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halte ein Redner mit folgendem Verse geschloffen:
?„TaS ganze Deutschtum soll es sein,
Drum wählen wir Hans Häberlein."
Das sozialdemokratische Blatt antwortete darauf:
Der Wähler, der nicht gar zu dumm,
Der wählt den Dr. Südekum (Sozialdemokrat).
Der Wähler, der sich selbst bemopst,
Der wählt den Drechslermeister Probst (Mittelständler).
Der dümmste Kerl auf unserer Welt,
Der wählt den Regensburger Held (Zentrum).
Berlin 26. Jan. Die „Nordd. Mg. Ztg." schreibt zum Wahlkampf: Die erste Entscheidung ist gefallen. Das „Volksgericht", von dem der Vorwärts sprach, hat gegen die Sozialdemokratie entschieden. Die Deutschen haben bewiesen, daß sie sich ihre nationale Ehre, die Entwicklung ihrer nationalen Macht, die Zukunft des Reichs nicht verkümmern lassen. Der Bann, als ob das Vorwärtsschieben der Sozialdemokratie unaufhaltsam sei, ist endlich gebrochen. Industriezentren, die als sichere Sitze der Sozialdemokratie galten, sind im ersten Ansturm von den nationalen Parteien genommen worden. Alte preußische Städte, wie Breslau und Königsberg, ehrwürdig durch ihre Traditionen, sind der nationalen Sache zurückerobert worden. Der Erfolg der Hauptwahl ruft zur verdoppelten Arbeit bei den Stichwahlen. Es gilt nach innen und außen zu beweisen, daß das deutsche Volk, wenn nationale Fragen auf dem Spiel stehen, alles niederreitet, was der Nation im Weg steht, daß es nicht die geringste Schädigung seiner nationalen Kraft duldet, auch wenn es sich um eine afrikanische Kolonie und ein paar tausend Mann mehr oder weniger handelt. Die Stichwahlen müssen vollenden, was die Hauptwahlen begonnen haben. Das leuchtende Beispiel, das Breslau, Königsberg, Leipzig, Gotha und Halle gegeben, werden andere Wahlkreise in den Stichwahlen nachzuahmen wissen. Was in Breslau möglich war, wird in Stettin, Frankfurt a. M., München, Karlsruhe u. s. w. nicht unmöglich sein. Wenn der letzte nationaldenkende Mann in der Stichwahl an die Urne kommt, dann erst wird das Ziel des Wahlrechts, die Forderung des Tags, von der Fürst Bülow sprach, erfüllt: ein Reichstag, dessen Mehrheit in allen großen Fragen der Nation ihre Pflicht tut.
Berlin 26. Jan. Obgleich noch nicht alle Resultate der Reichstagswahl vorliegen, fällt doch der Verlust in die Augen, den die Sozialdemokraten an ihrem bisherigen Besitzstand erlitten haben. Es wurden von ihnen nicht wiedergewählt: Hasse-Königsberg, welcher Wahlkreis der freis. Volkspartei zugefallen ist, ferner in Breslau-Ost und West Tutzauer und Eduard Bernstein. In dem erstgenannten Kreise hat der frühere Oberpräsident, Fürst Hatzfeld, der sich der Reichspartei
zuzählt, in Breslau West die freis. Volkspartei gesiegt. In Magdeburg ist der Sozialdemokrat Pfannkuch dem liberalen Kandidaten unterlegen, in Halle Kunert der Volkspartei, welch letztere auch in Naumburg den Sozialdemokraten Thiele verdrängt hat. Im Königreich Sachsen, das im letzten Reichstage mit Ausnahme von 2 Anhängern der deutschen Reformpartei vollständig sozialdemokratisch vertreten war, haben letztere mehrere Mandate verloren. Es wurden nicht wiedergewählt: Sindermann, Fräßdorf, Schulze, Hoffmann-Berlin. Auch Leipzig-Stadt ist den Sozialdemokraten verloren gegangen. Braunschweig hat die wirtschaftliche Vereinigung von dem bisherigen sozialdemo- kratischen Vertreter Blos erkämpft. In Gotha hat der frühere Kolonialdirektor Prinz Hohenlohe- Langenburg den Sozialdemokraten Bock vertrieben. In den beiden Fürstentümern Reus sind die bisherigen sozialdemokratischen Vertreter Förster und Wurm durchgefallen. Sämtliche bekannten Zen- trumsabg. sind wiedergewählt. Nur Furangel ist in Arnsberg dem Regierungskandidaten Becker unterlegen. Von den selbständigen nationalen