag, 11. Aprit.

BÄanntmachungen aller Art finden die er­folgreichste Verbreitung.

1905.

Amtliches.

Im Laufe des Frühjahrs wird in Stuttgart wieder eine Ausstellung von Lehrlings.arbeiten nach den Bestimmungen über die Landes-Ausstellungen von Lehr­lingsarbeiten veranstaltet. Bon den am Ende der Lehrzeit stehenden Lehrlinge werden nur diejenigen zur Ausstellung zugelasseu, welche die Gesellenprüfung, und zwar mindestens mit dem Zeugnis gut bestauben haben. Als Ausstellungs­stücke dürfen nur die Gesellenstücke eingesendet werden. Als, Zeitpunkt für die Einsendung der Arbeiten ist Mitte Mai, für die Eröffnung der Ausstellung Anfang Juni in Aussicht genommen. Näheres hierüber wird noch bekannt gemacht werden.

,,u ebertragen wurde eine Mädchenvolksschulstelle in Ulm dem Schullehrer Bartholomäi in Böffingen, Bez. Pfalzgrafenweiler; eine Schulstelle in Wtldbad dem Schullehrer Häberlin in Sprollen­haus bei Mldbad.

Der Franzose.

sj Bei dem Tode des berühmten französischen Schrift­stellers Jules Verne, der in seinen naturwissenschaftlichen Romanen beinahe alle Länder der Erde getreu geschildert hat, ist die interessante Tatsache erwähnt, daß der in Amiens wohnende Dichter keios der von ihm beschriebenen fremden Länder gesehen hat, daß er überhaupt sehr ungern reiste. Diese Reiseunlust, die so ganz im Gegensatz zur deutschen Reiselust steht, ist charakteristisch für den Franzosen über­haupt, der der modernste Mensch zu sein denkt, tu der Tat aber konservativer ist wie ein deutscher Dorfbewohner, und sich in seinen Sitten und Gewohnheiten sehr langsam än­dert. Keine große Kulturnation gibt es, deren Bewohner so wenig vom Auslände kennen, wie Frankreich, deren Bür­ger auch im eigenen Vaterlande so wenig reisen, v. 7,0 von Liner Veränderung des Domizils ist ebensowenig die Rede. Wir haben im deutschen Reiche eine Unzahl von großen Städten seit 187y^1 heranwachsen, sehen, Frankreich hat in de» Hauptsache die drei wirklich großen Städte, die es hatte, Paris, Lyon, Marseille, behalten. Bon einem Zuge nach der Großstadt, wie er in Deutschland sich äußert, ist in Frankreich wenig oder gar nichts zu bemerken.

Der moderne Franzose, auch der Pariser, hat nur eine alte Leidenschaft, ein Ziel, von einem gewissen Alter ab Rentier zu spielen, auf eigenem Besitz bis an sein Ende zu schalten uud zu walten. Die Pariser Vororte und die französischen Städte wimmeln von solchen Rentier' 8 , die ihr Geld früher fast ausschließlich innationalen Werten" an­legten. Die Allianz kruuso-russs hat die Russenwerte ins Land gebracht, und die Pein dieser fremden Kapitals-An­lage empfand der französische Rentner bei dem schweren

Mißgeschick der zarischen Armee in Oftasten. Wo der? Franzose sein Geld verdiente, da wird er. auch Rentier, und die gallische Liebenswürdigkeit verhindert die strenge Kasteu- bildung, die wir in Deutschland nicht blosmitunter" fin­den. Ein gewisser kleinstädtischer Zng hallet daher auch den meisten Franzosen an, kaum irgendwo gedeiht Wohl der Nachbarklatsch besser, als in dem üppigen Paris, und daß dies Interesse für verhältnismäßig geringe Dinge sogar po­litischen Größen bewahrt bleibt, dafür ist der Präsident der Republik, Herr Emil Loabet, ein beredtes Zeugnis. Noch heute ist seine erste Morgenlektüre die der Zeitung von Montölimar, seiner Vaterstadt, die er lange Zeit als Bürger­meister regierte.

