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Friedrichshafen 25. Juni. Die Frage der Abfahrt des Reichsluftschiffs nach Metz ist eine Wetterfrage. In den höheren Lagen weht heute abend immer noch ein scharfer Wind aus Westen. Sobald die Observatorien bessere Witterung meldeki, soll die Abfahrt sofort angetreten werden, ausgenommen am Sonntag. Da 2 I ein von Militärpersonen besetztes Luft­schiff ist, will man anscheinend die schweizerische Grenze nicht berühren. Es wird deshalb der Gedanke in Erwägung gezogen, die Fahrt nicht den Rhein entlang über Basel, sondern über Ulm-Stuttgart-Straßburg zu führen. Die Gar- nisonsstädte sollen auch deshalb überflogen werden, damit eventuell militärische Hilfe rasch zur Stelle ist. Die Besatzung wird bestehen aus: Major Sperling als Führer, Hauptmann George, Ober­leutnant Masius, Leutnant Wandel, Leutnant Bartel, Ingenieur Müller. Ferner sollen ein Marinemaat und zwei Militärmonteure mitfahren.

Vom Bodensee 25. Juni. Die Blau- felchenfischerei, sowohl mit dem Klusgarn als auch mit Stellnetzen lieferte bisher ein ungemein schlechtes Ergebnis, das weit hinter den Fangergebnissen in derselben Zeit der letzten Jahre zurückbleibt. Dieser ungewöhnlich schlechte Fang wird hauptsächlich dem immer noch sehr niedrigen Wasserstand und dem starkenRinnen des Wassers" zugeschrieben, wozu noch die täg­lich eintretenden widrigen Winde ihren guten Teil beitragen mögen. Gerade der letzte Um­stand das oft plötzliche, heftige Auftreten des Föhns, dann wieder des Westwindes macht es begreiflich, daß die Netzfischer, welche die Fischerei auf hoher See betreiben müssen, sich nicht an eine bestimmte Zeit zum Setzen der Netze halten können, da sie sonst durch eine derartige Beschränkung in der freien Ausübung ihres Gewerbes empfindlich geschädigt würden. Es war in letzter Zeit wiederholt der Fall, daß gerade in den Nachmittagsstunden und gegen Abend das Wetter sich plötzlich änderte, heftige Gewitterböen über den See fegten und der dadurch entstandene starke Wellengang das Hinaus­fahren in die offene See und damit ein Setzen der Schwebnetze unmöglich machte. Hatte dann der Netzfischer seine Netze nicht bereits ausgesetzt, so war für ihn der Tag und damit der Verdienst verloren. Ein doppelschwerer Schaden bei dem ohnehin gegenwärtig schlechten Fischfang.

München 25. Juni Die Stimmung in den Regierungskreisen ist nach der Ablehnung der Erbanfallsteuer ruhig. Es hat den Anschein, als ob für den Fall der Ablehnung alles vorhergesehen und im Bundesrat für diese möglichen Schritte alles weitere von vornherein beschlossen wäre. Aus Aeußerungen maßgebender Regierungskreise nimmt man an, daß Fürst Bülow zwar dem Kaiser seine Demission angeboten, dieser aber sie abgelehnt habe. Dann sei die Auflösung des Reichstages gewiß. Die Stimmung der Bevölkerung ist erregt, wie selten zuvor.

