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der vr. Jahrs in Leutenbach und Winnenden eine Reihe von Diebstählen; insbesondere wurden von ihm seine Mieter und Nachbarn bestohlen. In einer Wirtschast entwendete er eine Geldtasche mit 10—25 ^ Inhalt, in einem Metzgerladen aus der Ladenkaffe 4 Außerdem veranlaßte er seine beiden Lehrlinge durch Drohungen, einem Hausbewohner Holz zu stehlen. Aus Rachsucht fügte er einem Karusselbesitzer großen Schaden zu, indem er ein diesem gehöriges Zelttuch zerschnitt, und mit seinen Lehrlingen die Radspeichen eines Packwagens durchsägte. Weil ihn einer der Bestohlenen des Diebstahls bezichtigte, versuchte er dessen Haus anzuzünden. Er wurde deshalb vom hiesigen Schwurgericht zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Unter Einrechnung dieser Strafe erkannte die Strafkammer gegen ihn auf Gesamtstrafe von 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis. Die beiden Lehrlinge wurden wegen Sachbeschädigung zur Strafe des Verweises verurteilt.
Reutlingen 24. Juni. Ein freundlicher Wirt ist der Pächter der Bundeshalle. Dort veranlaßte in letzter Woche der liberale Verein den Kolonialvortrag des vr. Rohrbach, früheren Reichskommiffars in Südwest-Afrika. Nach etwa einer Stunde wollte der Wirt beim Redner das Abbrechen des Vortrags erwirken, da angeblich die Verdunkelung des Saals bei den eingeschalteten Lichtbildern den Wirtschaftsbetrieb beeinträchtige. Es dauerte lange, bis die in Frage gestellte Fortsetzung des Vortrags erfolgen konnte, dank der energischen Forderung des Publikums, dem es endlich gelang, den unliberalen Wirt zur Ordnung zu bringen.
Göppingen 23. Juni. Die Ehefrau des Fabrikarbeiters Strütt hatte gestern beim Kochen der Mittagessens Spiritus in den Kochherd geschüttet. Der Spiritus explodierte, und dabei hat sich die Frau so schwere Brandwunden zugezogen, daß sie ins städtische Krankenhaus verbracht, gestern früh an den erlittenen Brandwunden starb.
Mergentheim23. Juni. Ein raffinierter Diebstahl wurde vom Donnerstag auf Freitag nachts bei Kaufmann Frich in Schäftersheim ausgesührt. Die Diebs nahmen ihren Weg durch das Wohnzimmer, öffneten den Schreibpult und dis Ladenkasse, fanden aber beide leer. Nur im Schlafzimmer konnten sie des Geldbeutels mit 13 ^ habhaft werden. Auch ein Lotterielos und eine Cyltnderuhr ließen sie mitlaufen. Die Diebe müssen schon mit aller Vorsicht ans Werk gegangen sein, denn der Hausbesitzer erwachte nicht einmal aus seinem Schlafe.
Mannheim 22. Juni. Den Teilnehmern am Mannheimer Anarchisten-Kongreß, insge
samt 40 Personen, darunter vr. Friedeberg und Karfunkelstein-Berlin ist die Anklageschrift wegen Vergehens gegen das badische Vereinsgesetz zugegangen.
Köln 22. Juni. Die kölnische Zeitung bestätigt in einem Berliner Telegramm, daß König Eduard in einem sehr freundlich gehaltenen Schreiben den Kaiser und die Kaiserin zu einem Besuch in England eingeladen habe und ergänzt diese Meldung dahin, daß die englische Einladung als Zeit des Besuches den Herbst in Aussicht nimmt.
Magdeburg 22. Juni. Bei dem Er- neuerungsbau einer Eisenbahnbrücke über die Elbe drohte gestern Nachmittag durch den orkanartigen Sturm ein mit 6 Mann besetztes Gerüst gegen einen Pfeiler geschlagen zu werden. Die sechs Arbeiter sprangen aus Furcht, zerquetscht zu werden, in die Elbe. Vier von ihnen sind ertrunken.
Berlin 22. Juni. Graf Witte, der heute Abend in Berlin eintrifft, wird hier keinen längeren Aufenthalt nehmen, sondern sofort nach Frankfurt a. M. weiter reisen, wohin er sich zur Consul- tation eines dortigen Arztes begiebt. Von dort aus gedenkt er einen Badeort in Frankreich zu besuchen.
