Samstag
Beilage z« Nr. 806
4. September 1909
Das Haus gegenüber.
Kriminal-Roman von E. Kent.
(Fortsetzung.)
In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen und nachzusehen, was passiert war, sondern rief:
„Springen Sie! Springen Sie sofort!"
Fast bewußtlos vor Angst gehorchte sie meinem Befehl. Sie war ziemlich schwer und hätte mich beinahe mit aus dem Fenster gezogen; zum Glück gelang es mir noch, fest auf den Füßen zu bleiven. Immerhin war die Anstrengung eine derartige gewesen, daß mir noch mehrere Stunden nachher die Arme weh taten. Ich ließ mir noch einen Augenblick Zeit, um das Fenster zum Teil zu schließen, denn ich befürchtete, wenn es weit offen stände, könnte es die Aufmerksamkeit des Tobsüchtigen auf sich lenken, und dieser konnte sie verfolgen, bevor es ihr noch möglich gewesen wäre, sich in Sicherheit zu bringen.
Ins Zimmer zurücktretend, sah ich, daß eine Kugel die Holzfüllung der Tür durchschlagen hatte, die den Mittelpunkt des Kampfes zu bilden schien. Es.konnte keine Minute mehr dauern, so mußte sie den Stößen des Wütenden weichen. Ich sprang zu der anderen Tür, öffnete sie schnell, stürmte durch das Wartezimmer und fiel dem Wahnsinnigen in den Rücken. Mit einem Sprung war ich bei ihm und umklammerte mit beiden Händen von hinten seine Kehle.
„Nehmt ihm den Revolver weg!" rief, als Argot über seine Schulter hinweg auf mich zu feuern versuchte, ein junger Mann, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, sprang vor, packte des Wahnsinnigen Arm und drehte ihn im Schultergelenk, herum, bis er mit einem Schmerzensschrei die Waffe fallen ließ. In diesem Augenblick erschien auch mein Hausmeister auf der Bildfläche, und da wir jetzt zu vieren waren, kostete es uns keine große Mühe, den Mann zu überwältigen, obwohl er sich wie ein Verzweifelter wehrte. Sobald er gebunden und völlig unschädlich gemacht war, schickte ich meinen Jungen ans Telephon, um die Sanitätswache um Hilfe zu ersuchen.
Erst jetzt bemerkte ich, daß Argot versucht hatte, sich zu verkleiden. In die Hosen hatte er sich ein dickes Kissen gestopft und um den Oberleib mehrere Tücher gewunden. Offenbar war er der dicke Mann gewesen, den ich auf der Straße bemerkt hatte und der mir nachgelaufen war. Ich war übrigens recht froh, daß wenigstens ein Geheimnis seine Aufklärung gefunden hatte.
Der unbekannte junge Mensch, dessen rechtzeitiges Eingreifen mir allem Anschein nach das Leben gerettet hatte, kniete noch an der Seite des auf dem Fußboden liegenden Tobsüchtigen, der noch immer versuchte, seine Bande zu sprengen, was ihm vielleicht sogar gelungen sein würde, wenn ich nicht ebenfalls eingesprungen wäre und ihn mit festgehalten hätte.
„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre willkommene Hilfe", sagte ich zu dem Fremden; „Sie sind ein tapferer Mann!"
„O, keine Ursache!" antwortete er. „Ich bin hier im Dienst; ich habe den Mann schon den ganzen Abend beobachtet."
Es kostete uns große Mühe, Argot in den von der Wache gesandten Krankenwagen zu schaffen, und ich gestehe, daß ich in meinem ganzen Leben noch niemals ein solches Gefühl der Erleichterung empfunden hatte, als da ich ihn sicher in einer gepolsterten Zelle untergebracht sah.
Als ich eben das Hospital verlassen hatte, sah ich Merritt mit eiligen Schritten sich nähern.
„Nun", rief er mich an, „ist denn die Geschichte schon vorüber?"
„Jawohl. Argot ist hinter Schloß und Riegel".
„Na, Herr Doktor, Sie haben ja eine recht lebhafte halbe Stunde gehabt, wie mein Beamter mir erzählt".
„Ja; wenn wir noch alle am Leben sind, so verdanken wir das einzig und allein Ihrer Umsicht, daß Sie den Mann bewachen ließen!"
„Ach, reden Sie nicht davon! Wissen Sie was — wir wollen uns einen guten Schluck genehmigen, um den glücklichen Ausgang zu feiern. Sie sind ein bißchen blaß um die Lippen, mein lieber Herr Doktor".
Nachdem wir uns gestärkt hatten, sagte ich:
„Na, Herr Merritt, wie steht's denn nach Ihrer Meinung jetzt mit unserer Wette?"
„O, ich denke, ganz gut für mich!" antwortete er mit Augenzwinkern.
Ich blickte ihn erstaunt an. Dann fiel mir ein, daß er ja natürlich von Madame Argots Geschichte noch nichts gehört hatte, und ich teilte sie ihm sofort ausführlich mit. Er antwortete mir darauf aber nur:
„Höchst eigentümlich."
„Aber hören Sie mal, Herr Merritt, was verlangen Sie denn noch weiter, um überzeugt zu sein, daß der Franzose der Täter ist?"
„Nichts weiter als Beweise", antwortete er lachend.
„Aber wozu brauchen Sie denn noch mehr Beweise? Hier haben wir einen Mann, der zweifellos geisteskrank ist; er wohnt im Rosemere-
und verließ am Dienstag abend seine Wohnung mit der ausgesprochenen Absicht, seinen vermeintlichen Nebenbuhler zu töten. Und um den verschiedenen
Beweismomenten die Krone aufzusetzen, wird der Hut des Ermordeten in seinem Besitz gefunden. Und trotz alledem können Sie immer noch Zweifel hegen?"
