träges mit Bolivien zur Beratung. Der Ver­trag wird nach einer Erklärung des Staats­sekretärs Frhr. v. Schön in 1. und 2. Lesung angenommen. Es folgt die Interpellation der Freisinnigen betr. Anwendung des Reichsvereins­gesetzes. Staatssekretär Delbrück erklärt sich zur sofortigen Beantwortung bereit. Müller- Meiningen (frs. Vp.) begründet die Interpellation. Der Reichstag hat das Recht, die Rechtssprechung zu kritisieren, wenn sie prinzipiell und systematisch auf einen falschen Weg geleitet wird. Das gilt auch für das Reichsvereinsgesetz. Der Reichs­kanzler müßte seine ganze Autorität für die loyale Handhabung des Gesetzes einsetzen. Aus Süddeuischland sind keine Klagen über die Handhabung gekommen. Das beweist, daß das Gesetz gut ist. Aber in Preußen und Sachsen wurde es illoyal und unrichtig ausgelegt. Wir wollen, daß die Behörden alljährlich Rechen­schaft über ihre Maßnahmen geben und die Reichsregierung hier über Mißgriffe Aufklärung schafft. Das Verbot einer zu Gunsten des Welt­friedens in Kiel veranstalteten Versammlung, das Verbot der Benutzung der englischen Sprache bei dieser Gelegenheit ist sinnwidrig. Auf die Vergnügungen politischer Vereine wird das Vereinsrecht und somit die Anmeldepflicht aus­gedehnt. Die Handhabung des Gesetzes durch die Polizei, besonders bei der Bekanntmachung von Versammlungen, ist geradezu lächerlich. Wir werden alljährlich hier Kritik üben, dis auch der preußische und sächsische Bureaukrat einsieht, daß er dem Drängen des Parlamentes nachzu­geben hat. Staatssekretär Delbrück: Die Reichsregierung hat die Ausführung des Ver­einsgesetzes aufmerksam beobachtet und hat bei den beteiligten Bundesstaaten durchweg das Bestreben gefunden, das Gesetz ernstlich und ehrlich im Sinne des Gesetzgebers durchzuführen. Wenn tatsächlich bei den lokalen Behörden Miß­griffe vorgekommen sind, so liegt dies zum Teil am Gesetz selbst. Dies trägt den Charakter aller Gesetze, die auf einem Kompromiß beruhen: es ist nicht immer gleich verständlich. Ich selbst war bei dieser oder jener Bestimmung mir nicht gleich darüber klar, wie sie zu verstehen und anzuwenden sei. (Sehr richtig!) In der an­gekündigten alljährlichen Debatte werden wir gern Auskunft geben. Ich kann das aber nicht über Fälle, von denen ich, wie auch heute, erst Kenntnis erhalte und die zum Teil nur auf Zeitungsnotizen beruhen. Ferner wird uns die Erörterung erschwert dadurch, daß die Ausfüh­rung der Gesetze nicht beim Reich, sondern bei den Bundesstaaten liegt. Das Reich hat nur die Beaufsichtigung; die Verantwortung für die einzelnen Beamten trägt der Reffortchef der Einzel- staaten. Der preußische Minister des Innern hat in zwei Erlaffen das aufrichtige und ehrliche Bestreben bekundet, das Gesetz auszuführen, wie es verab­schiedet und gedacht ist. Nach dem Gesetz liegt die Rechtsprechung in den Händen unabhängiger Richter, gegen deren Entscheidungen, wenn sie falsch sind, die höhere Instanz Remedur schaffen wird. Bei dem Kieler Fall handelt es sich nicht um einen internationalen Kongreß, sondern um eine deutsche Volksversammlung, zu der lediglich die anwesenden englischen Deputierten eingeladen waren. Eine Beschwerde beim Minister des Innern ist nicht eingegangen. Das Vereinsgesetz ist ein rein polizeiliches Gesetz, das feststellt, in welchen Fällen der Staat aus polizeilichen Grün­den und im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und der öffentlichen Sicher­heit in die durch das Reichsgesetz gewährleistete Versammlungsfreiheit eingreifen darf. Es liegt nicht am Mangel von gutem Willen der Zentral­stelle der Bundesstaaten, wie auch nicht an der Unfähigkeit und dem Bureaukratismus der Bundes­staaten, wenn Mißgriffe vorgekommen sind. So­bald eine Entscheidung der zuständigen Zentralstelle nachgesucht wurde, ist Remedur eingetrcten. Alle diejenigen, denen daran liegt, daß das Gesetz sinngemäß angewandt wird, mögen bei Mißgriffen den vorgeschriebenen Instanzenweg gehen. Auf diese Weise werden die Grundsätze für alle zweifellos festgelegt werden, nach denen das Gesetz anzuwenden ist. (Lebhaft. Bravo!) Geh. Rat Hallbauer weist energisch den vom Abgeordn. Müller erhobenen Vorwurf zurück, daß die säch-

