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Wilhelm Welsch von Häslach in Hast behalten. Ueber die Dauer der Untersuchung« Verhandlungen und Leichenstktionen steigerte sich die Aufregung der Walddorfer noch mehr. Welsch mußte bei seiner Abführung nach Tübingen durch die Landjäger geschützt werden. Der Witwe Wetzel, die so plötzlich den Mann und den ältesten Sohn verloren und noch für drei Kinder zu sorgen hat, wendet sich allgemeine Teilnahme zu, was auch die heutige Beerdigungtfeier bewies.
Tübingen 1. Juni. Zur Feier des 2000. Studenten veröffentlicht Wilh. Mollenkopf in der „Tübinger Chronik" folgende niedlichen Verse:
Hurra! Was sich ließ erhoffen,
Nun ist's wirklich eingetroffen:
Der Zweitausendste ist da,
Vivat Academia!
Freude herrscht drob bei Magistern Und bei allen Bierphilistern,
Daß der Studio erschien.
Froh heißt man willkommen ihn.
Musensitz am Neckarstrande,
Perle du im Schwabenlande,
Dir gilt unser Glückwunsch heut:
Blüh' und wachse allezeit.
Stuttgart 1. Juni. (Strafkammer.) Das Martyrium eines Kindes entrollte eine Verhandlung vor der Strafkammer. Der verwitwete Händler Karl Spieß von hier war beschuldigt, seinen jetzt sechs Jahre alten Sohn Alfons längere Zeit aus« roheste mißhandelt zu haben. Wie die Verhandlung ergab, hat Spieß sein Züchtigungsrecht barbarisch überschritten. Die Anklage legte ihm zur Last, er habe sein Kind mehrmals aus dem Bett herausgerissen und cs die ganze Nacht, nur mit dem Hemd bekleidet, in der Küche auf dem Steinboden stehen lassen, ihm die Zähne hineingeschlagen, es unter die Wasserleitung gestellt und ihm einmal eine brennende Zigarre an die Schläfe gedrückt. Das arme Kind wurde von seinem unmenschlichen Vater mit einem Schürhaken und mit einem Schlauch grün und blau geschlagen. Das Kind wurde vielfach ohne jeden Grund geschlagen. Die Schwägerin des Angeklagten bezeugte, er habe eines Nachts das Kind aus dem Bett gerissen und es dreimal mit aller Wucht auf den Boden fallen lassen. Hausbewohner hörten das Kind MerS bei Nacht schreien und jammern. Die Mutter des Kindes ist im Februar gestorben, sie war zu schwach, um gegen die Mißhandlungen austreten zu können, sie befürchtete von ihrem Mann selbst mißhandelt zu werden. Das Kind ist jetzt in einer Anstalt untergebracht. Die Strafkammer verurteilte den unmenschlichen Vater zu 4 Monaten Gefängnis. Der Staatsanwalt hatte eine weit höhere Strafe beantragt.
Stockheim OA. Brackenheim 1. Juni. Gegen den in Heilbronn inhaftierten früheren Schultheißen Bosch soll, wie man hört, die
Untersuchung noch ausgedehnt werden wegen eines Meineids, den er in einer mit seinen Veruntreuungen zusammenhängenden Sache geschworen haben soll. Ein hiesiger Bürger behauptet, dem Bosch einen Geldbetrag von 800 übergeben zu haben zur Heiwzahlung an die Waisenkaffe Villingen; Bosch habe diesen Betrag nicht abgeliefert und in einem Beleidigungsprozeß, der daraus entstand, einen Meineid geleistet.
Friedrichshafen 1. Juni. Frühesten« heute abend kann mit der Füllung von 2 III begonnen werden, so daß für Freitag ernstlich an eine Probefahrt gedacht werden kann. Die Landung des gestern vormittag vom Zeppelingelände aufgestiegenen Freiballons „Friedrichshofen" erfolgte noch gestern abend 5 Uhr glatt bei Memmingen. Der Ballon kam heute vormittag hieher und wird heute für eine Nachtfahrt unter Führung von Oberingenieur Kober nachgefüllt.
Friedrichshafen l. Juni. Ein 28Jahre alter Kaufmann aus Eisenach versuchte sich in einem hiesigen Gasthof durch einen Schuß in die Magengegend das Leben zu nehmen. Der Schwerverletzte mußte zwecks sofortiger Operation in das Elisabethen-Krankenhaus übergeführt werden.
