zumal sie keine Gefängniskleidung trug. Die Gefängnisbeamten stehen hier wieder vor einem jener rätselhaften Fälle kühnen Wagemuts, dem kein Schloß zu stark, keine Mauer zu hoch, kein Gitter zu eng ist. Diese Flucht bildet ein Pendant zu der vor 2 bis 3 Jahren erfolgten Flucht des zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilten Tischlers Beck, welcher nackend und nachdem er seinen Körper mit Oel eingerieben, durch das zwei Stock hoch liegende und nur 8 Zoll breite Fenster am Klosetraume der Lazarettstation ging und dann mitHilfe von Mauerpodesten nach der Rathenower- ftraße hinausgelangte, wo er von seinen Freunden mit einer Droschke erwartet wurde. Der hinter Beck erlassene Steckbrief ist noch immer unerledigt, es ist dem Flüchtling gelungen, in's Ausland zu entkommen.
* Am Montag nachmittag zog man in Erfurt aus der Gera zwei Leichen, die sich eng umschlossen hielten. In den Toten erkannte man den anfangs der vierziger Jahre stehenden Schuhmacher Mänz und feine erst einige 20 Jahre alte Ehefrau. Die in keineswegs schlechten Verhältnissen lebenden Gatten hatten sich verleiten lassen, für ungetreue Verkäuferinnen den Hehler abzugeben. Die Sache kam an den Tag und die Eheleute wurden unter Anklage gestellt. Sie zogen den Tod der Schande vor. Drei Kinder betrauern den Tod der Eltern.
Ausländisches.
* Die Abgeordneten aller östreichischen Paria- mente verstehen sich auf die Gassenhauer-Sprache. Auch im niederöstreichischen Landtage gab es am 30. Dezbr. v. I. eine Debatte, die vom Straßenpöbel nicht kräftiger geführt werden könnte. Bei Beratung des Budgets wurde der liberale Abg. Noske, weil er die Finanzgebarung der antisemitischen Mehrheit sachlich kritisierte, von den Antisemiten mit Fäusten bedroht und nur durch seine Parteigenossen vor thätlichen Mißhandlungen geschützt. Dr. Lueger rief ihm zu: „Verworfenes Subjekt!" worauf Noske erwiderte, er werde die Sprache des Bürgermeisters der Resioenz nicht nachahmen. Hierauf erhob sich ein großer Tumult. Der Abg. Gregorig rief: „Hinaus, Halunke!" Abg. Scheicher versetzte: „Sie infamer Kerl!" und Abg. Mayer: „Ich haue Ihnen eine Ohrfeige herunter!" Noske entgegnete: „Diese Körperschaft steht tief unter dem Niveau der Gebildeten!", worauf ihn Abg. Loquai mit Worten, wie „Sie erbärmlicher Lauskerl!", „Sie Gauner!" beschimpfte. In diesem Tone ging es weiter, bis die Sitzung geschlossen wurde.
* Budapest, 2. Jan. Die Unabhängigkeitspartei wird ein Manifest an die Nation publizieren. 60 Abgeordnete haben wegen Magyarisierung von Ortsnamen ihr Mandat niedergelegt. Weitere vier Mandatverzichte sind bevorstehend.
* Rom, 3. Jan. Nach einer Meldung der „Tribuna" aus Girgenti kam es gestern in Sikuliana, Provinz Girgenti zu einer Kundgebung ländlicher Arbeiter, welche die Rufe ausstießen: Wir wollen Brot, wir wollen Arbeit! Die Kundgebung artete in Aufruhr aus, wobei das Rathaus in Brand gesteckt und geplündert wurde. Zur Herstellung der Ruhe wurden Truppen herangezogen.
* Paris, 3. Jan. General Saussier ordnete das
Hofe mag ich nicht bleiben, der Großmama wegen; wir harmonieren nicht miteinander. Nimm mich in deine Familie auf, Hugo; ich trete deiner Unternehmung als stiller Kompagnon bei und übergebe dir mein Kapital. Gönne mir ein Plätzchen an deinem Herde, bist du einverstanden?"
