„Wie können Sie wagen!" sagte sie leidenschaftlich. „Ach. ich werde niemals vergessen, daß ich meine Hände mit den Ihrigen in Berührung kommen ließ, mit der Hand eines —*
Aber das grausame Wort kam nicht hervor. Wie sehr sie sich auch dazu zwang, die bleichen Lippen persagten ihr den Dienst. Er stand ruhig da und wartete, daß sie nun weiter spräche.
„Wissen Sie, daß Hartley tot ist?" sagte sie beinahe wild in ihrem Schmerz und in ihrer Angst.
„Ja, der arme Bursche!* erwiderte er traurig.
„Und — und daß man weiß, daß Sie hier in der Umgegend verborgen sind?* fuhr sie auf dieselbe abgebrochene Weise fort.
Sein Blick verfinsterte sich.
„Ach!* sagte er langsam. „Und man sucht nach mir?"
.Ja."
„Und Sie glauben, daß man mich hier finden wird, Fräulein Mary?*
Diese Worte waren in einem unaussprechlich zärtlichem Tone gesprochen, aber Mary schauderte, als ob man ihr einen Schlag versetzt hält.
Sie sank matt auf einen niederen Stuhl, der nahe am Tisch stand, und ihren Arm ausstützend, beugte sie ihr Gesicht nieder und verbarg es vor den sie beobachtenden Augen, die jede ihrer Bewegungen mit Aufmerksamkeit verfolgten.
„Was möchten Sie, daß ich thäte, Fräulein Mary?" fragte er nach wenigen Minuten mit ernster und ruhiger Stimme. Mary erhob ihr Haupt mit matter, hoffnungsloser, verzweifelnder Ruhe.
„Ich weiß nicht," sagte sie schwach. „Ich kann darüber nicht urteilen. Es ist so verworren und elend."
„Glauben Sie" — er hatte sich ihr wiederum genähert — „daß ich ein —"
„Ach, still!" rief sie in tiefstem Schmerz aus. „Ich kann, — ich kann es nicht ertragen."
„Vergeben Sie mir," sagte er sanft. „Fräulein Mary, wenn ich Ihnen sage, daß ich unschuldig bin, wollen Sie mir dann glauben?"
Sie erhob ihre Augen zu deü seinen, die sie erwartungsvoll anblickten.
„Wollen Sie mir das sagen?" sagte sie atemlos. „Können Sie mir das sagen?"
Er sah sie einen Augenblick fest an; dann schien er seine Absicht zu ändern, er zog sich leise zurück und verharrte in Stillschweigen. Marys Haupt sank wieder zurück, matter denn je.
„Soll ich gehen und mich ergeben?" fragte er ernst, indem er ein ziemlich befriedigtes Lächeln unter seinem langen blonden Schnurrbart verbarg.
Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und streckte die Hand in abwehrender Bewegung aus.
Eine Minute lang herrschte vollkommenes Stillschweigen, während dieser Zeit kämpfte Mary um Ruhe, und Herr Keith wartete. Gewandte keinen Blick von dem gebeugten Haupt, von der zarten, schlanken Gestalt, die jetzt so hinfällig war und die gestern noch voller Leben und Kraft erschien.
„Ich warte," sagte er zuletzt; Mary erhob sich und hielt sich mit einer Hand am Tisch, neben welchem sie stand, fest.
„Ich weiß nicht," antwortete sie mitleidig. „Ich kann nicht denken; aber wenn nian Sie sucht, wird man Sie hier finden."
„Gut," sagte er kühl, „mag man mich finden — hier!"
„Aber" — ihre Stimme war jetzt ruhig, und so leise, daß die Worte kauni sein Ohr erreichten — „muß man Sie finden?"
„Wenn ich bleibe — ja. Und wäre es nicht recht, wenn sie mich fänden?"
„Vielleicht, aber ich weiß nicht, und cs thut mir wehe, zu denken, daß—"
Die leisen, regelmäßigen Töne hörten auf, und ein schwacher Glanz von Purpurglut färbte die blassen, abgehärmten Wangen.
„Daß, was ...?" sagte er ruhig.
„Daß — o, ich kann es nicht ertragen! Wollen Sie gehen — wollen Sie gehen?"