Frankreich bewahrt auch getrost den alten Zopf seiner Steuern, so z. B. der gänzlich unmodernen Tür- und Fenstersteuer, der Steuer auf vierrädrige Wagen, der Jnseratensteuer (auch Plakate aller Art, z. B. dasHeute gibt's frische Wurst!" in einem Fleischerladen, find steuer­pflichtig), der städtischen Accise rc., uud seine Tausende von Rentiers wollen aus erklärlichen Gründen von einer Ein­kommensteuer, die auch nicht besteht bisher, nichts wissen. Der Franzose gebraucht außerordentlich wenig Beleuchtungs- Material, erkneipt" wenig in unseremdeutschen Sinne und beob­achtet immer noch die altväterliche Leidenschaft für Cylinder. Weiße Wäsche wird nirgends mehr gebraucht, wie in Paris, bunte Turistenhemdeu, kleine Ankaöpfschlipse rc. sind unbe­liebt. Die roten Hosen der Infanterie werden unerschütter­lich beibehalten, obwohl sie weithin leuchten, allerdings ist der Bau des roten Färbestoffes eine einträgliche Einnahme für die Landwirtschaft,

Die französischen Eisenbahnen haben sich erst seit der letzten Weltausstellung ein bischen aufgerafft, was Bequem­lichkeit betrifft, aber mit der Schnelligkeit ist's noch schlecht bestellt. Expreßbriefe gibt es in Frankreich nicht, ebenso­wenig eine staatliche Paketpost; für nach 6 Uhr abends auf den Postämtern aufgelieferte Briefe, die noch am gleichen Abend mit der Bah« abgehen sollen, ist ein Auf­schlag zu zahlen, uud wer fremd ist, kann in dem großen weltstädtischen Paris wer weiß wie lange nach einem Brief­kasten suchen, so versteckt sind diese Behälter angebracht, so winzig find sie. Und kein Volk der Erde läßt sich von seinen Zeitungen einen solchen Unsinn Vorreden, wie die Franzosen.

Daß in Paris heute noch keine allgemeine Schul­pflicht besteht, die Polizei trotz aller trüben Erfahrungen die Fünf eine gerade Zahl sein läßt, soll nur nebenbei er­wähnt werden.

Tagespolitik.

Zur Marokkofrage liegt eine halbamtliche Aeußerung von deutscher Seite vor, die einen Vorschlag zur Güte bedeutet, von dem die französische Diplomatie bereit­willigst Gebrauch machen sollte, falls sie es ernst meint mit den dieser Tage so häufig gegebenen Versicherungen ihres guten Willens. Es heißt in der Auslassung, deren Ursprung man im Berliner auswärtigen Amte sucht: Der Gedanke einer neuen Marokko-Konferenz ist ohne amtlichen Vorschlag einer europäischen Macht in Tanger und in mehreren Hauptstädten aufgetaucht. Er scheint gewissermaßen in der Luft zu liegen. Wie stellt sich Frankreich dazu? Zu die­sem Schlußergebuis gelangt die halbamtliche Auslassung, nachdem sie sogar das festgestellt hat. Ueber Marokko liegt eine Konvention der Mächte vom 3. Juli 1880 vor. Will Frankreich eine Neuregelung der marokkanischen Verhältnisse eiutreten lassen, so kann es die in Kraft befindliche ältere Konvention nicht gut übersehen. Vor Eintritt in Sonder- verhaudlungen hätte Frankreich den Siguatarmächten der Madrider Konvention Mitteilung von seinem Vorhaben machen, uud sie nach dem Abschluß der Verhandlungen von deren Ergebnis in Kenntnis setzen müssen. Das ist be­züglich Deutschlands nicht geschehen. Allgemeine völker­rechtliche Abmachungen wären daher auch jetzt korrekter uud zweckdienlicher als Einzelverträge.