Berlin 1. Juni. Als der Kronprinz heute mittag nach Schluß der Parade über den Schloßplatz durch den Lustgarten zum Schloß ritt, wurde von einem offenbar geisteskranken Mann eine leere Konservenbüchse nach ihm geworfen, die vor die Füße eines Schutzmanns fiel. Der Mann wurde gefaßt und wird auf seinen Geisteszustand ärztlich untersucht werden. — Nach einer späteren Meldung stellte es sich heraus, daß die Konservenbüchse mit Perlbohnen gefüllt war. Ter Mann, der sie geschleudert hat, ist der Polizei schon seit längerer Zeit als Geisteskranker bekannt. Er heißt Eierweich, ist ein geborener Russe und betreibt hier in der Kaiser Wilhelmstraße ein Partiewaren geschäft.
Berlin I. Juni. Nach Blättermeldungen wurden dem Kronprinzen nach Beendigung der Parade vor dem kronprinzlichen Palais herzliche Ovationen dargebracht. Das Publikum drängte sich so dicht an den Wagen des Kronprinzen heran, daß dieser ausstieg und sich durch die ihm zujauchzcnden Massen einen Weg zum Palais bahnte. Der Kronprinz erschien alsdann mit der Kronprinzessin auf dem Balkon, wa« erneute Jubelstürme hervorrief.
Berlin 1. Juni. Der König der Belgier stattete heute nachmittag dem Reichskanzler einen halbstündigen Besuch ab.
Berlin 31. Mai. Die „Nordd. Allg. Ztg." schreibt über das Scheitern der Wahl- Vorlage, daß es im Interesse des Landes tief bedauerlich sei, daß kein positives Ergebnis
Festplatz mit heiteren und glücklichen Menschen. Auf dem Festplatz sangen die Kinder das herrliche Sommerlied „Geh aus mein Herz und suche Freud", sodann das Schwabenlied „Preisend mit viel schönen Reden", worauf die Verteilung des Calwer Nationalgebäckr, der Kümmelküchlein, erfolgte, an die sich die Spiele und Aufführungen der Kinder anschloffen. Mit leuchtenden Augen nahmen die Kinder die erzielten Geschenke in die Hand und zeigten sie ihren Angehörigen. Recht possierliche Dinge konnte man an den Kletterstangen und der Schaukelwalze beobachten, die stets von wagelustigen Knaben umlagert waren. Großem Interesse begegneten die prächtigen Luftballons, die hoch in die Lüfte aufstiegen und weithin mit dem Auge verfolgt werden konnten. Ueberall herrschte Freude und munteres Treiben. Der Festplatz selbst mit seinen prächtigen Kastanien- und Lindenbäumen war wie geschaffen zu der Festesfreude. Unter dem gewölbten Blätterdach saßen Hunderte von Personen in fröhlicher Unterhaltung beisammen. Die Rückkehr auf den Marktplatz erfolgte abends 7 Uhr, wo Dekan Roos eine Ansprache hielt und der schön verlaufene Tag seinen wohlgelungenen Abschluß fand durch den Gesang des alten Dankliedes „Nun danket alle Gott." — Das Kinderfest- komite hat sich mit der trefflich gelungenen Veranstaltung den wärmsten Dank der Kinder und ihrer Angehörigen verdient und das Fest zu einem wirklichen Volksfest gestaltet. Für die Zukunft wäre es angezeigt, daß der Festzug eine reichere Abwechslung durch Blumenwagen und dergl. erfahren und eine größere Beteiligung von Seiten der erwachsenen Jugend stattfinden würde.
— Das K. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Verkehrsabteilung, hat am 31. Mai d. I. die Stationskassierstelle in Calw dem Eisenbahnassistenten Leyh in Stuttgart Hauptbahnhof übertragen.
Neuenbürg 30. Mai. Die neu in« Leben gerufene Automobilverbindung zwischen Neuenbürg-Marxzell und Herrenalb, die seit 15. Mai im Betrieb ist, hat sich bis jetzt ganz gut eingesührt und wird namentlich auch von der ländlichen Bevölkerung viel benützt. Die bisherigen Ergebnisse lassen erkennen, daß das Unternehmen lebensfähig und ausdehnungsfähig ist. Die Gesellschaft hat bereits einen zweiten Wagen in Bestellung gegeben, der zunächst als Reservewagen dienen, später aber für den Winterbetrieb in Betracht kommen soll. ^
JselShausen OA. Nagold 1. Juni. Gestern nachmittag scheuten die Pferde des Fuhrwerk« von Lammwirt Baumann vor dem Zug und gingen durch, wobei der Knecht Blaich von Oberwaldach überfahren wurde. Er erlitt einen Beinbruch und mußte ins Bezirkskrankenhaus übergeführt werden. Die Pferde mit dem Fuhrwerk konnten aufgehalten werden.