Berlin 25. Juni. (Reichstag.) Am BundesratStisch: Staatssekretär Sydow. Auf der Tagesordnung steht zunächst die zweite Lesung der Aenderung des Reichsste.mpelgesetzes. Abg. Graf Westarp (kons.) berichtet über die Kommisstons­verhandlungen und empfiehlt die Regierungsvorlage. Vizepräsident Paas che teilt mit, daß ein Antrag auf namentliche Abstimmung über diese Steuer­vorlage eingegangen sei. Abg. Bassermann (ntl.) führt auS: Nachdem gestern der wichtigste Teil der Reichsfinanzreform gefallen ist, find wir, zumal da der Reichskanzler und der Staatssekretär des Reichs­schatzamts entschiedene Erklärungen abgegeben haben, daß ohne Erbschaftssteuer die Reichsfinanzreform nicht zustande kommen kann und wird, nicht in der Lage, für die einzelnen Teile dieses Gesetzes zu stimmen. Wir waren bereit, einer Hauptkonsumsteuer und einer entsprechenden Besitzsteuer zuzustimmen. Nachdem die Regierung und die ihr nahestehenden Parteien gestern eine schwere Niederlage erlitten haben und das Zentrum gestern dem Reichskanzler die Quittung für die Dezemberauflösung von 1906 gegeben hat, liegt es bei den Konservativen, dem Zentrum und den Polen, die Reichsfinanzreform so auSzngestalten, wie sie es wünschen. Wir wollen ihren Siegeslauf nicht hemmen. (Sehr gut!) Dazu fehlt uns die Macht und das Interesse. Im Einzelnen werden wir uns Verbesserung! Vorschläge Vorbehalten.

