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die Verhältnisse in den einzelnen Wahlkreisen noch so große Verschiedenheiten aufweisen: die Parteien, die am 13. Dezember auf der Seite der Regierung standen, werden von vornherein das im Auge zu behalten haben, was sie einigt im Kampf für Ehr und Gut der Nation gegen Sozialdemokraten, Polen, Welfen und Zentrum. Ich stelle die Sozialdemokraten voran, weil jede Niederlage der Sozialdemokratie eine Warnung für ihren blinden Uebermut, eine Stärkung des Vertrauens in den ruhigen Fortschritt unserer inneren Entwickelung und eine Befestigung unserer Stellung nach außen wäre und weil dadurch zugleich die Möglichkeit erschwert würde, daß eine bürgerliche Partei mit Hilfe der sozialdemokratischen eine dominierende Stellung gegen die andern bürgerlichen Parteien einnimmt.
Berlin 3. Jan. Die Mehrzahl der Morgenblätter widmet der Kundgebung des Reichskanzlers einen Leitartikel. Besondere Aufmerksamkeit wird den Ausführungen über den Liberalismus zu teil.
„Die Post" meint, es sei fraglich, ob es für unser Reich ersprießlich wäre, wenn der Liberalismus ein derartiges Uebergewicht gewänne, wie es bisher das Zentrum im Reichstage gehabt habe. Dazu sei der Links-Liberalismus in nationaler Beziehung noch nicht sattelfest genug.
Die „Deutsche Tageszeitung" erklärt: Im Einzelnen können wir uns nicht verhehlen, daß die Kundgebung des Fürsten Bülow im Großen und Ganzen kaum den Eindruck erwecken wird, den man sich vielleicht von ihr verspricht. Er ist auch in diesem Schreiben mehr Diplomat als führender, pfadweisender Staatsmann. Hinsichtlich dieses Briefes des Reichskanzlers erscheint es uns dringend nötig und unerläßlich, daß wir an unserer Wahlparole unbedingt und entschieden festhalten.
Die „Tägliche Rundschau" begrüßt die Wahlkundgebung des Reichskanzlers, glaubt aber, daß die Tätigkeit der Regierung mit diesem Briefe nicht abgeschlossen sein kann.
Dte „BerlinerNeuestenNachrichten" meinen, das Schreiben des Reichskanzlers könne ol>-, eine weitere willkommene Klärung der Lage mit Dank begrüßt werden.
Die „National-Zeitung" schreibt: Die Kund, gebung des Reichskanzlers ist in ihren schlichten Darlegungen von musterhafter Klarheit. Von besonderem Wert aber ist es, aus dem Schreiben des Kanzlers zu ersehen, daß die Regierung an einen Frontwechsel auch nach Eintritt der günstigen Nachrichten aus Südwestafrika nicht denkt.
Die „Vossische Zeitung" schreibt: Bemerkenswert an dem Plan ist in erster Reihe die Frontveränderung gegenüber dem Freisinn. Fürst Bülow sieht ihn nicht mehr als Gegner, sondern als Verbündeten an. Es ist ein politisches Ereignis, daß der leitende Staatrmann auch aus dem Wahlplatz erscheint, daß er seinen Wahlaufruf erläßt, daß er im Namen der Reichsregierung die Kriegserklärung an das Zentrum und gegen die Sozialdemokratie richtet.
Der „Börsen-Courier" meint, daß der Aufruf bezüglich der künftigen Gestaltung der inneren Politik wenig Positives, wenig Aufklärendes enthalte.
Das „Berliner Tageblatt" erklärt, die liberalen Wöhlermassen werden von der Epistel schwerlich sehr erbaut sein und selbst diejenigen freisinnigen Wahlvereine, die dem Reichskanzler Huldigungs-Telegramme gesandt haben, werden ihr Depeschengeld zurückwünschen.
Der „Vorwärts" schreibt: Der Kanzler selbst zeigt in dieser Botschaft dem Freisinn seine Zukunst an, führt ihm selbst das Schicksal des Zentrums vor. Diesem reaktionären Wunsche zeigt er sich gefügig. Zn dem Augenblick, wo es endlich einmal einige, minimale Abstriche an dem Milliarden-Budgel der Kolonial-Politik zu machen wagte, mußte es die schimpflichsten Brüskierungen sich gefallen lassen. Welcher Dank winkt da erst dem Freisinn!