All' ihre mühsam errungene Ruhe war dahin; sie stellte sich im Geiste vor, wie die Polizei kommen, ihn hier finden, ins Gefängnis schleppen und vielleicht gar zum Tod führen würde; und sie streckte nun in ihrer Todesangst ihre zitternden Hände nach ihm aus. Er erfaßte sie und hielt sie mit einem warmen Drucke fest.
„Fräulein Mary," sagte er sanft, „heißen Sie mich versuchen, zu entkommen?"
„Ja, o ja!" antwortete sie matt.
„Sie denken nicht daran, daß dann Gerechtigkeit ausgeübt werde?"
„Ich denke an Ihre arme Mutter," sagte sie mitleidig. „Vielleicht ist es nicht recht, aber —"
„Wäre es aber nur um meiner Mutter willen?" fragte er leise, als er seine forschenden Blicke auf ihr Gesicht hoffnungs- und erwartungsvoll niederbeugte.
Mary ließ sie die ihrigen einen Augenblick treffen, dann rang sie ihre Hände in stolzer, verzweisluugsvoller, leidenschaftlicher Gerberde von ihm los.
„Wie können Sie wagen?" sagte sie wild, dann ließ sie ihr Haupt auf ihre Hände sinken und brach in Thränen aus.
„Fräulein Mary," sagte er, „was soll ich denken? Können Sie sich einbilden, daß ich alle Ihre mir hier bewiesene Güte vergesse? Denken Sie, ich kann Ihre Freundlichkeit an jenem schrecklichen Abend vergessen? Wie könnte ich es hindern?" —
Aber sie unterbrach ihn mit einem herzerschütternden Schrei.
„Bin ich nicht beschämt genug?" sagte sie in kläglichem Ton. „Denken Sie nicht, daß es Seelenangst genug ist, zu wissen, daß — Ach, wollen Sie gehen — wollen Sie gehen! Möge Ihr Verbrechen sein,
was es wolle, es ist nicht — Ach, um Ihrer Mutter willen, wollen Sie nicht gehen?"
„Ja", antwortete er endlich, „ich will gehen."
Als er sprach, wandte er sich ruhig von ihr und ging der Thür zu; aber sie sprang auf zwischen ihn und dieselbe, versperrte ihm mit dem Arm den Weg und rief leidenschaftlich: „Sind sie wahnsinnig? Jetzt bei Hellem Tageslicht! Sie müssen bis heute abend warten, bis es dunkel wird."
„Bei Nacht," sagte er, ein wenig lächelnd, „und in dem Schnee? Gut, da Sie es so wünschen, soll es geschehen."
Sie wandte sich leicht ab, als sie an der Thür stand und sah ihn an, wie er dastand, so groß und blaß. Wie sollte er wohl den gefahrvollen Zustand seiner Lage ertragen? Wie sollte er die grausame Külte und den Schnee ertragen? lind doch mußte er fort.
„Heute abend",'sagte sie matt, .müssen Sic fort; aber mir fallen die Mittel zu Ihrer Flucht noch nicht ei». Ich wage nicht einmal Robert zn bitten, Ihnen zu helfen. Haben Sie —" eine peinliche Nöte übergoß ihr Gesicht von neuem — „haben Sie Geld bei sich?"
„Nein — keines," antwortete er ruhig.
Ich habe Ihnen dies mitgebracht," sagte sie stotternd, indem sie ihm eine kleine rote Börse hinhielt. „Es ist nicht viel, aber es wird Ihnen helfen und . . . ."
Er nahm sie aus ihrer Hand und nahm ruhig die Banknoten, die sie enthielt, heraus und legte sie auf den Tisch.
„Ich kann Ihr Geld nicht nehmen", sagte er; „aber wenn Sie mir gestatten wollen, will ich die Börse behalten und sie Ihnen vielleicht eines Tages einmal wieder zeigen."
Es war ein niedliches, hübsches Portemonnaie von Saffianleder mit Silberbeschlag. Auf einer kleinen Silberplatte war der Name „Mary" eingraviert. Herr Keith betrachtete es mit zärtlichen Blicken, dann mit einemmal drückte er seine Lippen auf das Silber und blickte Mary dabei an.
„Sie müssen das Geld nehmen," sagte sie matt; „ohne dasselbe ist für Sie keine Sicherheit vorhanden. Und nun — wollen Sie fort — heute abend?"