Unsere Zustimmung zu der Reichsfinanzreform hing ab von der Bewilligung einer allgemeinen Besttzsteuer. Da diese Voraussetzung seit gestern nicht mehr be­steht, so entfällt auch für uns die Möglichkeit, die Reichsfinanzreform zu akzeptieren. (Bravo links.) Wiemer (frs. Vp.) Voraussetzung für unsere Zu­stimmung zu einer Erhöhung der indirekten Steuern ist die gleichzeitige Heranziehung der starken Schultern durch eine angemessene, gleichmäßig verteilte Heran­ziehung des Besitzes. Mit der Ablehnung der Erb­schaftssteuer entfällt diese Voraussetzung, von deren Erfüllung wir unsere positive Mitarbeit abhängig gemacht haben. Wir werden uns an den weiteren Beratungen zwar beteiligen, und uns bemühen, Verbesserungen durchzusetzen, aber in den entscheiden­den Abstimmungen müssen wir den weiteren Gesetz­entwürfen unsere Zustimmung versagen. Spahn (Z) weist das Ansinnen zurück, als habe seine Partei für die Dezemberauflösung sich gerächt. Nur rein sachliche Erwägungen hätten seine Partei geleitet. Raab (w. Vg ): Ich werde gegen die Umsatzsteuer auf Grundstücke stimmen. Wir haben aus sachlichen Gründen zu jedem einzelnen Teil der Reform Stellung zu nehmen Die Besteuerung des Umsatzes würde Landwirtschaft und Gewerbe in hohem Maße belasten. David (Soz.) fragt, ob die Regierung nicht auch eine Erklärung abzugeben habe. In der nun folgenden namentlichen Abstimmung wurde die Reichsstempelsteuer (Reichsumsatzsteuer für Immobi­lien) mit 174 gegen 151 Stimmen bei 1 Stimm­enthaltung angencmmen. Es folgte die zweite Lesung der Wechselstempelsteuer. Staatssekretär Sydow: Wenn Sie alle Wechsel, die bis zu 6 Monate laufen, von einem Erneuerungsstempel ent­binden. dann wird, so wiederhrle ich, der erwartete finanzielle Effekt großenteils vernichtet. Prolon­gationen werden meist durch Ausstellung eines zweiten Wechsels vermieden. Warum soll ein Erneuerungs­wechsel anders behandelt werden als ein von vornherein auf längere Zeit auszesteliter? Kämpf (frs. Vp.) spricht sich aus wirtschaftlichen und politischen Gründen gegen die Vorlage aus. Die Abgg. Graf Miel- zynski (Pole) und Weber (narl) erklären sich ebenfalls gegen die Vorlage. Frhr. v. Ga mp (Reichsp.) erklärt sich für die Kommisfionsbeschlüffe. Singer (Soz) spricht sich gegen die Vorlage aus, wie gegen alle Vorschläge der Kommission. Die Vorlage wurde sodann in einfacher Abstimmung angenommen. Es folgt die Fortsetzung der 2. Lesung der Ersatzsteuer der Kommission, zunächst der Er­höhung des Kaffee- und Teezolls. P ach nicke (frs. Vgg): Erhöht man den Kaffeezoll und läßt die Surrogate wie sie sind, so werden die letzteren und die beteiligten Industrien einseitig bevorzugt. Roe- sicke (kons.) bt kämpft einen freisinnigen Antrag, wonach bei vor dem 1. Juni d. I abgeschlossenen Lieferungen der Verkäufer von dem Empfänger Ersatz des höheren Zolls beanspruchen darf. Mo lken- buhr (Soz ): Die Vorlage ist für unS unannehmbar. Der Kaffee ist das Getränke des schwer arbeitenden Mannes. Spahn (Ztr): Die ersten Anregungen zur Erhöhung des Kaffeezolles stammen von den Freisinnigen. Im Einzelverkauf werden die Preise, durch Annahme der Vorlage nicht steigen. Wir be­halten uns unsere endgiltige Stellungnahme bis zur 3. Lesung vor. Frhr. v. Gamp (Rp.) wünscht eine höhere Besteuerung der Surrogate. Semler (natl.) erblickt in der Besteuerung von Kaffee und Tee eine Prämie auf Gerste. Gothein (frs. Vgg.) begründet einen Antrag betr. Ersatzleistung des Empfängers bei langfristigen Lieferungsverträgm. Molkenbuhr (Soz.) erwartet von der Zollerhöhung eine Preissteigerung und einen Konsumrückgang. Becker (frs. Vgg.) wendet sich gegen die Teezoll­erhöhung. Direktor im Reichsschatzamt Kühn: Eine Störung der guten Beziehungen zu den Produktionsländern würden wir sehr beklagen. Auf den Kaffeekonsum war der Kaffeepreis stets nur von unter­geordnetem Einfluß. Nach weiterer Debatte wurde in namentlicher Abstimmung der 8 1, der den Roh­kaffeezoll auf 60, den Zoll für gebrannten Kaffee auf 80 erhöhen will, mit 187 gegen 154 Stimmen bei 7 Enthaltungen angenommen, der 8 2, der den Teezoll von 25 auf 100 pro Doppelzentner er­höhen will, wurde in einfacher Abstimmung ange­nommen. Der Antrag Gothein wurde mit den Stimmen der geschlossenen Linken, der Polen, der Reichs Partei und der wirtsch. Vereinigung ang enommen. Es folgt die Beratung der Beleuchtuvgsmittelsteuer. Weber (natl.). Es g bt 40005000 Arten von Beleuchtungskörpern. Wieviele Banderolearten müssen da hergestellt werden. Staatssekretär Sydow: Es soll nicht jeder Beleuchtungskörper banderoliert werden. ES ist die Buchkontrolle vorgesehen. Müller-Meiningen: Der Lichtsteuer würde bald die Krcftsteuer folgen. Severing (Soz.) spricht sich gegen die Steuer auS. Graf Westarp (kons.) erklärt die Bedenken gegen die Steuer für hinfällig. Cuno (f>s. Vp.) sieht in der Steuer eine Verkehrs­belästigung. Nach weiterer Debatte, in der sich die

Abgg. Pichler (Ztr.) und Bruhn (wirtsch. Vgg.) beteiligen, wird 8 1 in namentlicher Abstimmung mit 185 gegen 160 Stimmen bei 2 Enthaltungen und sodann der übrige Teil des Gesetzes angenommen. Hierauf trat Vertagung auf Mittwoch 1 Uhr ein. Tagesordnung: Soz. Interpellation betr. Lebeus- mittelteuerung. Schluß nach 7 Uhr.