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fische Regierung eine Politik der Nadelstiche getrieben habe und daß ihr Beamtentum reaktionär bureaukratisch sei. Auf Antrag Struve (frs. Vgg) wird die Interpellation besprochen. Abg. Hieb er (natl.): Mit den Erklärungen vom Regierungstisch können wir zufrieden sein. Das Gesetz soll nach den Erklärungen des damaligen Staatssekretärs v. Bethmann-Hollweg nicht klein­lich ausgelegt werden und wir haben das Ver­trauen zu dem jetzigen Staatssekretär, daß er diese Erklärung zur Verwirklichung bringen werde. Gans Edler zu Putlitz (kons.): Die hier vorgebrachten Fälle sind Lappalien. Wenn man nichts weiter Vorbringen kann, so sind diese Beschwerden nichts als eine Ehrenerklärung für die Handhabung des Gesetzes. Abg. Brey (Soz.) bespricht eine Reihe von Einzelfällen, in denen Arbeitern das Recht der Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel durch polizeiliche Maß­nahmen genommen wurde. Abg. Gröber (Ztr.) erklärt, im Süden liege ein Anlaß zu Klagen nicht vor, wohl aber in Norddeutschland, wo man sich um das neue Gesetz nicht kümmere. Es sei in der Handhabung alles beim alten geblieben. W iter verbreitetet sich Redner über die Beein­trächtigung von Versammlungen katholischer pol­nischer Arbeiter in Oberschlesien. Abg. Stychel (Pole) bringt polnische Klagen vor, die Abgg. Gräfe (w. Vg.) solche über Mißstände in Sachsen-Weimar, desgleichen Hanssen über solche in Flensburg. Abg. Mugdan (frs. Vp.) erklärt, er sei zwar kein Freund der Polen, aber unrecht sollten sie nicht behandelt werden. Morgen 1 Uhr 3. Lesung des Handelsvertrages mit Bolivien, dann 2. Lesung des Etats, Justiz-Etat.

Hamburg 19. Jan. (1?/-Millionen unterschlagen.) Auf Requisition des Hamburger Untersuchungsrichters beim Land­gericht 11 ist gestern in Schöneberg der Kauf­mann Wilhelm Bintz verhaftet worden. Er wird beschuldigt, eine Hamburger Großfirma um 1 V 2 Millionen betrogen zu haben. Der Ver­haftete war bis vor etwa 2 Jahren in Oldesloe Inhaber einer Fleisch-Konserven-Fabrik. Diese wurde aber s. Z. geschloffen, weil Bintz nach­gewiesen wurde, daß er verdorbenes Fleisch verwendet hatte. Bintz ist verheiratet und Vater mehrerer Kinder. Er steht im Alter von 33 Jahren und entstammt einer angesehenen Ham­burger Gelehrten-FaMilie.

^ Bern 19. Jan. Infolge der Regen­güsse der letzten Tage sind an verschiedenen i Orten der Kantone Wallis, Waadt, ! Neuenburg und im Berner Jura Flüsse ! und Bäche über die Ufer getreten und ! haben erheblichen Schaden angerichtet. Durch ! Erdrutschungen wurden vielfach Verkehrsstörungen ! hervorgerufen.

Brüssel 19. Jan. DerGazette" zu­folge wird sich die Prinzessin Clementine von Belgien nach Ablauf der Hoftrauer mit dem Prinzen Viktor Napoleon verheiraten. ! König Leopold war bekanntlich zu Lebzeiten mit dieser Heirat nicht einverstanden und zwar aus : politischen Gründen.

! Paris 19. Jan. DerMatin" meldet aus Madrid: Der verhaftete Herzog von Bena- vente hatte eine Wochenschrift unter dem Titel El Ideal" gegründet, um in diesem Blatt die Geheimnisse der aristokratischen Welt zu enthüllen. Auch mit Rücksicht auf diesen Umstand wird die öffentliche Meinung in der Ansicht bestärkt, daß es sich um einen Racheakt handelt.

Paris 19. Jan. Der Präsident des französischen Automobilklubs, Baron de Zuylen, hat eine Belohnung von 1000 Francs auf die Ergreifung desjenigen ausgesetzt, der das gefälschte Telegramm abgesandt hat.