Berlin 22. Juni. Ein gewaltiger Sturm, der einem kurzen Gewitter vorausging, tobte gestern Nachmittag in Berlin und Umgebung. Wenn er auch nur von kurzer Dauer war, so hat er doch eine ganze Reihe schwerer Schäden verursacht. So wurde auf dem Dach eines Hauses in der Ocanienstraßs ein mächtiger schmiedeeiserner Schornstein umgsrissen und mit solcher Heftigkeit auf das Dach des Nebenhauses geschleudert» daß der Dachbau vollständig durchschlagen wurde. Auf den Straßen wurden einige Passanten von herabstürzenden Ziegeln getroffen. — Ein Arbeiter wurde bei Ausschachtungsarbeiten von Sandmassen verschüttet und schwer verletzt zu Tage gefördert. Zahlreiche Fensterscheiben fielen dem Sturm zum Opfer. In den Anlagen und Straßen von Berlin wurden vielfach Bäume geknickt. Auf den Feldern wurde das Obst zum größten Teil von den Bäumen heruntergeschlagen. Auf den Gewässern in der Umgebung von Berlin kamen einige Boote zum Kentern.
Paris 22. Juni. Die Nachrichten aus dem Aufstandsgebiet im Süden lauten fortgesetzt beunruhigend. General Bailloud hat in einer dringenden Depesche von der Regierung bedeutende Verstärkungen verlangt. Kriegsminister Picquart gab seinem Ersuchen sofort Folge. Er ordnete den Abmarsch mehrerer Regimenter aus nördlichen Garnisonen an. Das gestrige Kammer
votum hat die Situation der Regierung verstärkt. Man fürchtet jedoch, daß es nicht ohne Blutvergießen abgehen wird, da die Anarchie im Süden einen Umfang angenommen hat, der schärfste Maßnahmen seitens der Regierungsgewalt zur unbedingten Notwendigkeit macht. Das gestern Abend verbreitet gewesene Gerücht, Marcellin Albert sei verhaftet worden, hat bis heute früh keine Bestätigung erfahren.
Paris 22. Juni. Die Lage in Montpellier, wo gestern das erste Kürassierregiment aus Paris eintraf» wird vom General Bailloud so ernst angesehen, daß er Fußartillerie zur Verstärkung verlangte. In Montpellier mußten 8 Dragoner und Infanteristen einschreiten, um Barrikaden zu zerstören. Mehrere Deputierte erhielten die Nachricht, daß zwei Kasernen in Montpellier brennen.
Perpignan 23. Juni. Als ein Steuererheber im Gemeindeamt von Torreiles erschien, um die Steuer einzutreiben, wurde vom Rathause Sturm geläutet worauf die Bewohner sich mit allen möglichen Waffen und Instrumenten vor dem Rathause einfanden. Unter diesen Umständen zog es der Steuererheber vor, den Ort schleunigst zu verlassen.
Petersburg 22. Juni. Laut hier ein- getroffenen Meldungen sind ebenso wie in den Militärlagern von Kiew, Wilna und Odessa auch in denen von Warschau und Kasan Unruhen aus- gebrochen. Bei Soldaten wurden eine Menge revolutionärer Aufrufe und verbotene Schriften aufgefunden. Der Kriegsminister hat die für den Herbst geplanten großen Manöver zwischen den Truppen der Militärbezirke von Warschau und Wilna im Hinblick auf die Situation für's erste fallen lassen. In Odessa wurde eine Bombe geworfen, die mit furchtbarer Gewalt krepierte. 15 Personen, hauptsächlich Kinder wurden dabei verletzt. In Mitau wurde das ganze lettische sozialrevolutionäre Comits verhaftet, welcher am Londoner Kongreß beteiligt war. Dadurch ist die Regierung in den Besitz der Resolution des Londoner Kongresses gelangt, welche u. A. eine Verstärkung des Terrors für ganz Rußland in Aussicht stellt.
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Bewußtsein lag darin. Thymert beugte sich tiefer zu ihm herab. „Auf der See" stammelten die bleichen Lippen.
„Er möchte lieber zur See, als hier in der Hütte sterben, wer unter uns teilte diesen Wunsch nicht?" dachte der Priester. „Aber sie kommen im Sturm, um Dich zu holen," sagte er laut und deutlich, im Sturm, Jean, im Sturm!"
