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ist am Dienstag nachmittag an die hiesige Anstalt abgeliefert werden. Um jedes Aussehen zu ver­meiden, hat man den Transport mit Vermeidung der Bahr, in verdecktem Mietwagen gewählt, in dem der mit Handschellen geschloffene Verbrecher von zwei Kriminalschutzleuten bewacht wurde.

Berlin 4. Dez. (Fürst Bülow und der Block). DieNordd. Allg. Ztg." schreibt: Der Reichskanzler Fürst v. Bülow begab sich heute vor Eröffnung der Sitzung nach dem Reichs- tage, wohin er die Führer der Mehrheitrparteien bitten ließ. Anlaß haben dem Reichskanzler die Vorgänge der gestrigen Sitzung geboten. Es er- scheint aussichtslos, die Geschäfte im Sinne der am 13. Dezember v I. inaugurierten Politik zu führen, wenn die zum Zusammenwirken berufenen Parteien in ihrem parlamentarischen Auftreten nach dem gestern gegebenen Beispiel fortsahren, gegen einander oder gegen die Regierung zu kämpfen. Infolgedessen wurde die heutige Sitzung nach einer gegen die gestrigen Bemerkungen des Abg. Paasche gerichteten Rede des.Kriegrministsrs v. Einem abgebrochen und auf morgen vertagt. Die Gründe der Krisis sollen in dem Zwist der Nationalliberalen mit dem preußischen Finanz­minister v. Rheinbaben über die Frage der direkten Reichsfieuern und in der Unzufriedenheit der Re­gierung mit der Haltung der Freisinnigen zum Vereinsgesetz zu suchen sein. Die Freisinnigen haben nämlich in ihrer vorgestrigen Fraktions- fitzung beschlossen, den Vereinsgesetzentwurf abzu­lehnen, nicht nur wegen des für sie gänzlich un­annehmbaren § 7, der Ausnahmebestimmungen gegen fremdsprachliche Reichrbürgsr enthält.

Berlin 4. Dez. Das Berliner Tageblatt schreibt: Die Erklärung für die heutige Vertagung des Reichstags ist darin zu suchen, daß der Reichs, kanzler mit seinem Rücktritt drohte, für den Fall, daß die nationalliberale Partei den Abgeordneten Paasche nicht fallen lasse. Fürst Bülow ist empört über das gestrige Auftreten Paasches gegen den preußischen Kriegsminister und hat erklärt, daß er unter keinen Umständen länger mittun wolle, wenn keine Vorsorge getroffen werde, daß ähnliche Zwischenfälle vermieden werden. Die national- liberale Partei wird heute zu dieser Ankündigung Stellung nehmen. Auch olle übrigen Fraktionen halten Beratungen ab. Die Lage wird noch da- durch kompliziert, daß, wie zuverlässig verlautet, auch zwischen dem Reichskanzler und dem preuß­ischen Finanzminister sowie dem Reichsschatzsekretär Freiherrn v. Stengel tiefgehende Differenzen be- stehen. Der eigentliche Grund des Zwischenfalles ist indessen das Vorgehen des Abgeord. Paasche. Die Tägl. Rundschau glaubt ausdrücklich fest stellen zu können, daß Fürst Bülow und der Kriegs- minister v. Einem nicht nur im allgemeinen zu einander in den herzlichsten persönlichen Bezieh, ungen stehen, sondern speziell auch in der Ange- legenheit LynarHohenau absolut der gleichen Auf- faffung find. Ein Gerücht im Reichstage wollte wissen, der Reichskanzler habe bereits telegraphisch seine Entlassung gefordert, da er nicht in der Lage sei, bei den Differenzen auf dem Gebiete der inneren Politik, namentlich in der Steuerfrage, den Block zusammenzuhalten. Das Gerücht klingt so, als sei es im Zentrum entstanden. Die National-Zeitung empfiehlt den Vorfällen gegen­über kaltes Blut zu bewahren. Bestimmtes sei im Augenblick nicht bekannt. Stoff zu kritischen Vorgängen hätten die letzten Sitzungen des Reichs- tages ja genug geliefert.