Ein freundliches Bild aus Deutsch-China, speziell von der deutschen Schantung-Eisenbahn finden wir in den Berliner Neuesten Nachrichten": Mit Ausnahme von we­nigen deutschen Aufsichtsbeamten wird der jetzt schon äußerst rege Bahuverkehr ausschließlich durch Chinesen abgewickelt. Stationsvorsteher, Telegraphisten und Weichensteller, Loko­motivführer, Zugführer und Schaffner, alle find Zopfträger und zwar solche aus der Provinz Schantung. Oft hört man von fremden Reisenden die Aeußerung:Das klappt ja gerade so prompt wie bei der preußischen Staatsbahn.' Eiusteigen I" ruft der Schaffner auf Deutsch.Abfaahlen" kommandiert der chinesische Stationsvorsteher und bemüht sich, einrr" dabei zu schnarren, was ihm jedoch meistens nicht gelingt.Bitte, die Fahrkarten !" Mit strenger Miene prüft der Schaffner deren Gültigkeit und reicht sie mit einem Danke schön!" zurück. Bereitwilligst erteilt er Auskunft über Dinge, die mau gewöhnlich bei einem Schaffner er­fragt. Wenn auch das meiste Deutsch gesprochen wird, so kann mau sich doch verständigen. Es gibt natürlich auch Böcke unter den Schafen, die die Geduld ihrer Lehrmeister auf eine harte Probe stellen. Der heikle Punkt beim Chi­nesen ist der Mangel an Energie zu selbständigem Handeln.

Auge«dst«rme.

Roman von A. Andrea.

(Fortsetzung.)

13. Kapitel.

Ein hohes Gemach mit dicht verhangenen Fenstern kaum, daß au jedem ein Streifen, nur mit Tüll bedeckt, frei blieb für das Tageslicht. Das Feuer in dem altmodischen Kamin, von einem Anthracitapparat unterhalten, brennt Tag uud Nacht mit gleicher Stärke; denn Frau Möhring kann nur bei einer Temperatur von 16 bis 18GradReau- mur bestehen. Sie befindet sich dauernd in einem Zustande von Frösteln.

Es war inzwischen Winter geworden. Die Kinder des Rittmeisters konnten nicht ohne Aufsicht und Unterricht bleiben. Es wurde möglichst bald Ersatz gesucht für die erkrankte Erzieherin.

Ein paar junge Damen hatten sich auf eine Annonce im Landwirtschaftlichen Anzeiger gemeldet; aber keine von ihnen entsprach den Anforderungen der Herrschaft. Der Rittmeister reiste nach Berlin und kam nach einigen Tagen mit der Meldung zurück, daß er dort ein Fräulein engagiert hätte. Tags darauf trat diese au. Als sie sich Frau von Möhring vorstellte, dachte diese erbittert:Also wieder ein anderes Genre!"

Die gebrannte, hohe Haarfrisur, die fesche, moderne Toilette, vor allem aber die selbstbewußte, kokette Zuvor­kommenheit in dem Wesen der jungen Dame waren der leidenden Frau unsäglich zuwider.

Zum Ueberfluß radelte sie. Der Rittmeister freilich betrachtete dies als eine Errungenschaft. Seine Kinder soll­ten es lernen; es ersetzte ihnen das Turnen.

Eines Nachmittags gab das Fräulein ihren Sport auf dem Hofe zum besten, in einem eleganten Pamphosen- kostüm, ein flottes Hütchen auf dem gebrannten Haar. Sie sah sehr vorteilhaft darin aus, sehr schneidig.

i Die Kinder jubelten. Der Rittmeister klatschte Bei­fall. Knechte und Mägde sperrten Mund und Augen vor Verwunderung auf; so was hatten sie im Leben nicht gesehen.

Am Fenster ihres halbdunklen Gemaches stand ver­lassen die Kranke, die Mutter und Gutsfrau. Niemand > achtete auf sie. Es war, als wäre sie schon ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Lebenden.