Katholiken ist nicht ein einziger durchgegangen. Die beiden schlesischen Kreise Oppeln und Pleß hat das Zentrum an die Polen abgegeben. Auch in Glei- witz, wo der bisherige Reichstagspräsident Gras Ballestrem nicht wieder kandidiert hat, muß eine Stichwahl zwischen dem polnischen und Zentrumskandidaten stattfinden. Die Konservativen haben einige neue Kreise erworben, so Osterode von den Nationalliberalen, Sternberg und Pyritz von den Antisemiten. In Sachsen haben die Konservativen Pirna und Freiberg von den Sozial- demokraten zurückerobert, desgleichen Reuß j. L. Der Besitzstand der Nationalliberalen ist wenig verändert. Sie haben Hoyerswerda, wo Baffermann gewählt wurde, gewonnen. Ferner haben sie von den Welfen Hannover, Nienburg und Gifhorn erobert. In Sachsen ist Löbau Stadt, der bisher sozialdemokratisch vertreten war, an die Nationalliberalen zurückgefallen, dagegen haben diese Breiten an die Konservativen verloren. Die Reichspartei hat außer Breslau, Mühlhausen von der freisinnigen Volkspartei gewonnen, wo Eickhoff dem Freiherrn von Teplitz unterlegen ist. Uelzen hat die Reichspartei an die Welfen verloren. Die Polen scheinen mit einer großen Verstärkung in den Reichstag einzuziehen. Die freisinnige Volkspartei hat neu gewonnen: Königsberg Stadt, Breslau-West, Halle und Naumburg.
Berlin 26. Jan. Die „Nord. Allg. Ztg." schreibt: In der verflossenen Nacht soll sich der bedauerliche Zwischenfall ereignet haben, daß eine große Anzahl von Wählern, die vor dem Palais des Kronprinzen ihrer patriotischen Freude über die Verwirklichung des nationalen Gedankens bei den Hauptwahlen Ausdruck geben wollten, von der Polizei angeblich mit der blanken Waffe und unter Vornahme von
Verhaftungen in dem Augenblick auseinander getrieben wurde, als sie ein Lied anstimmen wollte. Wie wir hören, ist der Reichskanzler Fürst Bülow einig mit d em Minister des Innern in der Mißbilligung des Verhaltens der Polizei, wenn die behaupteten Tatsachen sich bewahrheiten sollten. Hierüber hat der Minister des Innern sofort eine eingehende Unter- suchung angeordnet.
Berlin 27. Jan. Der „Reichs-Anzeiger" veröffentlicht aus Anlaß des Geburtstages des Kaisers einen kaiserlichen Erlaß folgenden Inhalts: Es entspricht meinem Wunsche, daß wegen Majestäts-Beleidigung eines Mitgliedes meines königlichen Hquses nur solche Personen die gesetzliche Strafe erleiden, welche sich jene Ver- gehen mit Vorbedacht in böser Absicht und nicht blos aus Unbesonnenheit und Unverstand oder Uebereilung oder sonst ohne bösen Willen schuldig gemacht haben. Ich beauftrage daher den Justizminister, mir, solange nicht das Gesetz eine entsprechende Einschränkung der Strafbarkeit enthält, fortlaufend von Amtswegen über alle nach dem Angeführten berücksichtigenswerten Verurteilungen behufs meiner Entschließung über Ausübung des Begnadigungsrechtes zu berichten.
Paris 27. Jan. Alle hiesigen Blätter kommentieren die deutschen Reichstagswahlen in längeren Ausführungen. Die nationalistischen Zeitungen drücken die Ansicht aus, daß die Niederlage der sozialdemokratischen Partei eine dauernde sein werde. „Echo de Paris" schreibt, Deutschland habe die sozialdemokratische Theorie als gefährlich abgewiesen. Das Blatt hofft, daß auch Frankreich an dieser Umwandlung in Deutschland sich ein Beispiel nehmenmöge. Die sozialistische „Lanterne" sieht die Niederlage der Sozialdemokraten als eine vorübergehende an. Die Stichwahlen werden viel wieder einbringen.
Letzte Nachrichten.
Saarbrücken 28. Jan. (Teles.) Ans -er Grube Reden bei Nennkirchen erfolgte heute Nacht eine Explosion schlagender Wetter, wovon 200 Mann betroffen wurden. 100 Bergarbeiter find getötet oder verletzt. Ms 11 Uhr heute Bormittag wurden 60 Leichen geborgen. _ -
(Eingesandt.)