Berlin 4. Dez. (Deutscher Reichstag.) Das Haus ist stark besetzt. Am Bundesratstische vonEinem, von Stengel, von Beth- mann-Hotlweg, Tirpitz. Die General­debatte wird fortgesetzt. Kriegsminister vonEinem sagt, er habe mit dem Abgeordneten Paasche am 2. ds. Mts. nach Schluß der Sitzung eine vertrauliche Unterredung gehabt, in der Herr Paasche sagte, daß er von der Erklärung des Ministers über die An­gelegenheit des Hohenau und Lynar nicht befriedigt sei. Wenn Herr Paasche gestern nun versichert hat, er habe ihm gesagt, daß er Tags darauf hier auf den Gegenstand zurückkommen werde, so erkläre er, der Minister, daß er diese Mitteilung nicht gehört habe. Gestern sei er wegen dringender Geschäfte und auch wegen Kränklichkeit nicht im Hause gewesen. Er bedaure tief, daß Herr Paasche ihn nicht wenigstens gestern habe rufen lassen. Gegen den Grafen Lynar liege nur ein Fall vor mit dem Burschen. Indirekt

habe er überdies zugegeben, daß ein Fehler in der Behandlung der Angelegenheit Vorgelegen hätte. Beide Herren, sowohl Graf Lynar wie Graf Hohenau hätten sich gestellt, seien vor Gericht er­schienen. Der Prozeß werde also seinen geordneten Lauf nehmen. Er lehne es durchaus ab, am Freitag nur Entschuldigungen für die Angeklagten gehabt zu haben. Die Briefe und das Bild seien in der Tat vorgezeigt worden in der Verhandlung vor Gericht am 28. v. Mts. Es sei die Rede gewesen von Geldgeschenken. Er kenne eine ganze Reihe Personen und zwar Untergebene von ihm, denen er sein Bild geschenkt habe, auch in Generals-Uniform. Ich denke, so fährt der Minister fort, das beweist noch nicht, daß Jemand homosexuell veranlagt sei. Hat Herr Paasche noch andere Briefe, dann richte ich die dringende Bitte an ihn, sie schleunigst dem Gericht beim Kommando des Garde Korps einzu­reichen. Dort können sie auf ihren Wert geprüft werden Ich seihst halte aufrecht, daß die Armee zum größten Teile von den Dingen nichts gewußt hat. Kein Mensch kann mehr bedauern als ich, daß ich von den Dingen gar nichts gewußt habe. Hätte ich es gewußt, so wäre nichts passiert, oder ich stände nicht hier. Helfen Sie, daß wir aus dieser ekelhaften Sphäre herauskommen. (Lebhafter Beifall.) Ein Antrag des Blocks verlangt jetzt Ver­tagung. des Hauses. Die Abgg. Singer (Soz.) und Spahn (Ztr) protestieren dagegen. Abg. Wiemer (frs. Vp) befürwortet die Vertagung damit, es gingen wichtige politische Dinge vor. Abg. Bassermann (natl) schwächt dies sofort dahin ob, die Erklärungen deS Kriegsministers seien so bedeutungsvoll, daß seine Freunde darüber in Be­ratung treten möchten. Das sei der einfache Grund des Vertagungswunsches. Die Abgg. Gröber (Ztr.) und Singer (Soz.) weisen unter Heiterkeit und Beifall deS Anti-Blocks, der nunmehr wissen wolle, was denn eigentlich Wichtiges vorliege, auf den Widerspruch zwischen den Aeußerungen Bassermanns und Wiemers hin. Schließlich erfolgt über den Vertagungsantrag namentliche Abstimmung. Für die Vertagung werden 169, dagegen 134 Stimmen abgegeben. Die Vertagung ist also beschlossen. Morgen 1 Uhr Fortsetzung der heutigen Beratung.