„Von ganzem Herzen," sagte Volkmann, „wie wird sich meine Melitta freuen! Du bist ihr stets ein treuer Bruder gewesen."
„Das will ich fortan auch dir sein," versetzte Konrad mit einem kräftigen Händedruck.
9.
Volkmann hatte das Hüttenwerk von Herrn Ballung gekauft, das dazu gehörige Wohnhaus restaurieren lasten und war dann mit seiner Frau und Konrad noch vor Beginn des Winters dort eingezogen.
Die Großmama weilte wieder bei Onkel Oskar am Lindenhofe; die verwitwete Baronin Königsegg war nach Paris gereist, um dort die Wintermonate zuzubringen.
Alles ging seinen gewohnten thätigen Gang. Volkmann arbeitete und rechnete von früh bis spät, Melitta schaffte in Küche und Keller als fleißige Hausfrau, Konrad schrieb an seinem wissenschaftlichen Werke; es war ein trauliches Stillleben, das die drei zusammen führten, ein Leben der Arbeit und des Friedens, welches sie alle geistig und körperlich erstarken ließ.
Die Beziehungen zu Len Bewohnern des Herrenhauses gestalteten sich von Tag zu Tag freundlicher und inniger ; Frau Balbmg kam oft auf ihrem Rappen
Erscheinen Esterhazys vor dem Kriegsgericht am 10. Januar an. Die Oeffentlichkeit wird ausgeschloffen sein.
* Paris, 1. Januar. Der Kaiser,von Rußland richtete gestern aus Gatschina folgendes Telegramm an den Präsidenten Faure: An der Schwelle des neuen Jahres ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen in meinem Namen und dem der Kaiserin die aufrichtigen Wünsche auszusprechen, die wir für Ihre Person und für das befreundete Frankreich hegen. Sie kennen die Gefühle, die uns beseelen, und können nicht daran zweifeln, daß Ihr Besuch in Rußland bei uns eine unauslöschliche Erinnerung hinterlassen hat. gez. Nikolaus. Faure erwiderte telegraphisch: Die Wünsche, die Ew. Majestät und Ihre Majestät die Kaiserin an diesem Tage für mein Vaterland hegen, werden die Herzen aller Franzosen rühren. In ihrem Namen danke ich Ew. Majestät dafür aufs lebhafteste und bin Ew. Majestät dankbar für die Wünsche, die Ew. Majestät an meine Person richten. Ich erneuere Ew. Majestät die Versicherung meiner aufrichtigen Zuneigung, gez. Felix Faure.
* London, 3. Jan. Der „Manchester Guardian" teilt in einem ausführlichen, gut informierten Artikel mit, England habe China und die Mächte benachrichtigt, daß es keine speziellen Rechte anerkennen werde, die China in irgend einem chinesischen Hafen irgend einer Macht einräumen werde. Wenn Rußland das Recht erhielte, Schiffe in Port Arthur überwintern zu lassen, würde England dies Recht auch verlangen. Darum seien die englischen Schiffe „ Jmmortalite" u. „Jphigenia" bei Port Arthur eingelaufen. Wenn Deutschland das Recht erhielte, Kiao-Tschau als Flottenstation zu benützen, müßte dies auch zugleich England gewährt werden. Sobald China Deutschland bezüglich Kiao- Tschau Konzessionen mache, würden auch dort englische Schiffe einlaufen. Bezüglich aller sonstigen Konzessionen verlange England ebenfalls das Recht der meistbegünstigten Nation und werde dies eventuell mit Gewalt durchsetzen. Im Falle China Land abträte, würde England eine Kompensation verlangen.
* Der unfähige Befehlshaber des unfähigen griechischen Heeres, der Kronprinz Konstantin, geht ein Jahr auf Urlaub, „um seine angegriffene Gesundheit zu stärken." In Wirklichkeit drückte er sich, um durch seinen Anblick die rabiaten Athener nicht aufzuregen. Der Kronprinz geht mit seiner Familie an die Riviera, und während des Sommers wird er sich bei seiner Schwiegermutter, der Kaiserin Friedrich, in Kronberg aufhalten. Sodann soll Aufenthalt in Kopenhagen und London genommen werden.