Tübingen 1. Juni. Wegen des Totschlags in Walddorf wurde der Fabrikarbeiter
Garnison zurückgekehrt, nachdem er dem Bauer noch versprochen hatte, dessen Sohn Urlaub über die Erntezeit zu erwirken und mit ihm wieder auf dem Hof einzutreffen. Die Bäuerin hatte es zuwege gebracht, dem Abschied von dem Soldaten unter einem schicklichen Vorwand auszuweichen. E« wäre ihr peinlich gewesen, ihm die Hand zu reichen, und doch hätte sie die« im Beisein ihre» Mannes nicht verweigern können. Sie empfand die Entfernung Steiner'» wie die Erlösung von einer schweren, Leib und Seele bedrückenden Last und atmete erst wieder leicht und froh auf, als der Unteroffizier dem Hause den Rücken gekehrt hatte. Aber welche Ursache hatte denn die junge Frau, aus deren klaren Augen fast stets nur Sanftmut und Herzensgüte strahlten, sich gegen den hübschen Menschen so abweisend zu benehmen und ihm ihren Widerwillen oder, Keffer gesagt, ihre Verachtung offen zu zeigen? Die Leser haben dar volle Recht, diese Frage zu stellen, und da sie aus dem im vorigen Kapitel erzählten Gespräch Michel« mit der Kleinmagd ohnehin schon einen Teil von Frau Babettes Geschichte erkennen, so erübrigt nur noch, die Indiskretionen de» Knechts zu ergänzen und die Vergangenheit der Rodershoferin vollständig aufzuklären.
Das Gerücht, die nunmehrige Bäuerin habe als Mädchen eine heimliche Liebe im Herzen getragen, beruhte aus Wahrheit und war gleichwohl falsch, — wie man eben die Sache auffaffen will.. Denn zwischen der schönen Försterstochter Babette Weigand und dem Steinerfritz hatte allerdings ein Liebesverhältnis bestanden. Allein dieses war den beiderseitigen Vätern — die Mütter lebten schon längst nicht mehr — bekannt gewesen, von ihnen gebilligt worden und sollte die zwei LiebeSleute vor den Traualtar führen, sobald Fritz Steiner in der Lage wäre, eine Frau zu ernähren. Von einer Heimlichkeit konnte also nur insofern die Rede sein, als man die Verlobung nicht an die große Glocke hing und in die Welt
hinausläutete, sowie daß die beiden Väter den Verkehr ihrer Kinder au« unanfechtbaren Gründen auf ein Minimum einschränkten.
Immerhin sickerte aber soviel von der Wahrheit durch, daß die Klatschbasen de» Dorfe» etwas zu tuscheln bekamen und sich ins Ohr raunen konnten, die FörsterLbabett gehe mit dem Steinerfritz, worauf dann die gewöhnliche Bemerkung gemacht wurde, da könne wieder einmal der Bettelstecken mit dem Bettelranzen Hochzeit halten. Nun ja, arm waren die Leutchen, da» ließ sich nicht leugnen; der Schullehrer sogar noch ärmer als der Hackelförster, der sein kleines Gehalt wenigstens rechtzeitig vom Rentamt bezog, während der Lehrer der Gnade des Gemeindepfleger» überantwortet war und warten mußte, bis es diesem gefiel, ihm de« kargen Lohn auszubezahlen. Dazu kam noch, daß der Lehrer seinen Fritz ins Seminar nach Eichstätt geschickt und gleichfalls zum Lehrer hatte ausbilden lassen. Wenn er dort auch einen halben Freiplatz genoß, so war seine Ausbildung doch noch mit soviel Kosten und Ausgaben verbunden, daß ein großer Teil der Einnahmen des alten Steiner daraufging, und öfter als einmal in der Woche Schmalhans den Küchenmeister machte.
Daran wurde auch nichts gebessert, als Fritz nach bestandener Prüfung ins Vaterhaus zurückkehrte. Im Gegenteil verschärfte sich dadurch die ärmliche Lage des Lehrer». Sein Sohn fand nämlich keine sofortige bezahlte Verwendung im Schuldienst, sondern wurde von der Behörde angewiesen, dem Vater als Exspektant unentgeltlich Aushilfe zu leisten, bis die Reihe seiner Berufung auf eine vakante Stelle auch an ihn käme. Da» konnte noch lange dauern, und während der ganzen Zwischenzeit mußte der alte Lehrer nun auch für den Unterhalt des Sohnes sorgen. Da läßt sich wohl annehmen, daß e» manchmal recht schmale Bissen gab.
(Fortsetzung folgt.)