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kürzung ihres Weges über einen Zaun geklettert und mit ihrer Schürze hängen geblieben ist. Die Kleider und besonders die Schürze hatten sich derart in den Zaun geklemmt, daß das Mädchen wahrscheinlich eine Zeit lang bis zu ihrem Tode frei schwebend hängen blieb. Die gerichtliche Leichenöffnung konnte ein Sittlichkeitsverbrechen nicht festsiellen.
Stuttgart 3. Nov. Gestern nachmittag durcheilte eine neue Schreckenskunde die Stadt. Die an Schwermut leidende Frau des Eisendrehers Auweter in Gaisburg hatte vormittags während t er Abwesenheit ihres Mannes ihrem zu Hause befindlichen Kind einem dreijährigen Mädchen, mit einem großen Tranchiermesser den Hals rund herum abgeschnitten. Darauf brachte sie sich selbst mit dem Tranchiermesser drei Verletzungen bei, nämlich einen Stich in den Hals, einen Schnitt in die Luftröhre und in das linke Handgelenk. Als die anderen Kinder von der Schule nach Hause kamen, fanden sie die Wohnung verschlossen und machten Lärm. Als man die Wohnung erbrach, zeigte sich ein schauerlicher Anblick: Das tote Kind und die schwerverletzte Frau lagen in einer furchtbaren Blutlache am Boden. Nachdem der Frau ein Notverband angelegt war, wurde sie ins Krankenhaus gebracht; auf dem Weg dahin ist sie an ihren Wunden gestorben.
Stuttgart 3. Nov. Der Bauführer Christian Raith, Vogelsangflraße 13, vier Treppen, hat gestern Nachmittag seine Frau, seine Geliebte, seine drei Kinder und schließlich sich selbst erschossen. Die Schüsse scheinen nicht gehört worden zu sein. Als man heute vormittag niemand von dieser Familie zu Gesicht bekam, wurde die Polizei gerufen und die Wohnung kurz vor 12 Uhr mittags erbrochen. Hier fand man 6 Leichen auf dem Boden zerstreut liegen. — Wie wir über den grausigen Fall noch mehr erfahren, ist der Mörder Christian Raith 33 Jahre, seine Frau 30 Jahre, seine Geliebte seine Kellnerin namens Bauer) 33 Jahre, die Kinder 6 und 3 Jahre, das jüngste Kind ungefähr 8 Monate alt. Heute abend 7 Uhr wurden die Leichen in zwei Leichenwagen von der Vogelsangstraße ins Leichenhaus de« Pragfriedhofs verbracht. Am Trauerhause hatte sich eine große Menschenmenge an- gesammelt. Ein hiesiges Blatt will wissen, Raith Hobe sich am gestrigen Tag krank gestellt und sich von seiner Geliebten pflegen lassen. Raith war Angestellter einer bekannten hiesigen Architektenfirma, der auch das Haus gehört und worin Raith Hausmeister war. Ein Nachbar will zwischen 3 und 5 Uhr früh Schüsse gehört haben. In ganz Stuttgart ist die Aufregung über den traurigen Fall ungeheuer, umsomehr, als der gestrige Tag zwei Aufsehen erregende Morde bezw. Selbstmord- fälle gebracht hat. Innerhalb zweier Tage find nun 9 Personen auf diese traurige Weise ums Leben gekommen.
Nürtingen 2. Nov. In Reudern glaub
ten einige junge Leute nach einer Hochzeit morgens um 2 Uhr noch ein übriges tun zu müssen; sie schlichen sich in den Weinkeller des Wirts, um eine Weinprobe abzuhalten. Als die durstigen Gesellen zu laut wurden» wurde der Wirt aufmerksam, zog die Zechbrüder hinter den Fässern hervor und beförderte sie ins Freie. Die Behörde soll die Sache aber nicht von der spaßhaften Seite ansehen.
Crailsheim 2. Nov. Infolge Nichtstellens der Weiche lief gestern nacht ein von Aalen kommender Güterzug auf einen zur Ausfahrt gerichteten Güterzug im hiesigen Bahnhof. Der Gepäckwagen des letzteren ist völlig zertrümmert, tausend Splitter bedeckten das Geleise; außerdem wurden 6 weitere Wagen über die Schienen geworfen; sie liegen am Boden. Die Lokomotive des ankommenden Zugs hat ebenfalls Beschädigungen erlitten. Ein Schaffner, der sich in dem nunmehr zertrümmerten Gepäckwagen aufgehalten hatte, entging durch Abspringen im letzten Augenblick dem sicheren Tod.