Berlin 3. Jan. Die Ermordung des deutschen Reichs-Angehörigen Alfred Busch in Riga hat, wie die Tägliche Rundschau von unterrichteter Seite erfährt bereits ihre Sühne erfahren. Zwei der Mörder wurden verhaftet und legten
ein Geständnis ab. Sie wurden vom Feldgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Der dritte Mörder ist auch dem Namen nach bekannt, es ist ihm aber gelungen nach Amerika zu entkommen.
Stettin 3. Jan. Mittags starb hier der freisinnige Reichstags-Kandidat für Usedom- Wollin, Rechtsanwalt Dr. Delbrück an Blutvergiftung nach dreitägiger Krankheit.
Hamburg 3. Jan. Der Eisenbahn- Zusammenstoß bei Bremen führte zur Entdeckung zweier Schwindler namens Weilheimer und Bender, die im Begriffe waren, nach London zu fliehen. Sie hatten für 10000 Pfund Waren auf Credit entnommen und diese weit unter dem Preise nach London und nach den englischen Kolonien verkauft. Beide befinden sich jetzt unter polizeilicher Ueberwachung im Hospital.
London 3.Jan. Ein großer Brand wütet seit Stunden im Arsenal von Portsmouth und mehreren Regierungrgebäuden entlang dem Hafen. Ein heftiger Sturm peitscht die Flammen immmer von neuem in die Höhe, sodaß die Feuerwehr nicht im Stande ist, den Brand zu löschen. Der angerichtete Schaden beziffert sich bereits auf viele tausend Pfund Sterling. Man vermutet, daß Brandstiftung seitens der unzufriedenen Matrosen vorliegt.
Riga 2. Jan. Auf dem Lande gährt es noch immer. Heute früh wurden bei Altenwoga Kreis Riga zwei Gutspächter auf bestialische Weise ermordet.
Petersburg 3. Jan. Heute fand die Einweihung des Gebäudes für experimentelle Medizin statt. Nach der Beendigung des Gottesdienstes trat der Stadthauptmann von der Launitz sofort aus der Kirche heraus, während das Publikum noch darin verblieb. Ein ärmlich gekleideter junger Mann gab auf ihn 6 Schüsse ab, wodurch der Stadthauptmann getötet wurde. Der Täter tötete sich dann selbst durch einen Schuß in die Brust.
Tanger 2. Jan. Raisuli ist gestern als Gefangener hier eingebracht worden. Er wird beschuldigt, in Aufrufen an die ver- schi. men Stämme den heiligen Krieg gepredigt zu haben.
Vermischtes.
New-Aork 28. Dez. Ein Mann der hundertmal verheiratet war und zuletzt den Namen Dr. Georg Witzhoff führte, in Wirklichkeit aber Friedrich Schütze heißt, ist in Buffalo verhaftet worden. Er soll, wie die Blätter berichten, aus dem Elsaß gebürtig sein. Sein Vater, so wird berichtet, war Chirurg; nach dessen Tode im Jahre 1880 wanderte der Sohn nach Amerika aus und studierte in Philadelphia Medizin. Dann lebte er eine zeitlang in der Schweiz und ging dann wieder nach Chicago, wo er als praktischer Arzt sehr gut besucht gewesen sein soll. Er kam alsbald mit dem Strafgesetz in Konflikt, floh nach Kanada und ließ sich als Zahnarzt nieder. Dort heiratete er eine junge Witwe, die ihm ein Mitgift von 20000 Dollar brachte. Schotze verschwand noch im ersten Honigmonat unter Mitnahme des Geldes. Sein zweites Opfer suchte er in Newyork. Dort kam er 'cht auf seine Rechnung, denn seine Frau h--i^ ihr Geld in industriellen Unternehmungen angelegt, und Schotze konnte sie nicht bewegen, es flüssig zu machen. Darum verließ er die Frau und heiratete bald darauf eine Dame in Philadelphia. Auch dieser Beutezug lohnte sich nicht besonders, denn er brachte nur 4000 Dollar- ein. Das nächste Jahr brachte ihm zwei Gattinnen, eine in Genua und eine in Florenz. Bald darauf war er wieder in Amerika und heiratete ohne jemals erkannt zu werden, in Kirchen und Synagogen. 1904 war er in London, heiratete und ging ohne Frau nach Mexiko. Dort wurde er von einer seiner ersten Frauen erkannt und von da ab unablässig verfolgt, bis er schließlich in Buffalo der Polizei in die Hände fiel. - Bisher haben sich auf die Aufforderung der Buffaloer Polizei nahe an hundert angetraute