Berlin 5. Dez. (Deutscher Reichstag) Am Buudesratstische von Stengel, von Rhein- haben, Bethmann-Hollweg, Krätke, von Einem (bei Beginn der Sitzung mit Paasche in Unterhaltung.) Die Generaldebatte über den Etat wird fortgesetzt. Abg. von Norman n (kons.) erklärt namens seiner Fraktion: Wir haben in der Debatte durch unseren Redner erklären lassen, daß wir entschlossen sind, die Blockpolitik, soweit es mit unseren Grundsätzen vereinbar ist, auf­richtig und ehrlich zu unterstützen. Wir find auch ferner gewillt, in diesem Sinne zu arbeiten. Ich erkläre darnach, daß wir unsere vertrauensvolle Stellungnahme zur Politik des Reichskanzlers bei­behalten und demgemäß auch in unserer Stellung zum Block verharren werden. Diese Erklärung habe ich gleichzeitig abzugeben im Namen der Reichrpartei und der wirtschaftlichen Vereinigung. (Beifall.) Abg. Bassermann (natl.) gibt im Aufträge seiner politischen Freunde folgende Er­klärung ab: Wir erkennen in dem Zusammen­wirken der Konservativen und Liberalen nach wie vor eine politische Notwendigkeit und wir vertrauen» daß der Reichskanzler diese durch die Reichstagsauflösung vom 13. Dezember 1906 ein­geleitete und bei den Neuwahlen vom Volke gut geheißene Politik (großer Lärm beim Anti-Block) nach wie vor fortsetzen werde. Ich habe dieser Erklärung noch Folgendes hinzuzufügen: Der Ab­geordnete Paasche wird das in seinen Händen befindliche Material zur Verfügung des Kriegs­ministers stellen. Er hat nicht beabsichtigt, dem Kriegsminister persönlich nahe zu treten. (Ge- lächter beim Zentrum und den Sozialdemokraten.) Unbeschadet einzelner Differenzen haben wir volles Vertrauen zu seiner Person und Verwaltung. (Leb­hafter Beifall beim Block, Gelächter beim Anti-Block. Abg. vr. Wiener (frs. Vp.) Im Namen der freisinnigen Volkspartei, freisinnigen Vereinigung und der deutschen Volkspari ei habe ich zu erklären, daß wir einmütig gewillt find, getreu unserer bisherigen aus sachlichen Gründen beobachteten Haltung die Blockpolitik weiter zu unterstützen (lebhafter Beifall beim Block) und zwar, um unter Wahrung unserer politischen Grundsätze (Gelächter beim Anti-Block) durch unsere Ein­wirkung Fortschritte in der Richtung unserer Anschauungen zu erreichen zum besten des Vater­landes. (Lebhafter Befall beim Block, Geheul

