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wirkt. Die ganze politische Stimmung in Deutschland sei gegenwärtig eine derartig mißmutige und verärgerte, daß sie bei den letzten Ersatzwahlen der Sozialdemokratie Erfolg über Erfolg gebracht habe. Es fei aber töricht, dieser Mißstimmung durch Unterstützung der Sozialdemokratie Ausdruck zu geben. Selbst wenn die. doppelte Zahl von sozialdemokratischen Abgeordneten in den Reichstag einziehe, so bedeute dies keine Besserung, da die Sozialdemokratie nicht positiv mitarbeite. Mit Leuten, deren Bestreben dahingehe, da« Bestehende auf den Kopf zu stellen, sei es unmöglich, eine gesunde Gesetzgebung zu erzielen. Leichter werde es sein, sich mit der nationalliberalea Partei zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden Bekannt sei, daß diese Partei einen rechten und einen linken Flügel habe und mit letzterem könne die Volkspartei Hand in Hand gehen; es frag; sich nur, ob diese Anschauung die Oberhand bekomme und den Anschluß »ach links auch wirklich suche. In Sachsen und Thüringen arbeiten Volkrpar tci und Nationalliberale bereits miteinander gegen die Feinde von rechts und links. Wä.e die Regierung nicht umgefallen und hätte sie sich nicht dem Zentrum arttgrliefert, so wäre die Finanzreform auch im Sinne der Volkspartei zustande gekommen.
Der Redner kam hierauf auf da« Kaligesetz und die Wertzuwachssteuer eingehend zu sprechen. Das erster« Gesetz ist bereits am 1. Juli in Kraft getreten. ES regelt die Herstellung und die Verkauf; preise des Kalis. Das Gesetz sei, trotzdem ei den süddeutschen Landwirten keineswegs Vorteile bringe, doch in den betreffenden Kreisen sehr ruhig hingenomme« worden. Diese Haltung sei dadurch erklärlich, daß da« Kalisyndikat dem Bund der Landwirte eine Viertelmillion Mark zur Verfügung ge stellt habe.
Das andere Gesetz, die Wertzuwachssteuer, werde den Reichstag nach seinem Wiederzusammentritt beschäftigen. Dem Gesetz stehe er (Redner) an und für sich sympathisch gegenüber, obgleich er sich nicht verhehle, daß das Gesetz viele Nachteile in sich berge. Die gegenwärtige Fassung der Vorlage bestimme, daß die Steuer bis zu einem Satze von 34 °/» erhoben werden soll, wa« ungemein hoch sei. Sodann sollte die Steuer nicht zugunsten des Reichs sondern der Gemeinden erhoben werden. Wenn es gelinge, die Vorlage nach dieser Richtung abzuändern, werde er für sie stimmen; vielleicht könnte man dann die lästige Fahrkartensteuer abschaffen; die Hoffnung hierauf sei aber nicht groß.
Zum Schluß kam der Redner auf die nächsten Reichstagswahlen zu sprechen, wobei er einem Zusammenschluß der liberalen Parteien da« Wort redete. Das deutsche Volk habe e« in der Hand, durch da» allgemeine Wahlrecht
eine Aenderung der gegenwärtigen politischen Lage herbeizuführen. Die bürgerlichen Parteien müßten zusammengehen, um de» schwarzblauen Block erfolgreich zu bekämpfen. Der neue Block entspreche nicht der Mehrheit des deutschen Volkes, er müsse zertrümmert werden und hiezu mitzu- hrlfen, sei die Pflicht aller liberalen Wähler.
Den maßvollen und klaren Ausführungen des Redners wurde der lebhafteste Beifall zuteil. An der sich anschließenden Diskussion beteiligten sich Rechtsanwalt Ilion, Kaufmann E. Dreiß und Sägwerkbesitzer Wagner- Ernstmühl. Die Redner erklärten ihr Einverständnis mit der Haltung des Abgeordneten in ver schiedenen Fragen der Politik.
Uebcr die Geschichte und Entwicklung der Fusion der 3 liberalen Parteien za 1 Partei, der fortschrittlichen Volkspartei, machten nähere Mitteilungen RnchStagsabgeordneter Schweick- hardt, Postsekretär Kauffmann und der Vorsitzende. Die Fusion und die Gründung einer Ortsgruppe Calw wurde gutgeheißen und angenommen. Die Versammlung brachte einen recht lebhaften Meinuvgsaur tausch und nahm einen sehr anregenden Verlauf.