^Toronto, 3. Jan. Bei einer sehr stark besuchten Volksversammlung, die in der vergangenen Nacht im Rathause von London (Canada) stattfand, brach der Fußboden ein. Der Versammlung wohnten etwa 2000 Personen bei. Infolge Nachgebens eines verfaulten Balkens brachen 400 Quadratfuß des Fußbodens ein, sodaß eine trichterförmige Oeffnung entstand, in welche 200 Personen hinabstürzten. Ein sehr starker Geldschrank und eine Menge Eisenwerk fiel noch auf dieselben herab. Feuerrufe brachten eine furchtbare Panik zum Ausbruche. Die Verunglückten waren in den Amtsraum des Bürgermeisters hinabgestürzt, wo der Fußboden durchgeschlagen wurde, sodaß ein großer Menschenknäuel in den Keller hinabgeriffen
dahergesprengt, um mit der neugewonnenen Freundin ein Stündlein zu plaudern, und Volkmann samt Konrad waren desgleichen nicht minder fleißige und gern gesehene Besucher.
Konrad sagte kein Wort mehr gegen Frau Ballung; er tadelte sie nicht, lobte sie aber ebensowenig, wie er auch ihre Unterhaltung weder zu suchen, noch zu meiden schien.
Bei seinen Besuchen beschäftigte er sich vorzugsweise mit dem Herrn des Hauses, auch Tante Amanda hatte sich seiner Gunst zu erfreuen, die Hausfrau wurde von ihm mit jener Artigkeit behandelt, die ihr gebührte, aber auch um kein Jota mehr.
Was Rosina anbelangt, so hatte sie vom ersten Zusammentreffen an Melitta ihre wärmste Freundschaft zugewendet; sie überschüttete die junge Frau mit tausend kleinen Aufmerksamkeiten, wie sie eben das Zeichen der innigsten Zuneigung sind, so daß Volkmann oft lachend sagte, sie verziehe ihm gründlich seine kleine Frau, die täglich anspruchsvoller werde.
So verging der Winter in der angenehmsten Weise; der Frühling kam mit seiner ganzen Pracht ins Land. Auf den Fluren duftete, sproßte und grünte es mit erneuerter Herrlichkeit, die ganze Natur erwachte zu frischem, fröhlichen Leben.
Mit jubelnder Freude begrüßte Melitta die von ihr stets so sehr geliebte Frühlingszeit; sie fühlte sich glücklich und zufrieden wie nie in ihrem Leben.
Alle bangen Ahnungen waren verschwunden, heiter und sonnig lag ibr Lebenspfad vor ihr, sie liebte ihren Gatten und wußte sich von ihm geliebt, sie hatte
«mcke. Die Zahl der Verunglückten ist bis jetzt auf 28 Tote und 100 Verwundete festgestellt; unter ihnen find viele hervorragende Bürger der Stadt.
* Kairo, 3. Jan. Vorgestern früh passierten die egyptischen Kanonenboote „Schendi" und „Metemmeh" und fuhren 20 englische Meilen weiter stromaufwärts. Die Derwische ervffneten auf sie von beiden Ufern aus ein heftiges Feuer, das jedoch durch die egyptischen Schnellfeuergeschütze zum Schweigen gebracht wurde. 4 Frachtschiffe wurden von den Kanonenboote» vor ihrer Rückfahrt gekapert.
* Madrid, 3. Jan. Nach einer amtlichen Depesche aus Manila von vorgestern ist an mehreren Orten die spanische Flagge gehißt und von den Aufständischen unter den Rufen: „Es lebe Spanien!" salutirt worden.
* New York, 3. Jan. Der „Newyork Herald" publiziert ein Interview mit Li-Hung-Tschang, der erklärte, Deutschland habe das Völkerrecht durch die Truppenlandung gröblich verletzt.
* In New-Aork hat der verheiratete 45 Jahre alte Konstantin Staiger vonRatshausen, O A. Spaichingen, einen zweifachen Mord, den eines Küsters und eines Polizisten, die er bei einem Kirchenraub erschossen hatte, im elektrischen Stuhle büssen müssen. Der Delinquent wanderte schon im Jahre 1871 als 19jähriger Bursche nach Amerika, soll dort ein sehr bewegtes Leben geführt und öfters mit dem Zuchthaus Bekanntschaft gemacht haben.