Kopenhagen 19. Jan. Täglich werden an der Westküste von Jütland Leichen, Schiffs­planken und sonstige Trümmer angeschwemmt. Die Küstenbewohner erklären, daß seit einem Menschenalter nicht so viel Schiffsunglücke sich ereignet haben, wie bei dem jüngsten Sturme.

Stockholm 19. Jan. Der Minister des Auswärtigen erhielt von dem schwedischen Konsul einen Bericht über Gerüchte unter den Eskimos, wonach Andre und seine Begleiter

wahrscheinlich auf die Rentierjagd gegangen sind und die Eskimos sie, hierüber erbittert, getötet haben. Das Konsulat in Montreal traf Vor­bereitungen zur Untersuchung auf dem Platze, der etwa 750 englische Meilen nördlich von Alterta liegt.

Konstantinop el 19. Jan. Während der Parlamentssitzung brach im Parlaments­palast ein mächtiges Feuer aus. Das ganze Palais war in ein Flammenmeer gehüllt und bot bei dem herrlichen Wetter einen über­wältigenden Anblick. In den benachbarten Dörfern am Bosporus füllten Zehntausende von Menschen in ungeheurer Aufregung die Zugangs­straßen zu dem Gebäude. Die Garnison rückte zur Aufrechterhaltung der Ordnung aus. Der aus Holz und Marmor bestehende Palast dürfte zum großen Teil der Vernichtung anheim­fallen. Die Abgeordneten kehrten in einem langen Zug zur Stadt zurück. Der Präsident ist vollständig verzweifelt und war keines Wortes mehr mächtig. Alle Behörden und Adjutanten des Sultans weilen an der Brandstätte. Ein späteres Telegramm besagt: Das Feuer geht zurück. Indes ist das Innere des Palastes bereits vollständig ausgebrannt. Das Feuer brach in den Senatsräumen im zweiten Stock­werk angeblich infolge Defekts der neuen Hei­zungsanlage aus. Die Bevölkerung glaubt an Brand st iftung. Der hohe Seegang erschwert die Rettung von der Wafferseite aus. Mehr­fach kamen Zusammenstöße zwischen der Polizei und Armeniern vor, da heute der höchste arme­nische Feiertag ist und die Banken geschloffen sind, so daß ganz Konstantinopel unterwegs ist, um das grandiose Schauspiel zu genießen. Mehrere Angestellte des Palastes konnten sich nur mit Lebensgefahr retten. Ein Arbeiter stürzte sich vom dritten Stockwerk herab und wurde mit zerschmetterten Gebeinen weggetragen. Mahmud Scheffket Pascha und der Großwesir weilen an der Brandstätte. Der Sultan sandte seinen ersten Sekretär, der das Beileid des Padischahs aussprach. Die Schiffe der Bosporus-Gesellschaft wurden mit Pumpen und Löschmannschaften besetzt, und versuchten, vor dem Palais Anker zu werfen. Ein starker Südwind vermehrte die Gefahr und der Brand drohte auch den anstoßenden Palastgarten des Sultans zu ergreifen. Die Organisation der Löschmaßregeln ist bewundernswerr. Polizei und Truppen haben die größte Mühe, Unberufene von der Brandstätte fernzuhalten. Immer hart­näckiger verbreitet sich das Gerücht, daß Brand­stiftung vorsiegt. Es heißt, daß mehrere Ver­dächtige verhaftet sind. Nach den letzten Meldungen ist der Palast jetzt vollständig ausgebrannt. Wertvolle Gegenstände und wichtige Dokumente sind gerettet.

Vermischtes.

Der Geburtenüberschuß in Würt­temberg. Die deutschen Großstädte zeigen im allgemeinen ein sehr buntes Bild hinsichtlich der Zunahme durch Geburtenüberschuß. Auf­fallend ist, daß die Industriestädte viel höhere Zahlen aufweisen als die Landstädte. So be­trägt z.B. der Geburtenüberschuß in den Industrie­städten der Rheingegend 1817 pro Tausend, während die Zahl bei Berlin auf 5,4, bei München auf 6,1 pro Tausend zurückgeht. In Württem­berg gab es bei einer Gesamtbevölkerung von rund 2 369 000 Seelen um die Mitte des Jahres 1908: 31574 Geburtenüberschüsse. Von letzteren entfielen auf den Neckarkreis 10 948, auf den Schwarzwaldkreis 8564, auf den Jagstkreis 5126 und auf den Donaukreis 6936. Auf 1000 Ein­wohner wurden in Stuttgart zu Beginn vorigen Jahres 27,7 Kinder geboren, während 15,7 Personen starben. Bei Heilbronn sind die ent­sprechenden Zahlen wie folgt: 30 und 20, bei Ulm 26,4 und 17,1, bei Eßlingen 30 und 17,2.

Reklameteil.

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