Alt Hengst ett. (Egsdt.) Trotzdem zum Schuhmacher- und Sattler-Handwerk disEinjäh- rigm-Prüfung heute noch nicht verlangt wird, macht sich hier ein Mangel dieser Handwerker fühlbar. In unserem über 1000 Einwohner zählenden Ort ist ein einziger Schuhmach erweist er, der den Geschaftsansall nicht zu bewältigen vermag, so daß man sich genötigt sieht, seine Stiefel auswärts zu kaufen und flicken zu lasten. Das Sattlerhandwerk fehlt am hies. Platz ganz.
Leonberg 15. Nov. Der der Brandstiftung beim letzten Brand in HeimSheim verdächtige Sohn des abgebrannten Schmid- meisterS Seitler hatte gestanden, in die Scheuerwand ein Loch gebrochen und dann durch die so gewonnene Oeffnung Reisig gestopft und diese« angezündet zu haben. Spüler jedoch widerrief er seine Aussage, doch wurde rr trotzdem verhaftet.
Stuttgart 15. Nov. (Verkehrsstörung.) Heute nachmittag kurz nach 4 Uhr ist die Oberleitung der Straßenbahn in der Schloßstraße vor dem Hauptbahnhof gebrochen, so daß der Verkehr fast eine Stunde unterbrochen war und durch Umsteigen aufrecht erhalten werden mußte.
Stuttgart 15. Nov. Gestern abend 7 Uhr entgleiste« in Nufringen beim Einstellen von Wagen is den Güterzug 7078 zwei leere Latrinenwagen. Das Hauptgleis war 4 Stunde« lang gesperrt, so daß an der Unfallstelle umge- stiegev und der Zug v 37 Mailand-Stuttgart-
Berlin über Plochingen «mgeleitet werde» mußte. Verletzt wurde niemand.
Stuttgart 15. Nov. (Schwurgericht.) Wegen Kindstötung wurde gegen die getrennt lebende HeizerSehefrau Wilhelmiae Eitel von Altensteig verhandelt. Die Geschworenen sprachen die Angeklagte nur der fahrlässigen Tötung schuldig. Das Urteil lautete sodann auf 8 Monate Gefängnis, wovon 2 Monate Untsrsuchungthaft abgehen.
Stuttgart 15. Nov. Bei der heutigen Ziehung der Geldlotterie zu Gunsten des Krankenhauses in Lauchheim fiel der Hauptgewinn von 15 000 auf Nr. 35 857, der zweite Gewinn von 5 000 ^ aus 20184, der dritte Gewinn von 2 000 auf Nr. 57 474. Je 1000 ^ fiele» auf Nr. 74 347, 65114, je 500 ^ auf Nr. 35 788, 36 676 (ohne Gewähr.)
Stuttgart 15. Nov. (Obstmarktbericht.) Die Taft lobst preise auf dem Stuttgarter EngroS- markt waren folgende: Aepfel 8—14-A, Birnen 10—24 alles für 50 KZ. SorLrnpreise unverändert. Zufuhr genügend. Verkauf langsam.
Eßlingen 15 Nov. Die in der Nacht zum 12. September auf dem hiesigen Bahnhof gestohlenen Juwelen sind nunmehr znm größten Teil bergebracht. Der jetzt verhaftete Täter, Eugen Canova, hatte sie in den K. Anlagen in Stuttgart vergraben, wo sie von einem Bahnarbeiter aufgefnnden wurden.
Tübingen 15. Nov. (Fleischabschlag. — Vergnügungsmefse. — VolkSunter- richtskurse.) Ein Fkischabschlag ist hier ein- getrsten bei Ochsen und Rindfleisch um je 4 ^ für das Pfund. — Dis Vergnügungsmeffe de« MartimmarkteS findet diesmal auf dem schönen Platz in dr» Alleen vor dem Bahnhof statt. ES herrscht der gewöhnliche Rummel. — Hier hat sich ein Ausschuß gebildet, dem hauptsächlich Studenten angehören, aber auch einige Damen, zur Abhaltung von Volksunterrichtskursen. Die Kurse find ganz unentgeltlich und bezwecken eine Fortbildung der Arbeiter rc. in den Elementar- fächern. Solche „Arbeiterunierrichtskmse", wie sie anderwärts heißen, bestehen schon an 23 deutschen Hochschulen. Professor Dr. Wildbrandt hier, trat in einem Vortrag warm für Schaffung solcher Unterrichttkurse auch hier ein, worauf sich ein Komitee bildete, da« dis nächsten Schritte dazu tun wird. Industrielle Arbeiter haben wir freilich hier weniger, aber es gibt noch genug Leute, dis einer Fortbildung ihrer Kenntniffe bedürfen. ES ist nur fraglich, ob sie sich zu den Kurses eir-fi-iden.
