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Das Baltentum wurde seiner Religion, seines hochentwickelten Schulwesens und seiner Selbstverwaltung beraubt (1885). Auch das baltische Schulwesen wurde zu Grunde gerichtet und der revolutionäre Sinn in die Jugend hineingetragen. Der nationale Gegensatz wurde geschürt, und so ergriff die große Revolution vom Jahre 1905 auch die Letten und Wenden. „Nieder mit den Deutschen" war die Losung; die Brandfackel zog durchs Land, deutsche Gutsbesitzer und Pfarrer wurden erschlagen, und die Deutschen flohen in Menge. Bald aber ertönte auch der Ruf: „Nieder mit dem selbstherrlichen Zaren!" und die Republik wurde proklamiert. Da endlich griff die Regierung ein und die Revolution wurde niedergeschlagen. Die Deutschen find in ein Trümmerfeld zurückgekehrt; sie haben sich organisiert, bewaffnet und gehen daran, mit einer bewundernswürdigen Zähigkeit die alte Position zurückzuerobern. Der Zar, der endlich erkannt hat, daß die Balten seine zuverlässigsten Untertanen find, hat ihnen ihre früheren Rechte zurückgegeben; ev. Kirchen und deutsche Schulen werden wieder eröffnet trotz der noch bestehenden Unsicherheit der Verhältnisse. Unsere Stammesbrüder haben ihre Kulturarbeit aufs neue wieder in die Hand genommen, und sie wurden dazu ermutigt durch deutsche Unterstützung und Mithilfe, die sich in weiten Kreisen regt und die sie in noch viel reicherem Maße verdienen würden. — Der Vorsitzende vr. Reichel und Medizinalrat vr. Müller drückten dem gewandten Redner ihre Zustimmung und den Dank der Versammlung aus.
Calw. Wie aus dem Inseratenteil ersichtlich, wird der durch sein letztes Auftreten hier noch wohl bekannte Prestigiditateur und Experimentator G. B. Agoston im Badischen Hof 3 Vorstellungen geben. Bei der Reichhaltigkeit des Programms kann der Besuch jedem der einen interessanten und originellen Abend erleben will, bestens empfohlen werden.
Backnang 7. Mai. Um '/-12 Uhr nachts ertönten die Sturmglocken. Es brannte das mit dem ehemaligen Torwarthau» zusammenhängende Gebäude des Bäckers Kinrer in der Schillerstraße am ehemaligen Stadtgraben. Las Feuer brach im Dachraum aus und griff rasch um sich. Die Bewohner des großen Gebäudes, es wohnten 7 Mietspartieen darin, konnten sich alle retten. Die Feuerwehr, die alsbald auf der Brandstätte erschienen war, konnte nur unter starker Anstrengung den Brand aus seinen Herd beschränken. Die Abgebrannten sind versichert. Der Brandschaden wird aber immerhin gegen 20000 ^ betragen. Bäcker Kinzer hatte eine größere Taubenzüchterei. Die Tierchen fielen meist dem verheerenden Element zum Opfer. — Bei dem Kinzer'schen Brandfall verunglückte heute früh V-8 Uhr der verheiratete Maler Rupp
in seiner Eigenschaft als Feuerwehrmann und konnte nur mit schweren Brandwunden aus dem noch brennenden Gebäude herausgezogen werden. Ter Verunglückte wurde bald bewußtlos und dürfte schwerlich mit dem Leben davonkommen.
Kirchheim u. T. 7. Mai. Die Kirschen, blüte hat sich im Lenninger und Neidlinger Tal in seltener Fülle und Schönheit entfaltet; ein Besuch der Gegend gehört zu den schönsten Ausflügen.
Gmünd 7. Mai. Heute vormittag wurde der Inspektor und ein Wächter der hiesigen Wach, und Schließgesellschaft samt ihren Frauen von der hiesigen Polizei festgenommen. Sie hatten sich fortgesetzt Diebstähle in den von ihnen zu be- wachenden Gebäuden zu schulden kommen lassen. Auch Gegenstände, die sie früher in Cannstatt und Stuttgart gestohlen hatten, wurden in großer Zahl bei ihnen aufgefunden.
Ravensburg 7. Mai. Unter Leitung des Kammerstenographen Schaible-Stuttgart fand gestern hier der Oberschwäbische Bezirkstag der Gabelsberger'schen Stenographenvereine statt, der gut besucht war, namentlich waren auch ziemlich viele badische Kunstgenoffen erschienen, um sich im Wettbewerb mit den württembergischen Kunstgenossen zu messen. In der Abteilung 200 Silben errangen sich Justizaktuar W eiss er-Konstanz »einen I., Anna Rundel-Ravensburg einen III. Preis.
