81. ZohrM-,

229. Amtr- und Anzeigeblatt sür den Gberamtsbezirl Calw.

SrschkinunzStag«: Montag. Dienstag, Mittwoch. Donnerstag. Freitag und Samstag. JnsertionSpreiS :S 4fg.pro geile- Stadtu. BezirkSorte; außer Bezirk 1!l Psg.

««Uiche Bekanntmachungs«.

Au die Herrev Ortsvorsteher und <m die Bezirksaugehörigen.

Mit dem 1. Oktober ds. Js. wird wie in einem großen Teil des Landes so auch in Calw der Betrieb einer Wanderarbeitsstätte eröffnet, in der jedem arbeitsfähigen, arbeitsuchenden, mittellosen Wanderer gegen Leistung eines entsprechenden Maßes von Arbeit und gegen den Nachweis der Einhaltung einer bestimmten Wanderordnung Obdach und Verpflegung gewährt wird.

In der Wanderarbeitsstätte wird gleichzeitig ein Arbeitsnachweis eingerichtet, um den arbeits­willigen Wanderern möglichst bald wieder zu geord­neter Arbeit zu verhelfen und den Arbeitgebern, auch den ländlichen, die Gewinnung von Arbeits­kräften zu erleichtern.

Durch diese Einrichtung ist Fürsorge getroffen, daß kein mittelloser Wanderer mehr genötigt ist, sein Dasein durch Bettel zu fristen.

Es ergeht deshalb an sämtliche Bezirksange­hörige die dringende Aufforderung, von jetzt an die Verabreichung von Gaben an Bettler zu unterlassen, jeden Bettler ab- und an die Wander­arbeitsstätte in Calw zu verweisen. Alle den mittel­losen Wanderern zugedachten Gaben ersuchen wir dringend der Wanderarbeitsstätte unmittelbar zn- kommen zu lassen, wo sie in zweckmäßiger Weise verwendet werden können. Jedem Bezirksangehörigen, der für mittellose Wanderer einen Beitrag von mindestens 1 gibt, stellen wir ein Täfelchen zur Anbringung an seiner Haustüre zur Verfügung mit der Aufschrift:Ausweis über geleisteten Beitrag zur Wanderarbeitsstätte, Bettel verboten". Mit ruhigem Gewissen kann dann jeder Bettler abge- wiesen werden.

Sämtliche Arbeitgeber des Bezirks, nament­lich auch unsere Landwirte, werden dringend ersucht, ihren Bedarf an Arbeitskräften durch den Arbeits­nachweis der Wanderarbeitsstätte zu decken und damit zur Abschaffung des lästigen Umschauhaltens der Arbeitsuchenden beizutragen.

Die neue Einrichtung hat den Zweck, den ernsthaft arbeitsuchenden mittellosen Wanderer vor dem Bettel zu bewahren und ihm in wirksamer Weise zu helfen. Auf der anderen Seite schafft sie die Möglichkeit, gegen den eigentlichen Stromer mit aller Strenge des Gesetzes vorzugehen.

Je kräftiger hiebei die Mitwirkung der Bezirks­angehörigen ist, um so rascher wird die Bettlerplage beseitigt und die Wanderarbeitsstätte als Wohltat empfunden werden.

Die Herren Ortsvorsteher werden ersucht, ihre Gemeindeangehörigen über die Zwecke der Wanderarbeitsstätte aufzuklären und für den Beitritt zum Wanderarbeitstätten-Verein gegen einen Jahres­beitrag von mindestens 1 zu gewinnen.

Die gewonnenen Mitglieder und Beiträge sind zunächst in einer Liste zu verzeichnen, welche samt den Beiträgen erstmals auf 1. November d. I. an die Oberamtspflege einzusenden ist.

Calw, 29. September 1909.

K. Oberamt.

Amtm. Rippmann, A.-V.