Der Detektive antwortete mir nur durch ein stilles Lachen. Nach einer kleinen Pause sagte er:
„Daß ich's nicht vergesse — ich muß noch ins Hospital gehen und mir den Hut ausliefern lassen, ehe er wieder verschwindet."
Ich fuhr von meinem Stuhl auf und rief:
„Donnerwetter, darauf hatte ich gar nicht geachtet. Aber jetzt fällt mir's ein: als wir ihn in den Krankenwagen brachten, war er barhäuptig!"
Merritt stieß verdrießlich einen halbunterdrückten Fluch aus. Dann sagte er:
„Na, dann wollen wir in Ihre Wohnung gehen; da muß der Hut doch noch sein. Der Hut, den Argot trug, als Sie ihn auf der Straße bemerkten, sah doch aus wie der von uns gesuchte, nicht wahr?"
„Ja."
„Dann liegt er vermutlich irgendwo in Ihrem Vorzimmer. Daß Sie das Fehlen des Hutes nicht bemerkt haben, wundert mich nicht so übermäßig. Aber daß meinem Beamten ein so wichtiger Umstand entgangen ist, begreife ich nicht. Gerade um solche Einzelheiten hat er sich zu bekümmern. Dafür ist er Polizeibeamter."
Bei meinem Hause angelangt, konnten wir uns nur mit einiger Mühe unseren Weg durch einen dichten Schwarm von Zeitungsreportern bahnen; aber den Hut fanden wir richtig in meinem Vorzimmer auf dem Fußboden. Merritt stürzte sich mit einem Sprung wie ein Raubtier auf ihn, nahm ihn mit in mein Studierzimmer und untersuchte ihn mit der größten Aufmerksamkeit.
„Was sagen Sie dazu?" fragte ich nach einer Weile, als der Detektive immer noch nicht den Mund auftun wollte.
„Darauf kann ich Ihnen noch keine Antwort geben, Herr Doktor. Uebrigens stehen wir uns in dieser Angelegenheit gewissermaßen als Gegner gegenüber — ich meine in bezug auf unsere Wette um die fünfzig Dollar. Bevor ich Ihnen nicht meine Schuldige vorführen kann, ist es am besten, ich halte reinen Mund."
„Wie lange wird das wohl noch dauern?" . H
„Hm", antwortete Merritt, „heute ist Montag, was meinen Sie dazu, wenn ich sage: heute in acht Tagen? Bin ich bis dahin nicht imstande gewesen, die Richtigkeit meiner Annahme nachzuweisen, so erkläre ich mich für geschlagen und zahle Ihnen die fünfzig Dollar aus."
„Schön, damit bin ich einverstanden."
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal an die arme Madame Argot gedacht hatte. Sobald sie mir einfiel, eilte ich zu ihr und fand sie in einem heftigen hysterischen Anfall unter der wohlgemeinten, aber freilich unnützen Pflege mehrerer braver Jrländerinnen, die mit einer von Mißtrauen nicht ganz freien Ehrfurcht ihrem unermüdlichen französischen Redeschwall zuhörten. Meinen Bemühungen gelang es zuletzt, sie zu beruhigen. Mit Genugtuung vernahm ich von ihr, daß ihr Herr auf einige Tage verreist sei, denn ich wußte, daß dem „korrekten" Herrn Stuart nichts verdrießlicher hätte sein können, als der mit diesem neuen Sensationsereignis verbundene Spektakel und Zeitungsklatsch. Ich befürchtete nur, er würde überhaupt nicht nach New-Dork zurückkehren, sobald er erführe, daß abermals eine Schar von Berichterstattern seiner Ankunft harrte.
12. Kapitel.
Beverley, Montag, den 15. August.
Lieber Charley!
Mit meinem Bein steht's schlechter. Möchtest Du nicht mal rüberfahren und Dir's ansehen? Zugleich möchte ich Dich gerne in den Angelegenheiten von Fräulein May Derwent um Deinen Rat fragen.
Herzl. Dein Fred.
Als ich am Dienstag früh dies Briefchen empfing, traf ich sofort meine Vorbereitungen für eine kurze Abwesenheit. Jetzt, wo mich meine Berufspflicht und nicht bloß der Wunsch meines Herzens an einen anderen Ort berief, hatte ich keine Gewissensbedenken mehr, New-Aork zu verlassen. Und als ich nach Erledigung der dringlichsten Krankenbesuche ein paar Stunden später in dem Zuge saß, der mich nach Beverley bringen sollte, da segnete ich Fred Coopers Bein, dem ich diesen Ferientag verdankte. Welch ein Genuß war es für mich, einmal den Staub und Lärm der Weltstadt hinter mir lassen und meine Augen wieder an dem Anblick von Feldern und Wäldern weiden zu können!
In Beverley angelangt, ließ ich mich sofort nach dem Cooperschen Landhause fahren. Fred fand ich mit stark geschwollenem Bein im Bette liegen. Sein Eifer, der Familie Derwent einen Dienst zu erweisen, hatte ihn verlockt, seinem Bein eine Leistung zuzumuten, der es noch nicht gewachsen war. Die Folge davon war, daß die völlige Heilung jetzt eine längere Zeit in Anspruch nehmen mußte.
„Na, Charley", sagte er, als ich mit dem Anlegen der neuen Bandagen fertig war, „du bist wohl nicht böse darüber, in diesem Augen-