München 2. Nov. In Gauting bei München wurde heute der Bäckermeister Staffing er mit seiner Frau in ihrem oberhalb der Backstube gelegenen Schlafzimmer erstickt aufgefunden. Ein fünfjähriges Töchter chen des Schwiegersohnes, das bei den Schwiegereltern schlief, kam gleichfalls um's Leben. Das Unglück geschah infolge Rauchentwicklung aus dem defekten Backofen.
Köln 1. Nov- Auf der Brohltalbahn stürzte bei Oberzissen gestern der letzte Zug mit sämtlichen Wagen vom Viadukt in die Tiefe. Die Entgleisung scheint auf Versagen der Bremsen auf dem Viadukt zurückzuführen zu sein, oder auf ein abgebröckeltes Eisenstück. Der Zug, welcher aus einer Lokomotive und 12 Wagen» vornehmlich Güterwagen, bestand, stürzte die 25 in hohe Böschung hinab. Bei dem Sturz kam ein Personenwagen unter einen Güterwagen zu liegen und wurde zermalmt. Die Insassen fanden den Tod oder wurden schwer verletzt. Mancher rettete sich durch Abspringen und kam mit leichteren Verletzungen davon. Tot sind Zugführer Weber- Kempenich, Ingenieur Sippig-Koblenz, ein auf der Reise nach der Heimat befindlicher Italiener und der Kartoffelhändler Grah aus Heimersbach. Seinen Verletzungen erlegen ist der Reisende Oel aus Andernach. Schwer verletzt wurden: der Reisende Waschbüch aus Mainz, Zimmermeister AdamS-Nieder-Zissen, sein Bruder Zimmermeister in Düsseldorf, Steinbruchbesitzer Junker-Bergbröhl eine Lehrerin aus Koblenz, ein Förster aus Kempenich, Weinhändler Mies-Ahrweiler, ein Lehrer von Handebach und ein Monteur aus Köln. Die Besatzung der Lokomotive rettete sich
seine Augen starrten entsetzt und mit irrem Ausdruck auf die junge, lieb- I reizende Gestalt vor sich.
„Leben Sie wohl — Inge, leben Sie wohl."
Jäh ließ er ihre Hand fahren und stürmte die Stufen der Veranda hinab in den Garten, ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen, ohne Erklärung seiner sonderbaren befremdenden Hast.
Sprachlos, wie gelähmt stand Inge und starrte der geliebten Gestalt nach, die wie gehetzt aus ihrer Nähe floh.
Was hatte er? War bedeutete sein verstörtes Aussehen, seine Flucht? Eiskalt überlief es ihren Körper — ein Schwindel packte sie. Die Rosen entglitten ihren Händen und tcumklnd griff sie nach der Brüstung der Veranda. Ein Reif war auf ihre Seele gefallen, er knickte die duftigen Blüten, daß sie unter seinem eisigen Hauche erstürben.
„Inge, Inge!"
Die Mutter rief eus einem Fenster. Inge kam zur Besinnung und schickte sich an, in dos Haus zurückzr gehen. Jetzt erst erblickte sie die Rosen auf dem Boden. Arme Rosen, was habt ihr getan, daß euch ein solche« Geschick beschieden wurde?
Sie bückte sich und hob sie aus. Damit trat sie in das Zimmer, wo Frau Hel»brecht mit allerlei Vorbereitungen für ten Nachmittag beschäftigt war.
„Du riefst mich, Mutti?"
Sie wandte sich dem Fenster zu, damit die Mutter ihr verstörte« Aussehen nicht gewahren sollte, mit eiserner Energie zwang sie ihre Stimme zu dem gewohnten Klang.
Tos herzbrechende Weh, das dennoch dmchzitterte, wäre der Mutter wohl kaum entgangen, wenn ihre Gedanken nicht eben durch andere Dinge in Anspruch genommen worden wären.
