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Amts- und AnzeigeNatt für den Gbrramtsbezirk Calw.
84. Jahrgang.
TrscheiriungLrage: Montag. Dienstag, Mittwoch. ! Tonnerstag, Freirag und SamStag. Jnsertionspreiv !> IS Dsg. pro Zeile für Stadt u. Bezirksorre,' außer Bezirk 12 Pfg. '
Dienstag, den 30. Mär; 1909.
Bezugspr. i. d. Stadt' ^jährl.m. Trägerl. Mk. 1.25. Postbezugspr. f. d. Orts- u. Nachdarortsverk.' ^jährl. Mk. 1 . 20 , im Fernverkehr Mk. i.3o. Bestellg. in Würn. 3o Pfg., in Bayern n. Reich 42 Pfg.
Tagesneuigkeitev.
Wildbad 29. März. Der hiesige Turnverein kann in diesem Jahre aus sein 2-',jährig es Bestehen zurückblicken. Das Jubiläum soll am 5.—6. Juni ds. Js. in großem Stil abgehalten werden. Samstag abend acht Uhr findet in der Turnhalle allgemeines Bankett mit turnerischen Uebungen, komischen Aufführungen etc. statt. Sonntag früh sechs Uhr Tagwache, ^7 Uhr Abholung der eingeladenen Vereine vom Bahnhof. V^8 Uhr Beginn des Wettturnens. V-10 Uhr Bergbahnfahrt zu ermäßigten Preisen. Konzert bis 12 Uhr auf dem Sonnenberg, 12—1 Uhr Festessen, V-3 Festzug darauf Stabübungen, Turnen etc. mit Preisverteilung. Abends Turnerball.
Stuttgart 29. March (Strafkammer). Ein Automobil fuhr in staxk dunkler Nacht im 60 Km-Tempo die Solitudestraße herunter auf Stuttgart zu. An einer Straßenkrümmung, wo der Chauffeur das Tempo auf 35 km ermäßigte, tauchte plötzlich vor dem'Putomobil ein in gleicher Richtung fahrendes Bierfuhrwerk auf, das nicht mehr ausweichen konnte. ^Der Chauffeur konnte bei der großen Geschwindigkeit nicht bremsen und so fuhr das Automobil direkt in den Bierwagen hinein, so daß es zwischen den Hinterrädern stecken blieb, von wo die beiden Pferde des Bierwagens es nachher herausziehen mußten. Durch den Anprall fiel der Bierführer von seinem Wagen herunter, kam aber mit einer geringen Handverstauchung davon; dagegen wurde der neben dem Chauffeur sitzende Besitzer des Automobils so unglücklich herausgeschleudert, daß ihm der rechte Oberkiefer zertrümmert und alle Zähne herausgeschlagen wurden. Die Verletzung war so schwer, daß der Mann monatelang im Kranken
haus lag und jetzt noch nicht wieder hergestellt ist. Der Chauffeur wurde vom Schöffengericht wegen fahrlässiger Körperverletzung zu 3 Wochen Gefängnis verurteilt; auf die von ihm eingelegte Berufung erkannte die Strafkammer auf 100 Geldstrafe!
Horb 29. März. Vergangene Nacht 12 Uhr wurden die Einwohner von Rexingen wiederum durch Feuer lärm aus dem Schlafe geweckt. Die reich mit Heu, Haber, Futtermehl w. angesüllte Scheuer der Preßburger und Co. siel dem verheerenden Element ganz zum Opfer. Der Dachstock des angebauten Wohnhauses brannte auch aus und die Wohn- gelasse und Möbel wurden vom Wasser stark beschädigt. Ein Dienstknecht der obigen Firma wurde als mutmaßlicher Brandstifter dem Amtsgericht Horb eingeliefert.
Rottenburg 29. März. In Bühl treiben Baumfrevler ihr Unwesen. Auf mehr als einein Dutzend Baumgärten sind jüngere und ältere Obstbäume derart angesägt worden, daß die Bäume verloren sind. Der Gemeinderat will für die Ermittlung der Täter eine Belohnung aussetzen.
Rottenburg 29. März. Am Samstag nachmittag ist hier ein in Straßburg aufgestiegener, mit fünf Herren, darunter Geheimrat Euting, bemannter Luftballon des Oberrheinischen Vereins für Luftschiffahrt gelandet. Ein zweiter Ballon, der eine Stunde vor ihm aufgestiegen war, ist nicht weit von hier ebenfalls eine Stunde vor ihm glatt niedergegangen.
Ulm 29. März. Vom Hofe der Grenadierkaserne ist gestern vormittag der Ballon „Augusta" aufgestiegen, der mit Oberleutnant Schott als Führer, Hauptmann Weidner, Ober
leutnant Grothe und Hauptmann Neuschler bemannt war, längere Zeit über der Stadt stehen blieb, dann aber in nördlicher Richtung verschwand.
Ulm 29. März. Der Ballon „Augusta" ist nachmittags 3 Uhr bei Schwäbisch Hall glatt gelandet.
Friedrichs Hafen 29. März. 8. )l. 2.1. unternahm 8.30 Uhr einen Aufstieg. Das Luftschiff flog auf die Stadt Friedrichshafen zu und nahm sodann nach einer Wendung über dem Hafen die Richtung nach dem Untersee. Um 11 Uhr kehrte es von dort zurück, machte abermals über dem Hafen von Friedrichshafen eine Drehung und ließ sich beinahe auf das Wasser herab. Dann stieg es von neuem in die Höhe und ilog in der Richtung nachjjManzell zu.