Blaubeuren 6. Mai. Die Nachricht, daß ein Arbeiter sein eigenes Kind erschlagen haben sollte, stellt sich - als nicht richtig heraus. Der Vater hat, wie durch das Gericht festgestellt wurde, das Kind allerdings mißhandelt, doch trat der Tod des Hmdes erst einige Tage nach der Mißhandlung ein und es war ein Zusammenhang der Todesursache mit der Mißhandlung nicht fest- zusi.llen. Der Arbeiter wurde aus der Haft entlassen.
Jsny 6. Mai. Der Sohn des hiesigen Käsefabrikanten Xaver Jmmler, der am Sonntag nachmittag mit seinem Motorfahrrad einen größeren Ausflug machte, wurde in Auers bei Weiler im ^/yr. Allgau an einem Bahnübergang von der Maschine eines Zuges erfaßt und vom Puffer derselben mit Wucht bei Seite geschleudert, sodaß er schwere innere Verletzungen davontrug. An dem Aufkommen des etwa 20jährigen jungen Mannes wird gezweifelt.
Vom Bodensee 6. Mai. Eine große Halle aus Eisen baut Graf Zeppelin jetzt mit der ihm vom Reiche bewilligten Vr Million Mark bei Friedrichshafen.
Karlsruhe 7. Mai. Der Kaiser traf mit Gefolge im Sonderzug heute vorm. 10 Vs Uhr
hier ein. Zum Empfang waren der Großherzog, der Erbgroßherzog, der kommandierende General von Bock und Polach und der preußische Gesandte von Gisendecher anwesend. Der Kaiser und der Großherzog begaben sich in das Stadtschloß. Die Stadt ist festlich geschmückt. In den Straßen hatten sich Spaliere aus den Vereinen und zahlreichem Publikum gebildet; auch die Jugend war stark vertreten, da die Schulen frei gegeben hatten. Vor dem Rathaus hatten sich die städtischen Behörden aufgestellt. Der Kaiser und der Großherzog wurden überall auf herzlichste begrüßt. Ueberall wurde herzlicher Jubel laut beim Vorbeifahren der Fürstlichkeiten. Es erregte besondere Freude, daß der Großherzog seinen hohen Gast persönlich am Bahnhof abholen konnte, und daß auch der Erbgroßherzog wieder so gut aussah. Der Kaiser dankte sichtlich erfreut für die ihm dargebrachten Huldigungen. Bei der Ankunft im Schloß wurde der Kaiser von der Großherzogin und der Erbgroßherzogin, sowie dem Prinzen Wilhelm von Schweden begrüßt. Mittags war Familien, und zugleich Marschalltafel für das Gefolge.
Frankfurt a. M. 7. Mai. In der letzten Nacht wurde auf der Staatseisenbahnbrücke die vollständig zerstückelte Leiche des 27 Jahre alten Streckenwärters Heinrich Dähmel, der in schrecklicher Weise verunglückt ist, gefunden. Er hatte die Brücke zu patrouillieren und es wird angenommen, daß er beim Passieren der Brücke in den Schienen mit den Schuhen hängen blieb und von dem heranbrausenden Expreßzug erfaßt und getötet wurde.
Paris 7. Mai. Der „Matin" berichtet aus Petersburg: Eine Feuersbrunst, welche in dem protestantischen Asyl von Wassili Ostrow gestern ausbrach, verursachte den Tod von 15 Personen, 9 wurden schwer verletzt.
London 7. Mai. Hier hat sich ein Komitee gebildet aus Angehörigen aller Konfessionen in der Absicht, in Paris am Vorabend der Haager Konferenz eine große Kundgebung zu veranstalten, um die Delegierten anzuregen, entschieden für die Idee des Friedensgedankens ein- zutreten. Gestern fand nun eine neue Versammlung statt, in der beschlossen wurde den Plan auf. zugeben und eine dahingehende Petition abzufassen, welche von den maßgebenden Vertretern aller Konfessionen der Welt unterzeichnet und den Mitgliedern der Haager Konferenz zugestellt werden soll.
Vermischtes.
Bauernstand in Kamerun. Zwischen der Kolonialregierung und der Mission in Kamerun fand kürzlich ein Meinungsaustausch wegen der
Heiße Tränen füllten ihre Augen. Beschämt und hilflos stand sie vor ihm.