Gattinnen des Gauners gemeldet. Schotze ist 43 Jahre alt und ein höchst Intelligenter Mann, der fast alle Kultursprachen spricht^
Peking 31. Dez. Die Hungersnot, die infolge der durch die übermäßigen Regenfälle herbeigeführten Mißernte in Schansi, in Honan, im südlichen Teile von Schantung und im ganzen Norden von Kiangsu herrscht, ist viel schlimmer, als eine solche, die in den letzten 40 Jahren vorgekommen ist. 40 Millionen Menschen find dem Verhungern nahe. Zehntausende befinden sich auf der Wanderung. Die Gefahr wird vermehrt durch die Tätigkeit der geheimen Gesellschaften, denen sich das Volk willig anschließt, um Reis zu erhalten. Bei den Vizekönigen sind wiederholt Bittschriften wegen der geheimen Gesellschaften eingereicht worden. 50000 Flüchtlinge sind in bejammernswertem Zustande in Nanking angekommen. Die Behörden sind außerstande, dem Elende wirksam abzuhelfen. Ausländische Hilfe ist willkommen. Heute wurde ein Edikt erlassen, durch das die Landpachten in der Provinz Schantung zeitweilig aufgehoben werden, da die Bevölkerung wegen der Hungersnot nicht imstande ist, sie zu bezahlen.
Die Vermählung Andrö Giron«, de» .Helden" in der bekannten Eheirrung, hat am 27. l. M. in Brüssel stattgefunden. Der B.-L.-A. schreibt darüber: Eine stattliche Brünette, Fräulein Jeanne Breaem, ist's, die sich vermißt, den gefährlichen Verführer, der sich im Glorienschein seines sächsischen Abenteuers sonnt, für Lebenszett in Ehefesseln festzuhalten. In der Kirche, wo das Paar zu dauerndem Bunde zusammengeschmiedet wurde, hatte sich trotz des greulichen Schneewetters ein ebenso elegantes wie neugieriger Damenpublikum eingefunden, um den zum letzten Male „interessanten" Andre Giron zu sehen. Heute ist er nichts mehr als ein langweiliger, ver- heirgteter Mann, der seinen künftigen Kindern nicht einmal erzählen darf, wodurch er einst berühmt geworden war.
Die „englische" Weste. Von einem kleinen spaßhaften Erlebnis erzählt H. v. Zobeltitz in einem soeben in Velhagen und Klasing» Monatsheften veröffentlichten Artikel über Cre- felder Seide: „Ich plauderte im Kontor jeines Crefelder Fabrikanten, und plötzlich sagte der Herr: „Ihre Weste ist übrigens mein Erzeugnis!" Ich schüttelte den Kopf und meinte wohl etwas verlegen: „Das muß doch ein Irrtum sein. Denn ich weiß zufällig genau, daß der Stoff in London gekauft ist." Da winkte der Fabrikant einem seiner jungen Leute, und wenige Minuten darauf lag der Stoff im Stück vor mir: „Ohne Zweifel hat Ihr Bekleidungskünstler den Stoff in einem der ersten Londoner Geschäfte gekauft. . . aber Sie sehen, mein Fabrikat ist es dennoch'!" Er geht unseren verehrten Damen mit manchem anderen Stoff nicht anders; wer z. B. in den letzen Jahren die jetzt so beliebten dünnen Velours aus einem Pariser Hause bezogen hat, kann ziemlich sicher sein, daß der Stoff aus dem rheinischen Jndustriebezirk stammte. Er war nur durch den Zoll verteuert: aber das schadet ja nichts, denn er kam aus Paris! ... O Du lieber deutscher Michel — wann wirst Du klug werden?"
Gottesdienste.
Hrschei»««g»fest, 6. Jan. Vom Turm: 116,
Predigtlied: 224. Eine Herde rc. 9'/, Uhr-. Vorwitt.-Predigt, Dekan Ro o S. 1 Uhr: Christenlehre mit den Töchtern. 5 Uhr: Missionsstunde iw Vereinshaus, Stadtpfarrcr Schmid. TaS Opfer ist für die Basler Mission in Kamerun bestimmt.
Aonnereteg, 10. Jan., 8 Uhr abends: Bibelstundr im Vereinshaus, Stadtpfarrer Schmid.
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