»Ja, Inge, du kannst mir ein wenig beim Ordnen dieser Fruchtschalen behilflich sein. Mo stecktest du eigentlich?"
durch Abspringen. Die Westdeutsche Eisenbahngesellschaft, der die Brohltalbahn gehört, versendet über das Unglück eine Darstellung, worin es heißt: Trotz aller Sicherheitrvorrichtungen und Einrichtungen hat der Lokomotivführer gleich nach der Ausfahrt aus der Zahnstangenstrecke liegenden Station Brenk die Herrschaft über den Zug offenbar infolge unvorsichtiger schneller Einfahrt in die Teilstrecke, deren Schienen bei dem regnerischen Herbstwetter schlüpfrig waren, ganz verloren und es ist der Zug mit wachsender Geschwindigkeit talabwärts gefahren. In der Kurve auf dem Viadukt fielen die Talbotwagen, deren Schwerpunkt hochliegt, infolge der Zentrifugalwirkung der großen Geschwindigkeit um, wurden über den Viadukt geschleift und stürzten am Ende der Viadukts über den Böschungshügel hinab, gleichzeitig den Personenwagen umkenternd, der weitergeschleift wurde. Der mit großer Geschwindigkeit freilaufende Zugteil mit 6 schweren Güterwagen stürzte nun mit voller Wucht auf den Personenwagen und zertrümmerte ihn derart, daß nur ein Teil des Untergestells noch erhalten ist. In Brenk waren im Personenwagen 18 Reisende; 4 waren sofort tot, 2 wurden schwer, die übrigen leichter verletzt. Der fünfte Tote ist der Zugführer, der die Schlußbremse des Zuges bediente und bei dem Aufprall des Wagens auf den Personenwagen über die Böschung geschleudert und von einem Tuffsteinblock von der Ladung eines umgcflürzten Güterwagens tödlich getroffen wurde.
Marburgs. D. 2, Nov. In der hiesigen Station ist der von Traubcrg heute früh eingetroffene Personenzug auf eine Laflzug-Lokomotive aufgefahren. 2 Bahnbedienstete und 12 Reisende wurden verletzt.
Berlin 2. Nov. Die „Norddeutsche Allg. Zeitung" schreibt: Das „Berliner Tageblatt" bringt in der Morgenausgabe vom 1. November u. a. die Angabe, daß seitens des Reiches etwa 1000 Millionen zur Einführung eines Reichs- Branntwein-Monopols erforderlich seien. Diese Angabe steht in keiner Weise mit den Grundzügen im Einklang, von denen man im Reichsschatzamt bei den Erwägungen ausgegangen ist, wie etwa wohl die Grundlage für ein Roh- Branntwein-Monopol zu gestalten sein möchte, wenn man genötigt sein sollte, der Frage seiner Einführung näher zu treten. Nach jenen Grundzügen könnten Aufwendungen in einer so maßlos übertriebenen Höhe niemals in Frage kommen.
Berlin 2. Nov. Aus London meldet das Berl. Tagebl.: Der charakteristische Zug bei den gestrigen Gemeindewahlen in England ist die vollständige Nieder, läge der Sozialisten- und Arbeiter. Partei, und ein unerwartet großes An. wachsen der konservativen Stimmen.
„Ich war auf der Veranda. Mister — Mister Williams kam, um mir zu gratulieren. Er brachte mir die Rosen — sieh her."
„Warum kam er nicht herein?"
Nun wurde Frau Helmbrecht doch aufmerksam und sah zu ihrer Tochter hin, cber Inge fragte schnell, was sie helfen könne, und brachte damit das Gespräch auf andere Dinge.
Am Nachmittag kamen die Freundinnen mit ihren Brüdern. Glück- wünsche und kleine Aufmerksamkeiten wurden ihr in Menge zuteil. Sie lächelte und dankte, sie plauderte und lachte wie sonst und niemand merkte das Erzwungene heraus, niemand hörte das geheime bittere Weh ihrer wunden Seele.
„Du, Inge, wo bleibt denn dein famoser Amerikaner?" fragte Lucie Hagen, die Freundin. „Wir find schon olle so gespannt auf ihn. Er hat sich noch niemals unseren Blicken gezeigt."
„Er hat viel zu tun, Lucie, er wird kaum abkommen können," erwiderte Inge mit blutendem Herzen.
„Schade. Wir hatten uns so auf ihn gefreut."
Das Fest nahm seinen gewöhnlichen Verlauf und die Stunden vergingen. Ta zog Frau Helmbrecht Inge bei Seite.
„Mister Williams krmmt gar nicht. Hat er heute morgen etwa« zu dir darüber gesagt?"
„Nein, nichts, Mutti."
„Ich werde einmal den Diener hinüberschicken; er hat es über seiner Arbeit sicher wieder vergessen."
Und sie schickte hinüber. Der Diener kam jedoch mit der Meldung zurück, der Herr Direktor wäre weder in seinem Zimmer, noch in der Fabrik und niemand hätte ihn gesehen.
Trotz dieses Bescheides hoffte Inge noch immer, sie hoffte bis zum letzten Augenblick, mit der Zuversicht der Jugend, die noch an Wunder glaubt.
(Fortsetzung folgt).