„Du schönes, süßes Geschöpf!" dachte Hamor bei sich selbst.
„Monsieur ist viel zu liebenswürdig, um irgend jemand wehe zu tun," erscholl jetzt Madames ruhige Stimme hinter ihnen, „siehst du, Guenn, die Herren suchen Unterhaltung auf ihre Weise, die freilich nicht die unsere ist. Kommt, mos tzntanls," — sie legte die Hände wie Besitz ergreifend auf die Schultern der beiden Mädchen, „ich möchte Euch etwas zeigen. Guten Abend, Messieurs, unterhalten Sie sich gut, Sie machen die Knaben sehr glücklich und der Abend ist besonders günstig für einen kleinen Sport. Das Wetter läßt glücklicherweise nichts zu wünschen übrig."
Sie führte die jungen Mädchen nach der Tür. Guenn empfand sehr wohl, daß sie nicht nur physisch, sondern auch moralisch beeinflußt werde. Freilich durch Madame — aber sogar von ihr ausgehend erschien ihr jeder Druck und Zwang unerträglich. Vergeblich daß sie die ruhige, sichere Hand abzuschütteln versuchte, einen Blick wenigstens mußte sie zurückwerfen. Da stand Nannic und überbrachte soeben mit wichtiger Miene Hamors Cigaretten, sein bleiches Gesicht strahlte vor Stolz und freudiger Erregung. Zutraulich lehnte er neben Hamors Stuhl. Mit einem einzigen Sprung hatte sie sich ihrer milden Bande entledigt und stand nun glühend vor Aufregung und Scham in aller Pracht ihrer jugendlichen Schönheit vor den erstaunten Künstlern.
„Vorhin war ich ganz abscheulich!" rief sie reuig aus.
„Nicht doch, Guenn," beruhigte sie Hamor.
„Doch, doch!" rief sie und flog zurück an Madames Seite. Ein langgezogener Pfiff war Douglas' einzige Anmerkung.
Nach kurzer Pause zog Staunton seinen Hut und sagte ernsthaft: „8alut!" Hamor antwortete nur durch ein Lächeln.
Madame führte die beiden Mädchen nach der Küche auf der Rückseite des Hause«. Jeanne war freundlich und fügsam Guenn dagegen
ruhelos und sichtlich verstimmt: „Warum sollen wir nicht draußen den Spaß mit ansehen?" fragte sie argwöhnisch.
„Ich wollte Euch eine Spitze zeigen, von der ich genug habe, um für Dich und Jeanne Sonntag-Coiffes damit zu garnieren."
„Guenn hat Spitzen sehr gern," suchte Jeanne zu vermitteln.
„Gewiß, aber da draußen ist's auch lustig," murrte Guenn und blickte ungeduldig nach der Tür. „Es wäre so hübsch, die Knaben ankommen zu sehen," — setzte sie zögernd hinzu.
„So wollen wir denn hinausgehen. Mir ist's ganz recht; ich hatte die kleine Ueberraschung für Euch bestimmt, aber dafür ist's auch ein andermal noch Zeit," und mit der gleichen unveränderlichen Ruhe führte sie die Mädchen wieder hinaus. —
„Ich habe Sie lieb, Madame," rief Guenn lebhaft und abermals legte sich die ruhige Hand auf die Schulter des jungen Mädchens, ohne daß Guenn den Versuch machte, sie abzuschütteln, sie nahm es diesmal als freundliche Liebkosung auf.
Guenn stand still und fügsam neben Madame, als die Knabenschar daherstürmte, allen voran Kadoc, der sich ganz außer Atem zur Erde warf, Hamor bezeugte ein fast kindliches Vergnügen an dieser Schaustellung. Mehr und mehr weiße Coiffes sammelten sich unter der Tür neben Madame, die dort schweigend lehnte, der weisen Pallas vergleichbar, alles überblickend und durchschauend. Auch mehrere Seeleute kamen herüber, durch die allgemeine Aufregung angezogen. Alain war unter ihnen, wie es schien, etwas angeheitert, wagte er sich zu Guenn heranzudrängen, und ihr ein Schmeichelwort zuzuflüstern, das ihr Mißfallen erregte, mit beiden Händen gab sie ihm einen so heftigen Stoß gegen die Brust, daß er betroffen zurücktaumelte. Die Männer schrieen, die Mädchen lachten — und Guenn nahm ihre frühere Stellung wieder ein, wobei sie Madame gutmütig nickend zurief: „So wird er'S jedermal bekommen."
(Fortsetzung folgt.)
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