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länder ist vielleicht praktisch schneller als der Deutsche bei der Arbeit, aber deutsches Nachdenken, deutsche Philosophie und deutsche Gründlichkeit fehlt diesen Völkern, aber diese müssen uns voranleuchten bei allen unseren Unternehmungen. Auch in der Politik müssen wir Geistesarbeit verrichten. Vor allem aber ist es notwendig, den Liberalismus nicht auf die Kreise zu beschränken, die heute schon liberal find, sondern wir müssen werbend wirken. Wir brauchen Jugend, diese aber will eine allgemeine Idee haben. Laßt uns lieber ein wenig doktrinär sein, wir sind dann um einen Grad jugendlicher. Wir müssen aber auch den tüchtigen, jugendlichen Arbeiter für den Liberalismus gewinnen und dazu ist es notwendig, die Fragen der Marxismus mit Ehrlichkeit durch- zudenken. Alle anderen Parteien haben etwas wie Weltanschauung hinter sich, ohne diese kann auch der Liberalismus nicht auskommen. Man habe früher das Parlament der Paulskirche nicht nach seiner Bedeutung eingeschätzt. Auf Weisung Bismarcks hat Lothar Bücher bei dem Ver- fassungrentwurf für das deutsche Reich aber die alten Akten des Parlaments in der Paulskirche benutzt. Wenn man die hier versammelten Vertreter des Liberalismus betrachte, so muß man gestehen, daß sie die Gaben haben, an Menschen heranzutreten. Möge der Liberalismus arbeiten zum Nutzen des deutschen Volkes und der deutschen Freiheit. (Stürmischer Beifall.) Hierauf sprach Professor Dr. O. Harnack über die Frage ,,Was ist liberal". Redner erinnerte dabei an den gesunden liberalen Fortschritt in Württemberg, der in der Verfassungsreform seinen Ausdruck gefunden habe. Das deutsche Volk ist aber selbst schuld daran, wenn der Liberalismus noch keine größere Macht repräsentiere. Bis jetzt habe der Liberalismus noch keine Zusicherungen erhalten, er muß sich alles selbst erringen. Die Forderung absoluter Gleichheit Aller vor dem Gesetz, sowie die vollständige Durchführung der Freiheit seien selbstverständliche Forderungen. In der Armee und auf konfessionellem Gebiet müßten alle Sondervorrechte fallen. In der Rechtspflege wird mit ungleichem Maß gemessen. Liberal sein heißt vor Allem gerecht sein, ein offenes Herz haben für das ganze Volk und alle die ihm angehören. Unbedingt notwendig ist eine neue Wahlkreisordnung, wodurch das Uebergewicht des Agrariertums beseitigt wird. Ebenso wichtig ist die Forderung der Freiheit in der Betätigung der Einzelnen, eines neuen Vereinsrechts und freien Koalitionsrechts. Noch besitzen wir auch nicht die volle Freiheit der Kunst. Die Bevorzugung der orthodoxen Theologen vor den Freisinnigen ist entschieden zu verwerfen. Die Eigenart der einzelnen kirchlichen Einrichtungen wollen wir nicht anfechten. Die vom Zentrum ins Treffen geführte Gefahr eines bevorstehenden Kulturkampfes ist Spiegelfechterei. Irgend eine Wirkung aus das
öffentliche Leben und die Staatsverwaltung dürfen aber die kirchlichen Prinzipien unter keinen Umständen ausüben. Redner verweist sodann auf die Intoleranz auf katholischer Seite m Sachen der Mischehen und der Friedhöfe. Entweder ahmen wir das Beispiel Frankreichs und Amerikas nach und betrachten die kirchlichen Gemeinschaften als Privatvereine, oder aber die Kirchen fügen sich dem Staate. Die Schule müsse dem Einfluß der Kirche entzogen werden, und jeder muß das Recht haben, seine Kinder nach seiner freien, religiösen Ueberzeugung erziehen zu lassen. (Lebhafter Beifall.) Zum Schluß sprach Arbeitersekretär Fischer.Reutlingen über „Was ist sozial?"
Waiblingen 11. Mai. Infolge Ablehnung der von den Maurern geforderten Kürzung der Arbeitszeit um eine Stunde, sind diese in den Ausstand getreten. — Am Mon- tag den 13. Mai findet auf dem hiesigen Rathause die vom K. Ministerium verfügte amtliche Untersuchung betr. die Wahlanfechtung des demokr. Landtagsabgeordneten Kunstmühlebefitzers Hahn von hier durch das K. Oberamt statt.
Plochingen 11. Mai. Die Inbetriebnahme des neuen Bahnhofs erfolgt in der Nacht vom 13. auf 14. Mai ds. IS. Zunächst wird nur aus den Bahnsteigen 2 und 3 ein- und ausgestiegen und zwar erfolgt das Aussteigen bei sämtlichen Zügen links (in der Fahrtrichtung gesehen.)