Ja, die Dauerkranken, das find die unglücklichsten von allen," Pflegte früher Frau von Möhring zu sagen, ehe sie sich selbst zu diesen zählte.Sie erschöpfen das Mitleid und langweilen durch die Einförmigkeit ihrer Leiden."

Jetzt schwieg sie darüber; aber sie fühlte, daß sie die Teilnahme der ihren längst erschöpft hatte. Der Gatte suchte sich draußen schadlos zu halten für die Langeweile, die der Zustand seiner Frau ihm verursachte, und die Kin­der waren am liebsten, wo sie nichts von der Matter hör­ten uud sahen. Mit ängstlichen Mienen betraten sie das Zimmer, wo sie leise auftreteu mußten und nicht laut-spre­chen durften wenn sie hinaus konnten, waren sie froh. Kinder find unbewußte Egoisten, deshalb die schlimmsten. Als die Mutter noch mit ihnen spielen konnte, sie unterhalten, hatten sie zärtlich au ihr gehangen; jetzt war sie der gruselige schwarze Schatten in dem Sonnenschein ihrer Lebenslust.

Aehnlich verhielt es sich auch mit ihrem Gemahl. Der schritt indes achtlos über den Schatten hinweg, uud wenn er ihn nicht sah, dachte er nicht mehr au ihn.

Vor Jahren war es gewesen, als er von einer laugen Erholungsreise" an der Riviera heimkehrte da merkte sie zuerst die Kluft zwischen ihnen. Er hatte sich in der sonnigen Ferne verjüngt und sie war daheim eine verdrieß­liche Jrivalidin, eine alte Frau geworden.

Mit brutaler Offenheit sagte er es ihr.

Es kamen Augenblicke der Verzweiflung; dann dachte die unglückliche Frau an Selbstmord. Aber die Eifersucht 1 sprach:Damit er nach deinem Tode das Leben recht ge- ' uießen kann!"

Nein, sie mußte ausharren, hoffnungslos, beding­ungslos ..."

Draußen radelte die junge Erzieherin vor den be­gehrlichen Blickes ihres Gemahls. Sie kokettierte mit ihrem gesunden Körper. . .

Voll Haß uud Widerwillen wandte Frau von Möhring sich ab und kauerte sich in die Sofaecke. Aber Rahe fand ihr armer Geist nicht. Das Bild draußen verfolgte sie das schöne Leben im Sonnenschein, das sie nie mehr mit- lebeu sollte.

Und täglich dieselben Qualen der Eifersucht, der De­mütigung. Nie einen Augenblick der Genugtuung . . .

Sie nahm das erste beste Buch, um nicht weiter zu .denken. Alles, was ihre Gedanken ablenkte, war wie eine lindernde Arznei.

Ein französisches Buch;I^s. ksiaws äs Oiauäs". Aha, das Werk mit dem famosen Kriegsruf:russ-Iu". Ihr Maun hatte es einst mitgebracht, als sie jung verhei­ratet waren. Zur Uebung im Französischen las er es vor. Wie unerfahren war sie damals gewesen und doch wie glücklich in ihrer reinen Selbsttäuschung. '

Sie sah in ihrem Gatten ein höheres, vornehmer ent­wickeltes Wesen, im Manne überhaupt. Dafür hatte ihr Vater gesorgt; denn die kränkliche, unselbständige Mutter hatte nie eine Stimme in der Erziehung ihrer Töchter gehabt.

Die Treulosigkeit der Frau des wackeren Claudius er­schien ihr so ungeheuer, daß sie bebend vor Scham uud Empörung rief:

So ist es recht! Mann, töte dein treuloses Weib I"

Sie erinnerte sich dessen genau auch daß ihr Ge­mahl überlegen dazu lächelte. Vielleicht hatte er damals schon in Gedanken gezählt, wie viel treulose Frauen um seinetwillen allein daun nicht mehr hätten leben dürfen.

I (Fortsetzung folgt.)