In einer Zeit, in der man überall Klagen hört über die Parteizersplitterungen, ergeht in Nr. 20 dieses Blattes an entschieden liberal Gesinnte eine Einladung zur Gründung eines sog. liberalen Vereins in hiesiger Stadt. Man sollte glauben, es hätte hier jeder, der das Verlangen nach hervortretender politischer Betätigung in sich fühlt, Gelegenheit genug seines Herzens Drang
Verehrer verwandelt. Man mußte sie eben lieb haben, wenn man sie näher kennen lernte!"
„Nicht wahr," fragte er freudig bewegt. „O ja, sie ist ein herrliches Geschöpf!"
Lenore Rümelin blickte ihn erstaunt an. Dieser Enthusiasmus war ihr rätselhaft. Denn so viel wußte sie aus den gelegentlichen Rückblicken Gräfin Jngeborgs, daß nicht sie, sondern er die Wsung ihres Verlöbnisses herbeigeführt hatte, und daß sie ursprünglich nur aus Trotz und Verzweiflung Gräfin Nelkeneck geworden war. Er schien diese Gedanken aus ihrem Blick zu lesen.
„Sie wissen, wie nahe wir uns gestanden?" fragte er.
Sie nickte zögernd.
„Und fragen sich nun, warum ist die „Herrliche" dann nicht Frau Erdmann geworden damals?"
„O bitte, Herr Erdmann —" protestierte sie, betroffen von seiner geraden Art.
„Lassen Sie nur. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, woher, weiß ich selbst nicht. Vielleicht weil sie das Lied so schön gesungen haben, wie Jngeborg Walter es selbst einst sang! Und darum zaudere ich auch nicht, Ihnen auf die ungesprochene Frage zu antworten: man kann aus Liebe auch jemanden fr et geben, selbst wenn es ihm weh tut! Wer nicht wahr, Frau Jngeborg ist eine glückliche Frau geworden?"
„Das kann ich aus voller Ueberzeugung bejahen!" erklärte Lenora lächelnd.
„Und sie hegt auch keinen allzugroßen Groll mehr gegen mich?"
„Nicht den geringsten. Ich sollte Sie sogar grüßen von ihr!"
„Und warum richten Sie mir diesen Gruß erst so spät aus?"
„Weil ich nicht wußte, ob der Gruß Wert für Sie haben würde. Darum wollte ich mir mit dem Lied vorhin erst eine Brücke zu Ihnen schlagen. Ich kannte Sie doch gar nicht."
„Und hielten mich zunächst für einen traurigen Gesellen, der ich im Grunde genommen vielleicht auch bin!"
„Aber Herr Erdmann!" sagte sie verlegen.
„Warum wollen Sie es nicht ruhig zugeben? Ein bißchen Aufrichtigkeit tut mir wohl!"
„Nun denn: sehr eingenommen war ich für Sie allerdings nicht, und ich konnte es auch nicht sein trotz des guten Andenkens, das Gräfin Jngeborg Ihnen bewahrt hat. Denn wer einer so herrlichen Frau kaltherzig den Abschied schreiben konnte, — und wie ich bis heute glaubte, einer anderen zuliebe — mußte mir gefühllos erscheinen! Aber unser Gespräch läßt mich nun wohl Gründe ahnen, die mir und auch damals meiner Freundin verborgen geblieben sind!"
„Und nun enthalten Sie mir den Gruß nicht mehr vor?" fragte er.
Sie schwieg nachdenklich.
„Wie? Sie zögern noch immer?" mahnte er.
„Nein," entgegnete sie nun, „obgleich dieser Gruß ja nicht Ihnen allein galt!"
„Ja, wem denn noch?"
„Ich sollte ihn auch Ihrer Frau Gemahlin bestellen!"
Er lachte kurz auf. Aber es war kein fröhliches Lachen.
„Dazu haben Sie freilich keine Gelegenheit!" bemerkte er dann.
Sie sah ihn ungewiß an, als ob sie nach einer Fassung für die Frage suche, weshalb er denn unverheiratet geblieben sei. Aber das schien ihr doch zu indiskret. Und da jetzt aus der Saaltür etliche der Gäste traten, die der böhmische Fremdenführer Mäxchen Schollmayer in laute Heiterkeit versetzt hatte, stand sie auf und sagte, freundlich nickend: „Auf ein andermal, Herr Erdmann! Ich muß mich jetzt um meine Freundin kümmern!"
(Fortsetzung folgt.)