„Ich will heute abend gehen."
„Und Sie wollen sich bemühen, zu entfliehen?" fragte sie hastig.
„Ich glaube, es wird mir einerlei sein, was aus mir wird, wenn ich dieses Zimmer verlassen haben werde," sagte er schmerzlich bewegt.
„O, denken Sie, denken Sie doch an ihre Mutter!" bat sie ernst und ihr Gesicht, wie sie es ihm zuwandte, trug den Ansdruck tiefsten Schmerzes.
„Ja, ich will an meine Mutter denken," sagte er ruhig. „Gehen Sie jetzt, Fräulein Mary? Verlassen Sie mich so? Haben Sie kein Abschiedswort für mich? Wenn wir uns nie wieder sehen sollten, wollen Sie mir für immer einen traurigen Gedanken mitgeben, Mary?"
Sie konnte nicht antworten und wandte sich nur stillschweigend ab, bitter, mit gebrochenem Herzen. Wie konnte sie, das arme Kind, ihm sagen, was gerade da in ihrem Herzen vorgiug? — Er sollte gehen, und dann nahm er eine leidenschaftliche, dauernde, unsterbliche Liebe mit sich, die sogar der Gedanke an das Verbrechen, das er begangen, nicht töten konnte. Als sie sich weiterbewegte, folgte er ihr, und als sie ihre Hand auf die Thürklinke legte, streckte er seine Hand ans und hinderte sie nun seinerseits, sie zu öffnen.
„Fräulein Mary", sagte er weich, „geben Sie mir ein freundliches Wort."
Sie erhob ihre Augen zn dm seinen in stummer Scelenaugst, und als er zürückbebte und fast den Blick ans den wunderschönen, verzweifelt aussehenden Augen zu fürchten schien, schlüpfte sie an ihm vorbei, öffnete schnell die Thür und war verschwunden.
Und Bertie Keith mit zärtlichem, sorgenvollem und doch glücklichem Blick im Gesicht ging langsam an den Kamin und hielt die kleine, silberbeschlagene Börse in seinen Händen.
(Fortsetzung folgt.)
Der erste Schnee.
O laßt mich's einmal sagen,
Was mir das Liebste ist,
Was in des Jahres Tagen Mein Herz am sroh'sten grüßt;
Es ist nicht Frühlings Blüte,
Nicht Sommers Korn und Klee, Auch nicht des Herbstes Güte, — Es ist der erste Schnee!
Seh' ich den Frühling kehren, Dünkt mir die Welt zu weit;
Schau ich des Sommers Achren, Dann auch manch' Wetter dräut; Der Herbst mit seiner Fülle Zeigt des Verwelkens Näh';
Drum sehn' ich mich ganz stille Steis nach dem ersten Schnee.
Wie wohl wird's dann dem Herzen Es denkt: So wird mir's sein,
Auch meine Freud und Schmerzen Hüllt weißes Tuch einst ein;
Was dunkel oder Helle I» meinem Leben je,
Deckt an der Schlnmmerstelle Auch einst — der erste Schnee.
Lesefrüchte.
Wenn eine Sache glückt und klappt,
Hat Jeder teil daran gehabt,
Jedoch wenn sie in Stücke geht,
Ihr Jeder gern den glücken kehrt.
An die Vergangenheit und Zukunft pflegen wir meist mit dem Herzen zu denken, an die Gegenwart mit dem Verstände. Und darum dünkt uns die Welt, in der wir gerade leben, eben die Gegenwart, oft so lieblos und kalt.
H»orsiköen-Hlätsek.
Hast Dn's mit Recht, so steht Dir zu, Als Erster Dich zu zeigen;
Doch stellst Du einem Laut es vor, Wär' vorteilhafter: schweige».
Mit dem Geschmack läßt's ahnen Dich, Was noch dereinst kann kommen;
Mit Witz kann es nur wenig Dir Und Deinem Anseh'n frommen.
Siehst Du's mit Liebe im Verein,
Hast Du's für Dies und Jenes;
Und wenn an Bildern Du's erblickst, Solls lehren Dir nur Schönes.
Auflösung folgt in nächster Nr.
Verantwortlicher Red.: W. Rieker, Altensteig.