Baden-Baden, 7. Mai. Die Unsitte der Kinder, Automobilen Steine nachzu- werfen, hätte am Sonntag beinahe einen Unfall von unabsehbarer Tragweite zur Folge gehabt. Die Großherzogin von Mecklenburg.Strelitz, im Automobil von Freudenstadt kommend, wurde in Forbach von ca. 10—12 Jahre alten Burschen mit einer Hand voll Steinen empfangen. Zum Glück wurde die Fürstin nicht verletzt. Es kann nicht dringend genug vor diesem groben Unfug gewarnt werden.
Köln 11. Mai. Wie der New-Uorker Gewährsmann der „Kölnischen Zeitung" erfährt, erklärten die Reisenden des Dampfers „Kaiser Wilhelm II.", der Dampfer sei nur mit knapper Not der Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem deutschen Kreuzer „Bremen" entgangen. Auf der Höhe von Nantucket lag dichter Nebel, als vor dem „Kaiser Wilhelm II." plötzlich ein Kreuzer auftauchte. Auch dort merkte man die Gefahr des Zusammenstoßes. Beide Schiffe drehten hart bei und kamen glücklich aneinander vorbei.
Berlin 11. Mai. (Reichstag) Das Haus ist schwach besetzt. Die Kolonialrechnungen für 1897/99 gehen an die Rechnungskommission. Es folgt die erste Lesung des Weltpostvertrages.
Nach einigen Erläuterungen des Staatssekretärs Krätke wird der Vertrag mit seinem Zusatzübereinkommen in erster und zweiter Lesung genehmigt, desgleichen die Zusatzübereinkunft zum Handelsvertrag mit der Türkei. Der Urheberschutzvertrag mit Frankreich wird in dritter Lesung verabschiedet. Es folgt die Interpellation des Zentrums und der Sozialdemokraten über die Grubenunglücke der letzten Zeit. Staatssekretär Posadowsky erklärt sich zur sofortigen Beantwortung bereit. Abg. Gies- bert (Ztr.) erklärt, nach Ansicht der Bergleute ließen sich kleinere Unglücksfälle einschränken, große Schlagwetter- und Kohlenstaubexplosionen durch regelmäßige Zuführung von Luft zu allen Arbeitsorten, und regelmäßige Berieselung vollständig verhüten. Es heiße auf Klein-Rosseln solle Vieles sehr im Argen sein. Aus übermäßiger Vertrauensseligkeit in die Grubensicherheit soll die Kontrolle versagt haben. Die Erklärung des Ministers Delbrück im preußischen Abgeordnetenhause über das Seilbruch-Unglück bedeute eine Bankerott-Erklärung des Bergarbeiterschutzes. Wenn irgend etwas die Notwendigkeit einer Aufsicht durch das Reichsversicherungsamt und die Notwendigkeit von Arbeiterkontrolleuren beweise, so seien es die Unglücke der letzten Zeit. Abg. Sachse (Soz.) führt aus, im deutschen Bergbau bestehe eine Schlamperei und Schweinerei, daß wan sich nicht zu wundern brauche, wenn ein Unglück nach dem andern komme. Redner bespricht die einzelnen Katastrophen der letzten Zeit, greift die fiskalische Verwaltung an und wirft ihr Vetternwirtschaft vor. Staatssekretär Posadowsky erwidert, die eingeforderten Erhebungen hätten bisher ein Ergebnis noch nicht gezeitigt; erst in etwa zwei Monaten könne das Ergebnis vorliegen. Die Berggesetzgebung sei Sache der Einzelstaaten und die Landesregierung und die Bergpolizeibehördeu tragen die volle Verantwortung für alle Fälle, wo eine Nachlässigkeit nachgewiesen wird. Bei den Katastrophen der letzten Zeit fei der Beweis nicht geführt, daß irgend eine reichsgesetzliche Vorschrift verletzt ist. Auch auf fiskalischen Gruben soll eine besondere Kommission gebildet werden, die unter Heranziehung der Vertrauensmänner der Arbeiter die einzelnen Gruben befahren und sie auf das Vorhandensein einzelner Mißstände untersuchen und Vorschläge zur Verbesserung machen. Nach einer kurzen Bemerkung deS preußischen Kammergerichtsrat Meißner führtElsaß- Lothringischer Unterstaatssekretär Mantel aus: Das Ergebnis der Untersuchung des Unglücks von Klein- Rosseln liege nunmehr vor und sei der Staatsanwaltschaft mitgeteilt worden. Diese habe bisher eine Entschließung noch nicht gefaßt. Eine strafrechtliche Verantwortung sei seines Erachtens nicht festzustellen. Der Staatssekretär verliest den amtlichen Untersuchungsbericht. Es ergab sich daraus, daß die Berieselung den Vorschriften nicht vollständig entsprochen hat. Unregelmäßigkeiten seien vorgekommen, sie ständen aber mit dem Unglück nicht in einem solchen sachlichen Zusammenhang, daß ein direktes Verschulden nachweisbar ist. Zweifellos habe ein Steiger eine Sorglosigkeit begangen, indem er mit der brennenden Lampe in den Schacht eintrat, ohne die Wetterführung kontrolliert zu haben. Wir haben unverzüglich für eine Verschärfung der Kontrolle Sorge getragen. Redner erwidert auf die Angriffe Gies- berts in der Koalittonsfrage: Wenn ein Streik entsteht.