Geislingen a. St. 15. Nov. Bei dem im Entstehen begriffenen AlbelektrizitätS- werk haben nach einer Erklärung des Vorsitzenden des Aussichtsrats die Felten- und
werde in ihm fortan nichts sehen als den Freund ihres Bruders? Ihr Brief enthielt kaum vier Zeile«, aber ihr Herz brach fast, al« sie die Worte auf da« Papier warf.
Da» Schicksal bewahrte st« indessen vor der Prüfung, seinen Anblick wieder uvd wieder ertragen zu müssen — allerdings durch einen nruen und noch schwereren Schlag. Ihr war e» seltsam erschienen, daß Reinhart seine klare Besinnung nicht wieder erlangte und befremdet teilte sie dem Arzte des Kranken, als er am Nachmittag erschien, die Tatsache mit.
Dieser erwiderte kein Wort, sondern fuhr fort, den Patienten mit angelegentlicher Aufmerksamkeit zu betrachten.
„Glauben Sie, daß das ei« schlechtes Symptom ist, Herr Doktor?" forschte Gertrud unruhig.
Noch immer keine Antwort. „Sie fürchten, er wird nicht wieder genesen?" rief das jung« Mädchen voll Angst.
„Genesen?" antwortete Dr. Fresen langsam und unsicher, während ein Schimmer innigen Mitleids über seine jovialen Züge flog. „Es kommt darauf an, wa» Sie darunter verstehen — sein Körper wird sicher genesen", verbesserte er sich rasch.
Gertrud entging der seltsame Nachdruck nicht, welche« der Arzt auf da» Wort „Körper" legte.
„Und sein Geist — sein Geist nicht?" rief sie entsetzt.
Der Doktor zögerte noch einen Augenblick, dann erklärte er, sie besitze ja einen starken Geist und er erkenne die Notwendigkeit, offen mit ihr zu sprechen. „Meine anfängliche Annahme, es handle sich um ein Nervenfiebrr, ist irrig — wir habe» es offenbar mit einem psychischen Leiden zu tun —"
Gertrud barg weinend ihr Antlitz in den Hände».
„Er ist geistig umnachtet?"
„Ja. E» wird am besten sein, ihn so schnell als möglich einer
Anstalt zu übergeben — jeder Augenblick kann Parcxysmen bringen, die den Armen zu einer großen Gefahr für Sie und seine Umgebung gestalten."
„Mein Gott, mein Gott — und ist kriae Hoffnung auf seine Wiederherstellung?"
„DaS sage ich nicht. Darüber läßt sich noch kein Urteil fällen. Habe« Sie in ihrer Familie schon Fälle von Geistesstörung zu verzeichnen?"
„Soviel mir bekannt, nicht."
„Eltern — Großeltern —"
„Waren alle völlig normal!"
„Hm — und irgendwelche nervöse Disposition liegt anscheinend nicht vor?"
„Ich weiß nicht —"
„Nun, vielleicht handelt es sich nur um sogenannte ErschöpsungS- delirien, wie sie nach übermäßigen geistigen u-d körperlichen Anstrengungen aufzutreten pflegen. Die Bedingungen für deren Entstehung sind ja gegeben: die jahrelange strapaziöse Reise, der lange Aufenthalt in den Tropen, Inanspruchnahme de» Körpers durch da» Fieber bis zur Erschöpfung, Aufregungen aller Art, Verwundungen —"
„Und ist in diesem Falle Aussicht auf Genesung vorhanden?
„In diesem? Ja — doch wie gesagt, ich maße mir nicht an, eine sichere Diagnose und Prognose zu stellen. Auf keinem Gebiete find die Ueberraschungen für «ns Aerzte frappierender al« auf diesem. Jedenfalls ist e» das beste, wenn sofort die geeignete Behandlung eingeleitet wird. Verzagen Sie daher nicht, liebes Fräulein, wenn Sie uns den Kranken anvertrauen wollen, so will ich für ihn tun, was nur irgend ein Bruder für seinen Bruder tu» kann."
Gertrud reichte im Drange tiefer Bewegung und Dankbarkeit dem wackeren Manne die Hand, ohne zu merken, daß er bei ihrer Berührung leicht erglühte und sei» Auge von ihr abwandte.
(Fortsetzung folgt.)