Tsaesuerrigkeiten

Calw. (Einrichtung einer Wander­arbeitsstalle.) Am 1. Oktober ds. Js. wird, wie in einem großen Teil des Landes, so auch hier eine Wanderarbeitsstätte eingerichtet. Eine Wanderarbeitsstätte ist eine freiwillige Fürsorge­einrichtung ohne jeden polizeilichen Charakter, die allen arbeitsuchenden, arbeitsfähigen, mittel­

Kreitag, den 1. Oktober 1909.

losen Wanderern gegen Leistung eines ent­sprechenden Maßes von Arbeit und gegen den Nachweis der Einhaltung einer bestimmten Wanderordnung Obdach und Verpflegung gewährt. Der Zweck dickr Einrichtung ist: den mittellosen Wanderer vor oec Notwendigkeit des Bettels zu bewahren und ihn von der abschüssigen Bahn des Stromertums femzuhalten. Mit der Wander­arbeitsstätte und in derselben wird zugleich auch ein Arbeitsnachweis eingerichtet, der dazu dienen soll, dem arbeitswilligen Wanderer baldmöglichst wieder zu geordneter Arbeit zu verhelfen und den Arbeitgebern, namentlich auch denjenigen auf dem Lande, die Gewinnung von Arbeits­kräften zu erleichtern.

Von der Einrichtung der Wanderarbeits­stätte kann jeder mittellose Wanderer Gebrauch machen, wenn er sich einen Wanderschein ver­schafft. Dieser Wanderschein dient lediglich als Ausweis für die Aufnahmen in die Wander­arbeitsstätten und zur Ueberwachung der Ein­haltung der Wanderordnung. Der Wanderschein wird jedem Wanderer ausgestellt auf Grund der 3 Papiere: Quittungskarte, polizeiliche Abmeldebescheinigung und Arbeits­zeugnis. Es sind das 3 Papiere, die jeder Wanderer sich ohne viele Umstände beschaffen kann, ehe er auf die Wanderschaft geht. Mit diesen 3 Papieren meldet er sich bei der nächst­gelegenen Wanderarbeitsstätte und erwirbt sich den Wanderschein entweder gegen Bezahlung von 50 c) oder, wenn er kein Geld mehr hat, durch eine entsprechende besondere Arbeitsleistung.

In der Wanderarbeitsstätte hat der Wan­derer, wenn ihm durch den Arbeitsnachweis keine Arbeitsstelle nachgewiesen werden kann, für Obdach und Verpflegung eine Mündige Arbeitsleistung zu verrichten. Nach Leistung der Arbeit und Verabreichung des Mittagessens werden ihm die Papiere, die er bei seinem Ein­treffen auf der Wanderarbeitsstätte abgegeben hatte, wieder ausgehändigt, im Wanderschein die Stunde der Abreise und die nächste Wan­derarbeitsstätte, die er bis zum Abend zu er­reichen hat, eingetragen, worauf er die Wanderung antritt. Aus dem im Wanderschein gemachten Stempeleintrag der von dem Wanderer mittags verlassenen Wanderarbeitsstätte ist sofort zu er­sehen, ob er die Wanderordnung einhält. Hat er sie ohne triftigen Grund nicht eingehalten, so verliert er die Wohltat der Wanderarbeits­stättenverpflegung und wird an die Ortsarmen­behörde verwiesen. An letztere werden auch diejenigen Wanderer verwiesen, die nicht im Besitz der oben genannten 3 Papiere sind. Die Ortsarmenbehörde gibt ihnen aber nicht, wie dies seither vielfach geschehen ist, Unterkunft und Verpflegung ohne Gegenleistung, sondern ver­langt von ihnen eine 2tägige Arbeitsleistung, durch welche diese Wanderer den Nachweis zu erbringen haben, daß sie zu arbeiten gewillt sind. Haben sie diesen Nachweis erbracht, so wird ihnen in der Wanderarbeitsstätte auf Grund der 2tägigen Arbeitsleistung ein Wanderschein ausgestellt, womit sie aus der armenpolizeilichen Behandlung heraus in die freiwillige Fürsorge­einrichtung der Wanderarbeitsstätte kommen, die sie wieder in ein geregeltes ordnungsmäßiges Arbeitsverhältnis zu bringen sucht.