* Die Kulturgeschichte wird es als einen Fortschritt bezeichnen, wenn die europäischen Mächte mit Gewalt die verschlossenen Thore Chinas aufsprengen. Der dumpfe Moder veralteter Zustände lagert über dem Riesenreiche. Auch die chinesische Rechtspflege steht noch auf der niedersten Stufe. Die willkürliche Handhabung derselben durch die zumeist gewissenlosen, bestechlichen und nachlässigen Beamten flößen dem Volke ein so furchtbares Grauen ein, daß es zumeist auf eine Hilfe von Seiten der Gerichte verzichtet. Der jetzige Kaiser Kuangsi äußerte selbst, es sei ganz gut, daß die Menschen sich vor den Gerichten fürchten, sie sollen sich eben vertragen. Diejenigen, welche sich an die Richter wenden, sollen mit der ganzen Strenge behandelt werden.
Reueste Rachrichte».
* Madrid, 4. Jan. Trotz des Rückgangs der Zolleinnahmen haben die Staatseinnahmen im Dezember einen Zuwachs von 21^ Millionen erfahren. — Als Preis seiner Unterwerfung mit 15000 Mann erhielt Aguinaldo 2 Millionen Pesetas.
* Berlin, 4. Jan. Kapitän Rosendahl, bisher Kommandant des Kriegsschiffes „Friedrich Karl", ist gestern zum Befehlshaber an Land über die deutschen Streitkräfte in Kiaotschau ernannt worden.
* Prag, 4. Jan. Die in Karlsbad wegen Diebstahls abgeurteilten berüchtigten Taschendiebe Christof Buchholz und Wilhelm Hartsche, beide aus Hamburg, sind mit zwei anderen Complicen aus dem Gefängnisse in Elbogen entflohen. Sie durchbrachen nachts das Gitter der Zelle und entflohen in Sträflingskleidern. Die beiden Erstgenannten hätten nach Abbüßung ihrer Strafe an Deutschland ausgeliefert werden sollen.
Verantwortlicher Red kreur: W. Rieker Alten steig.
eine ihr zärtlich ergebene Freundin, in Konrad einen treuen Bruder, was wollte sie mehr?
Alle Phantastereien ihrer Mädchenjahre lagen weit hinter ihr, sie vergaß ihre thörichten Wünsche und Träume von ehedem; ihr Haus war ihre Welt und ihr Abgott der Mann, den sie ihren Gatten nannte.
An einem schönen warmen Sonntagsnachmittag fuhr das Bolkmannsche Ehepaar mit Konrad nach dem Herrenhause. Tante Amanda empfing sie geschäftig im Hofe.
„Wie gut. daß Sie kommen," rief sie eilfertig, „wir haben gar seltene Gäste bekommen."
„Darum sind Sie heute so schön, Tantchen," lachte Melitta übermütig; „lichtgraue Seidenrobe mit dunkelroten Schleifen, Tantchen, Tantchen, ich wette, eS sind junge Herren da." Sie drohte ihr schelmisch mit dem Finger, Fräulein Amanda wurde so rot wie ihre Bandschleife."
„Herren und Damen, kommen Sie nur, Rosina wird Ihre Gegenwart als eine Erlösung begrüßen; Sie wissen ja, sie fühlt sich immer beengt, wenn viele Fremde da sind, — bitte, hier herein, alles ist im Gartensalon versammelt."
Melitta trat am Arme ihres Gatten fröhlich ein. aber wie vom Blitze getroffen blieb sie an der Schwelle stehen. Ueber den Lehnstuhl des Hausherrn gebeugt stand Cornaro, einige Schritte weiter, mit mehreren Herren lachend und plaudernd, die Baronin Königsegg.
Melittas erste Regung war, sofort den Salon zu verlassen. O hätte sie geahnt, was ihrer hier wartete, um keinen Preis der Welt würde sie heute die Schwelle dieses ihr sonst so lieben Hauses betreten haben! (F. f.)