Berlin 25. Juni. Die gestrige Reichs- tagsabstimmung wird in den Morgenblättern auf das eifrigste kommentiert. Die rechtsstehenden Blätter äußern ihre Genugtuung und meinen, daß nach Beseitigung des Hindernisses der Erb­schaftssteuer der Weg frei sei für eine gedeihliche Finanzreform. In den links stehenden Blättern macht sich eine ziemliche Erregung bemerkbar. Es wird erklärt, daß es für den Fürsten Bülow nur zwei Möglichkeiten gebe: entweder abzudanken oder aufzulösen. Zu letzterer Maßnahme glaubt man dem Reichskanzler raten zu können, da der Appell an das Volk im Hinblick auf die Ver­stimmung gegen die Haltung der Konservativen zweifellos erfolgreich sein würde.

Berlin 25. Juni. Ueber die inner­politische Situation wird mitgeteilt: In den Kreisen der neuen Mehrheit sowohl wie in den Kreisen des Reichskanzlers verlautet, daß Fürst Bülow in der Tat in diesem Augenblick weder an eine Demission noch an eine Auflösung des Reichstages denkt. Der Reichskanzler, so ver­sichern seine Freunde, soll zwar nach wie vor an der Ueberzeugung festhalten, daß er eine Finanzreform ohne Erbschaftsbesteuerung und ohne die Mitwirkung der Liberalen nicht machen könne. Andererseits erscheint ihm aber die Reform der Reichsfinanzen als ein so be­deutungsvolles patriotisches Werk, daß alle par­teipolitischen Rücksichten darüber in den Hinter­grund treten müßten. Das historisch Bedeutungs­volle ist, daß er nicht vom Schauplatz abtreten dürfe, ohne es vollendet zu haben. In den Kreisen der genannten Mehrheitsparteien ist man überdies der Ueberzeugung, daß selbst, wenn der Kanzler jetzt sein Entlassungsgesuch einreichen sollte, es vom Kaiser in diesem Moment nicht angenommen werden würde.

Berlin 25. Juni. Die Führer der national liberalen Reichstagsfraktion hielten gestern Abend im Reichstagsgebäude eine vertrauliche Besprechung über die durch die Ablehnung der Erbschaftssteuer geschaffene politische Lage ab. Die Auffassung, die in leitenden Kreisen der Nationalliberalen über die Frage des Tages herrscht, kennzeichnet die Aeußer- ung, die der nationalliberale Abgeordnete Fuhr­mann erklärte: die durch die gestrige Abstimmung hervorgerufene Situation liegt ganz klar. Fürst Bülow muß die Konsequenzen ziehen. Da die Auflösung des Reichstages nicht sofort erfolgt ist, so wird der Reichskanzler seine Demission geben müssen. Wird sein Rücktrittsgesuch ab­gelehnt, so muß dann die Auflösung des Reichs­tages erfolgen. Eine Vertagung wäre ein un­glückseliges Mittel und daß Fürst Bülow unter den gegebenen Verhältnissen nicht im Amte bleiben kann, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen.

Berlin 25. Juni. Der Standpunkt des Fürsten Bülow gegenüber dem gestrigen Beschluß des Reichstages wird an amtlicher Stelle dahin gekennzeichnet: Fürst Bülow bleibt, der Reichstag wird nicht aufgelöst. Der Kanzler hält es für seine Pflicht, grade jetzt an der Spitze des Bundesrats auszuharren und das schlimmste abzuwenden, nämlich, daß die Kotie­rungssteuer, die Mühlenumsatzsteuer und der Kohlenausfuhrzoll in der von der Kommission vorgeschlagenen Fassung Gesetz werde. Die Finanzreform soll, muß und wird jetzt unter allen Umständen zustandekommen. Was Fürst Bülow nachher tun wird, ist seine Sache und bleibt abzuwarten. Durch dieses vorläufige Ver­bleiben des Reichskanzlers hofft man die Stellung der verbündeten Regierungen zu stärken und auch bei den Parteien der Mehrheit die Neigung zu vermehren, ihre Kommissionsbeschlüsse ohneweiteres zum Gesetz zu erheben. In konservativen Kreisen besteht die Hoffnung, daß es in etwa 14 Tagen gelingen werde, eine Reichsfinanzreform, aller­dings ohne Erbanfallsteuer, aber doch in einer den Bundes-Regierungen annehmbaren Gestalt