BezugLpr. i. d. Stadt*/<jährl.m. Lrägerl. Mk. 1.25. PostbezugSpr. f. d. OrtS- u. Nachbarortsverk. ^ährl. Mk. 1.30, im Fernverkehr Mk. 1.30. Bestellg^in Württ. 30 Pfg., in Bayern u. Reich 42 Pfg'

Durch die zwei Einrichtungen, Wanderarbeitsstätte und Obdachlosen­beschäftigung, wird die Möglichkeit geschaffen, den eigentlichen Stromern, die von Arbeit überhaupt nichts wissen wollen und den Bettel gewerbsmäßig betreiben, durch ver­schärfte Handhabung der Strafrechtspflege ent­gegenzutreten. Die kann um so leichter ge­schehen, als ein Urteil darüber, ob man es mit einem arbeitsscheuen Menschen zu tun hat, bei dem Bestehen dieser zwei Fürsorgeeinrichtungen viel leichter sich bilden läßt. Eine Entschuldigung, aus Not gebettelt zu haben, kann dann nicht mehr vorgebracht werden. Deshalb sollte auch von jetzt an im Bezirk das prüfungslose und zweckwidrige Almosengeben unterlassen und der mittellose Wanderer an die Wanderarbeitsstätte verwiesen werden. Die den Wanderarmen zu­gedachten Gaben werden viel besser unmittelbar an die Wanderarbeitsstätte abgegeben, wo sie in nutzbringender Weise für die Wanderer verwendet werden. Jeder Bezirksangehörige kann vom Ortsvorsteher gegen einen Beitrag (min­destens 1 an die Wanderarbeits­stätte ein zur Anbringung an seiner Haustüre geeignetes Täfelchen mit der Aufschrift erhalten: Ausweis für geleisteten Beitrag zur Wander­arbeitsstätte, Bettel verboten". Mit ruhigem Gewissen kann dann jeder Bettler ab- und an die Wanderarbeitsstätte verwiesen werden. Ueber- dies werden die den einzelnen Wanderern an den Türen prüfungslos verabreichten Gaben erfahrungsgemäß meist in Alkohol umgesetzt, also schnöde mißbraucht. Es ist nachgewiesen, daß ein Bettler täglich 12 und wenn er das Fechten versteht, sogar 3 ^ und noch mehr zu­sammenbringt. Mit diesen Geldspenden werden die mittellosen Wanderer förmlich zu Stromern erzogen; wenn sie solche Beträge durch den Bettel erhalten, so brauchen sie ja nichts mehr zu ar­beiten. Welche große Summen sind auf diese Weise schon aus den Gemeinden des Bezirks herausgeholt worden, mit denen, zweckmäßig ver­wendet, den mittellosen Wanderern viel Besseres und Nützlicheres hätte geboten werden können. Darum sollten auch von jetzt ab, nachdem eine Für­sorgeeinrichtung für die Wanderarmen geschaffen ist, die Bezirksangehörigen diese neue Einrichtung aufs kräftigste unterstützen. Sie leisten nicht bloß den Wanderern, sondern sich selbst den größten Dienst. Mancher mittellose Wanderer kann vor dem Sumpf der Landstraße bewahrt und die so lästige Bettlerplage vermindert werden.

Calw liegt innerhalb des über Württem­berg gelegten Netzes von Wanderarbeitsstätten an den Wanderlinien Stuttgart-Leonberg- Calw und Calw-Nagold-Horb. Die Linie Pforzheim-Calw wird später eröffnet.

Zur Durchführung der Wandererfürsorge sind hier folgende Einrichtungen getroffen:

Im Erdgeschoß des städtischen Hauses Nr. 3 auf dem Marktplatz (früher Eppinger'sches Haus) befindet sich die Wanderkontrolle und der Arbeitsnachweis, welche von dem Maschinen­stricker Fr. Widmann hier besorgt werden. Hierher werden alle mittel-, obdach-und arbeits­losen Wanderer zunächst gewiesen. Nach etwa notwendiger Reinigung in dem hiezu eingerichteten Bad- und Desinfektionsraum werden dieOrdent-