Berlin 29. März. (Reichstag). Die Tribünen find voll besetzt. In der Hofloge befinden sich Prinz August Wilhelm und Prinz Friedrich Leopold. Auf der Tagesordnung stehen die Etats des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes. HauS und Bundesratstifch find dicht besetzt. Das Wort nimmt sofort Reichskanzler Fürst Bülow: Ehe ich näher auf die Orient-Angelegenheit eingehe, möchte ich andere Dinge berühren, zunächst den Besuch des englischen Königspaares. Ich stehe nicht an, diesen als ein glückliches Ergebnis zu bezeichnen. Den Völkern ist wieder einmal zum Bewußtsein gebracht worden, wie nötig es ist, daß beide Länder, England und Deutschland, in der Friedensarbett miteinander wetteifern und in guten Beziehungen zu einander bleiben. Das Netzwerk der Beziehungen zwischen beiden Ländern ist nicht so leicht zu zerreißen, wie sehr auch daran gezerrt wird. Denn dieses Netzwerk hat seine Festigkeit mit dadurch erlangt, daß ein großer Teil der Arbeit beider Länder mit hinein verquickt worden ist. Es gibt kaum zwei Länder, die so aufeinander angewiesen find, wie England und Deutschland. Dafür
Eine Lüge.
Roman von Ludwig Rohmann.
(Fortsetzung.)
„Na — offen gestanden, ich würde Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, wenn Sie weniger fürsorglich wären. Aber daß Sie es siud, das weiß ich ja, und darum sollen Sie entschuldigt sein, einerlei, was Sie mir auch Schönes sagen werden." Sie mußte wieder lächeln. „Ich danke. Die Generalverzeihung zum voraus ist beinahe mehr, als ich gewollt hatte. Aber nun meine Besorgnisse! Ich freue mich herzlich über Ihren Erfolg —" „Na, na!"
„Daran sollten Sie nicht zweifeln. Ich freue mich aufrichtig, allerdings besonders darum, weil die Leute nun doch ohne Hunger durch den Winter kommen werden. Aber wenn ich mir dann vorstelle, daß die Arbeit so weiter gehen soll, wie sie begonnen hat, daß die armen Leute jahraus — jahrein daheim sitzen und Spielzeug schnitzen sollen —" Er unterbrach sie. „Aber erlauben Sie mal — das muß selbstverständlich so weiter gehen! Die Leute haben doch allen Grund zufrieden zu sein."
Sie blieb unverändert ruhig. „Vielleicht sind sie's wirklich. Aber wir anderen, die wir weiter sehen, dürfen uns dabei nicht beruhigen. Sind Sie einmal in den Häusern gewesen, haben Sie gesehen, unter welchen Umständen diese Menschen arbeiten?"
„Nee — das sollte mir gerade noch fehlen!"
„Es wäre doch wohl richtiger, wenn Sie's mal tun wollten! Vier, fünf Menschen in der engen niederen Stube — alle vom frühesten Morgen bis in die tiefe Nacht hinein an der Arbeit — — — misten Sie, lieber Freund, das reibt auf. Wenn Sie dann noch bedenken, daß im Winter fast gar nicht gelüstet wird, weil die Leute die Kälte fürchten und Heizmaterial sparen wollen, daß alle die Dünste und der Staub das
bißchen Atemluft ihnen direkt vergiften — nein, wahrhaftig, ich entsetz« mich, wenn ich mir vorstelle, was die paar Wintermonate allein schon der Gesundheit im Dorfe schaden müssen".
Paul lehnte sich breit zurück. „Wissen Sie, liebe Frau Manhtzrs, ' daß ich staunen muß über Ihre Auffassung und — gerade heraus — über Ihre Sentimentalität? Ich habe Sie bisher als eine praktische, resolute Frau gekannt, wie kommen Sie nun zu solchen Zimperlichkeiten ?
„Ich bin nicht zimperlich, aber ich kann auch nicht gleichgültig sein gegen das, was rund um mich vorgeht und was ich für schädlich halten muß."
„Aber mein Gott — was wollen Sie denn nur, und vor allem: Was kann ich dabei tun? Ich habe keinen Palast, wie mein Vater ihn hatte, um ihn den Arbeitern anzubieten. Und wenn die Leute in ihren eigenen vier Wänden, wo ich nichts zu sagen habe, sich unvernünftig benehmen, was kann ich dagegen tun? Und übrigens muß man doch auch einräumen, daß die Sache auch ihre großen Vorteile hat. Bei der jetzigen Betriebsform können alle Hände mitverdienen — selbst die Kinder. Ich muß Ihnen sogar sagen, es ist gut, daß es nicht anders ist. Sie sehen doch, wieviel wir zu tun haben. Wie sollt ich denn liefern können, wenn nicht alle Kräfte zur Arbeit herangezogen würden?"
Frau Manders griff aus alledem nur ein Wort heraus, das ihr Herz besonders getroffen hatte: „Selbst die Kinder!"
„Selbst die Kinder," wiederholte sie. „Aber die gerade werden den Wechsel am schwersten büßen müssen. Sonst waren sie draußen — Sommer und Winter — mit der gleichen Lust, und abends brachten sie frische Backen mit herein und morgens standen sie mit Hellen Augen auf. Jetzt sind die Gassen wie gefegt, und die Stille kann einem weh tun: Die Kinder müssen ja arbeiten! Sie verdienen Pfennige für die Eltern, aber sie geben dafür hin was unersetzlich ist: Ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Lebenskraft. Fst das nicht entsetzlich?