Aufatmend warf sie den Kopf zurück, summte ihr übermütiges Liedchen von des Lebens Bitternis und wandte sich zum Gehen. Sie fühlte, sie war wieder die alte Guenn, lustig, sorglos und unbekümmert. Sie wollte hinob an den Strand und nach einem Schiffer ausschauen, der sie mit hinüber nach den Dunnions nehmen könne. —
Jedermann weiß, daß die Gänse einst durch ihr Geschnatter Rom vor dem Untergang bewahrt haben — aber wer ermißt das Unglück und den Jammer, der seit der Zeit jener kapitolinischen Gänse durch Plappern und Schnattern über die Welt gekommen ist? — Im selben Augenblick, als Guenn stolz und froh aus dem Torweg trat, fühlte sich die kleine Frau oben, die vom Fenster aus das junge Mädchen dreimal hatte kommen und gehen sehen, von Neugier Hinuntergetrieben.
„Was suchst Du hier?" fragte sie nicht unfreundlich, aber doch mit jenem geringschätzigen Blick, wie ihn verblühte Frauen wohl auf frische, jugendliche Mädchen zu werfen pflegen.
„Nichts," war Guenns kecke Antwort.
„Wartest Du hier auf jemand? Bist Du vielleicht ein Modell?"
Dieses Ausfragen erregte Guenns Aerger. „Nein," stieß sie heftig hervor.
„Wenn du gern eines werden möchtest — ich kenne Monsieur Hamor, er ist sehr liebenswürdig. Oft steht er hier unten und plaudert mit mir." Die kleine Frau blickte befriedigt umher. Guenn, die bei ihren Worten purpurn erglüht war, begann unruhig zu werden; sie hätte die geschwätzige, kleine Person zum Schweigen bringen mögen — und doch trug sie Ver- langen mehr zu erfahren.
„Ich könnte dich mit hinaufnehmen," fuhr jene ahnungslos fort, „ich muß so wie so hinauf zu ihm, da ich morgen nach Quimper fahre und er etwas von mir mitgebracht haben will. Wenn ich dich hinaufbringe, malt er dich vielleicht; du brauchst dich nicht zu fürchten, wenn ich mitgehe."
Welcher böse Geist war in die unbedeutende, kleine Person gefahren, daß sie es mit jedem ihrer Worte so reckt darauf anlegte, Guenns vernünftige Entschlüsse wankend zu machen, sie von dem gewählten, sichern Pfade abzuleiten, und ihr heißes, ungestümes Herz unter den alten Zauberbann zu zwingen, der sie wider Willen gefangen hielt? —
Mit herrischer Geberde unterbrach sie das Geschwätz der Frau. Kaum wissend, was sie tat, eilte sie durch das Tor, dann über den Hof und die baufällige Treppe hinauf, als jagten Geister hinter ihr her. Ohne anzuklopfen — Guenn kannte diese unwichtige Ceremonie wohl, aber sie machte sie mit oder unterließ sie nach ihrem Belieben — öffnete sie Hamors Tür und erschien plötzlich wie eine Windsbraut in dem zum Atelier um- gewandelten Bodenraum. — Das Gesicht der kleinen Jeanne drückte unverhohlenes, aber doch freudiges Erstaunen aus; die blaue Ader auf Hamors Stirn trat stärker hervor, sonst aber war ihm keinerlei Ueberraschung an- zumerken. Ohne auch nur den Kopf zu wenden, arbeitete er mechanisch weiter, obwohl er sehr wohl wußte, wer gekommen war.
„Willst Du vielleicht so gut sein, die Tür zumachen, Guenn?" sagte er so unbefangen, als sei nichts geschehen.
Sie rührte sich nicht; er wandte sich freundlich nach ihr um, sie erwartungsvoll anschauend, zu lächeln wagte er nicht in diesem entscheidenden Augenblick. Guenns zarte, kleine Gestalt lehnte gegen die offene Tür, die Hände waren krampfhaft zusammengepreßt. Sie glich einem scheuen, flüchtigen Reh, das im nächsten Augenblick mit derselben Behendigkeit, mit der es sich in die Gefangenschaft begeben, wieder hinaus in die Freiheit springt. „Mach' bitte die Türe zu, wiederholte er in sachgemäßem Ton, als sich ihre Augen trafen, „der Zug ist sonst zu arg, wegen der zerbrochenen Fensterscheiben."
(Fortsetzung folgt.)