Ein heftiger Windstoß erschütterte das Haus. Jean schien zu lauschen, ob der Sturm, der Genosse seines freien Schifferlebens, gekommen sei, ihn zu holen; der Gedanke schien ihm tröstlich, aber es war nur ein letztes Aufflackern der Lebenskraft, dann schwand ihm das Bewußtsein. Der müde Finger begann nochmals sein schwaches Tick — tack, die Lippen blieben geschlossen. Voll zärtlichen Mitleids nahm Thymert die arme, schwielige Hand, fühlte ihren matten Pulsschlag und legte die Hand sanft auf die Brust des Greises. „Ruhe in Frieden, mein Bruder," flüsterte er leise. Die Hand lag still; für den alten Jean gab es weder Zeit noch Stunde mehr.
Guenn lehnte an der Wand, mühsam ihre Bewegung bemeisternd, ihr war, als wolle ihr das Herz brechen. Das Licht fiel auf Hamor Gesicht in der Tür, aber selbst das vermochte ihren Kummer um den alten Fischer nicht zu lindern, nicht die Empörung ihres Innern gegen das Geheimniß von Schmerz und Tod zu beschwichtigen. „Warum muß es so sein I" dachte sie mit Widerstreben, „und wenn er auch im Himmel glücklich wird, weshalb muß das Scheiden so schrecklich schwer sein?"
Thymert's Augen suchten die ihren, sie trat zu ihm heran. „Hast Du schon je einen Menschen sterben sehen?" flüsterte er sanft.
„Nein," antwortete sie schauernd. Noch immer hob Md senkte sich Jeans Brust.
„Auch das muß man sehen," sagte er feierlich. Sein mitleidsvolles Herz drängte ihn, seinem armen Fischervolk Trost und Zuspruch zu spenden; schon seine bloße Gegenwart beruhigte die trauernde Familie. Neben der rührendsten Liebe und Hilfsbereitschaft lag eine solche Größe und Hoheit in seinem Wesen, daß Hamor auf's tiefste davon ergriffen wurde.
„Unser Pfarrer ist ein Engel," sagte einer der rauhen Männer, die an der Tür standen. „Jeans Seele kann leicht von hinnen scheiden, da der eurö bei ihm ist. Seht nur, er hat gar keinen Todeskampf."
„Ich habe heute die Rauchprobe gemacht," murmelte ein anderer. „Er stieg jedesmal kerzengerade in die Höhe. Mir ist nicht bange um Jean, Seine Seele geht zu Gott."
„Jean war ein braver Bursche, da ist's ganz natürlich, daß der Rauch aufsteigt. Was sollte der Satan auch mit der Seele eines wackern, bre- tagnischen Seemanns anfangen? Die heilige Jungfrau erbarme sich seiner!"
Jeans jüngstes Enkelkind zupfte weinend an Guenns Schürze. Das kleine Ding fühlte sich verlassen und Guenn nahm es mitleidig auf den Arm. Es war ganz erstarrt vor Frost und Näsie, denn es hatte an der Tür gekauert, durch die der Regen unbehindert eindrang. Das junge Mädchen drückte das arme, kleine Wesen an sich, es sorgfältig mit dem Tuch umhüllend. In der behaglichen Wärme sank das Kind bald in tiefen Schlaf und Guenn wagte kaum sich zu rühren, aus Furcht es zu wecken. Es war so tröstlich das Kinderhändchen und das müde Köpfchen auf ihrer Schulter zu fühlen; Jean war zwar tot, aber sein Enkelkind lag an ihrem Herzen, und ein hell beleuchtetes» liebes Antlitz an der Tür lächelte freundlich auf sie herab; die Welt erschien ihr schon weniger hart und grausam.
Nachdem die Sterbegebete für die abgeschiedene Seele beendet waren, wandte sich Thymert zu ihr: „Ich werde die Frau des Sergeanten im Fort bitten, Dir für heute Nacht ein Obdach zu gewähren," sagte er.
„Aber ich möchte lieber mit Ihnen zurückkehren."
„Nein, Du sollst bleiben," erwiderte er ernst.
Seine Worte waren ruhig, doch bestimmt. Hier auf seinen öden Inseln, unter seinen Fischern, die ihn liebten und verehrten, inmitten von Kummer und Armut, Not und Tod, fühlte er sich als Herr und Meister. Hier wenigstens sollte ihm kein Fremdling dreinreden. Guenn fügte sich schweigend.
(Fortsetzung folgt.)