beim Anti-Block). Abg. Gröber (Ztr.) die ganze Situation ist die:Und der Hans küßt die Grete und es ist alles wieder gut" (stürmische Heiter­keit) wir wollen diese Unterhaltung nicht stören, ich verzichte daher aufs Wort. (Große Heiterkeit.) Abg. Müller-Meiningen verzichtet im Hinblick auf die jetzige Situation aufs Wort. (Beifall.) Ein Schlußantrag gelangt zur Annahme. (Der Abg. Singer nennt den jetzigen Präsidenten einen Präsidenten der Mehrheit. Große Unruhe beim Block, lärmende Zustimmung beim Zentrum und den Sozialdemokraten.) Präsident Graf Stol- berg verbittet sich jede Kritik seiner Geschäfts­führung. Hierauf werden die üblichen Etats- teils der Budget-Kommission überwiesen. Der Anti-Block stimmt dagegen mit Ausnahme von Spahn und einigen wenigen Anderen. Es folgt die erste Beratung des Handels.Provisoriums mit England (Verlängerung der bestehenden um 2 Jahre, also bis 1909). Staatssekretär Bsth- mann-Hollweg nimmt unter großer Unruhe im Hause das Wort. (Der Präsident Graf Stol- berg schafft mit Mühe vorübergehend Stille), worauf der Staatssekretär die Vorlage kurz zur Annahme empfiehlt. Abg. von Heyl (natl.) gibt unter fortdauernder Bewegung im Hause die Er­klärung ab, daß seine Freunde mit der Volage und zwar ohne Kommissionsberatung einverstanden seien. Abg. Wiemer (frs. Vp.) gibt eine gleichartige kurze Erklärung ab. Abg. von Dirksen (Rp.) stimmt ihm namens seiner Fraktion zu. Abg. Graf Schwerin-Löwitz (kons.) giebt seiner Genugtuung über die freundlichen Beziehungen Ausdruck, die sich in letzter Zeit zwischen den beiden germanischen Mächten heraus gebildet hätten. Wenn seine Freunde auch Einwendungen gegen dis Vorlage zu machen hätten, so wollten sie ihr doch ohne Kommissionsberatung zustimmen. Abg. Singer (Soz.) Auch wir werden der Vorlage zustimmen. Hierauf wird die Vorlage in zweiter Lesung genehmigt. Morgen 1 Uhr Antrag Graf Hompesch betreffend Förderung des Handwerks und des kaufmännischen Mittelstandes.

Berlin 4. Dez. Zu den gestrigen Er­klärungen des Abg. Dr. Paasche erfährt das B. T." von unterrichteter Seite Folgendes: Herr Paasche hat von einem kriegsgerichtlichen Verfahren in der Affäre Hohenau gesprochen, das 24 Stunden vor der Rede des Kriegsministers von Einem in Potsdam stattgefunden habe. Herr Paasche spielte mit diesen Worten darauf an, daß am Donnerstag, also am Tage vor der Einem'schen Rede Mcrximilmn Harden in Pots­dam vor dem militärischen Untersuchungsrichter über die Affäre Hohenau und Lynar vernommen wurde. Die Erhebungen dauerten 2 Stunden. Harden wurde vereidigt. Die Briefe, die Herr Paasche gestern in der Tasche hatte es handelt sich um 4 oder 5 find von dem Grafen Hohenau geschrieben und an den Zeugen Bollhard gerichtet. Die Photographie des Grafen Hohenau, die dem Briefe beiliegt, trägt eine Widmung. Das Schreibpapier, dessen sich Graf Hohenau be­diente, ist mit der Krone geziert. Der Inhalt der Briefe soll an den Beziehungen zwischen dem Briefschreiber und dem Empfänger einen Zweifel nicht übrig lassen. Außer dem Zeugen Bollhard kommt noch ein zweiter Zeuge in Betracht.

Berlin 5. Dez. Gestern Abend noch hat eine Aussprache zwischen Herrn von Einem und Herrn Paasche statt­gefunden. Die Unterredung zwischen dem Kriegsminister und dem Vizepräsidenten des Reichs­tages klang in der Versicherung aus, daß man mit den Empfindungen der alten gegenseitigen Freundschaft von einander gehe, da man über­zeugt sei, daß jeder von seiner Stelle aus loyal gehandelt habe. Es wurde demLok.-Anz." auch mitgeteilt, daß Herr Paasche dem Kriegsminister Einsicht in sein die leidige Frage betreffendes Material habe nehmen lassen und daß der Vize- Präsident sich bereit erklärt habe, dies Herrn von Einem zur Verfügung zu stellen.

Lemberg 4. Dez. Die hiesigen Zeitungen stellen fest, daß die Meldung von der Ver­brennung einer Karrikatur Kaiser Wilhelms unrichtig ist. Gleichzeitig wird aus Warschau gemeldet, daß auch in Russisch- Polen Vorkehrungen zu einer Boykottierung