Aus -em verwaltungs- und Wirtschaftsausschud

Um Zölle und Kontingente

Stuttgart, 3. Dez. Der Landtag hat seine Samstagsitzung ausfallen lassen, um dem Ausschuß sür Verwaltung und Wirt­schaft Gelegenheit zu geben zur Beratung der wirtschaftlich und politisch sehr umstrittenen wirtschaftspolitischen Anträge des Bauernbundes. Diese betreffen das gesamte Gebiet der Handels- und Zollpolitik auf dem Gebiet landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Gefordert wird vor allem die Aufhebung der Meistvergüustigung, Lösung aller Zollbindungen, neben aus­reichenden Zöllen sofortige Festsetzung von Kontingenten. Abg. Dr. Ströbel (B.B,) begründete die Anträge des Bauernbunds. Wirtschaftsminister Dr. Maier uihrte aus, daß diese Anträge das Gesamtgebiet unserer Wirtschaftspolitik betreffen. Hiefjir ist in erster Linie das Reich entscheidend. Die Interessen in den einzelnen Gruppen und Gebieten von Industrie und Landwirtschaft liegen auch nicht gleich. Die württembergische Industrie und Landwirtschaft haben ganz andere Verhältnisse gegenüber Norddeutschland. Beide Gruppen sind bet uns eng verbunden. Die Landwirtschaft ist auch stark wieder mit Ar- Leiterverhältnissen gemischt, in ihrem Absatz von der Lage der württembergischen Gesamtwirtschast abhängig. Wir kön­nen keine einseitige Wirtschaftspolitik treiben, sondern nur eine solche des Ausgleichs. 5060 Prozent der württembergi­schen Jndustrieerzeugnisse geht auf die Ausfuhr gegen etwa 38 Prozent im Reiche. Der Minister legt ausführlich die Ge­samtlage der württembergischen Wirtschaft dar, die beweise, daß wir die Ausfuhrtore uns nicht verschließen dürfen ohne schwerste Gefahren für das Ganze. Unter dem unglücklichen Autarkiegedanken wird selbst im inneren Markt eine Politik der Abschließnng getrieben: Land gegen Land, Gemeinde gegen Gemeinde, die zum wirtschaftlichen Widersinn wird. Un­sere württembergische Veredelungs-Landwirtschaft ist stärker von der Gesamtlage der Jndustriewirtschaft abhängig wie die reine Getreidewirtschaft. Die württembergische Regierung habe darum die Frage des Schutzes der Veredelungsprodukte immer wieder in den Vordergrund gestellt. Diese Produkte sind aber im Absatz viel empfindlicher und von der Kaufkraft abhängiger als das Brotgetreide. Die Veredelungsprodukte sind gefallen mit jeder Einkommcnssenkung der Verbraucher. In der Viehwirtschaft zeige sich dies am besten. Hier haben wir die Binnenwirtschaft. In den Preisen selbst bestehen große Unterschiede durch den Schutz gewisser Artikel, sei es durch staatliche Maßnahmen oder Kartelle. Die Maßnahme der Kontingente betrachtet der Minister als solche der Vergel­tung und der Gegen-Repressalien. In bestimmten Fällen kön­nen sie als Sondermaßnahmen zur Anwendung kommen. Die Kontingenticrungsmaßnahmen der letzten Regierung unter dem Reichsernährungsminister Frhr. v. Braun seien eine Sache für sich. Der Minister stellte fest, daß seitens des Rei­ches den Ländern bestimmte Vorschläge über die Kontingen- tierungspläne nicht gemacht wurden. Durch die taktisch ver­fehlten Maßnahmen der Regierung v. Papenv. Braun die innerlich hier auseinanderfiel wurde nur großer Scha­den angerichtet. Die Kontingentierungsaktion verkrachte. So mußte aus gesamtwirtschaftlichen und finanziellen Gründen von der verflossenen Reichsregierung die Absicht der Kontin­gente selbst aufgegeben werden. Das Reichsernährungsmini­sterium hat zugegeben, daß die Gesamtwirtschaft Württem­bergs durch die Kontingentierungsmaßnahmen Schaden er­leidet. Man war aber dort der Meinung, daß dies in Kauf genommen werden müsse ans allgemeinen Gründen. Präsi­dent Dr. Springer behandelte die inneren Landesmaßnahmen zur Förderung des landwirtschaftlichen Absatzes. Zu nennen sind u. a.: die Durchorganisierung der württembergischen Milchwirtschaft, wozu vom Reich ein Zuschuß von einer hal­ben Million Mark gereicht wurde; die Maßnahmen für den Absatz von Butter, Käse, Vieh und Fleisch, Verhinderung der Gefrierfleischeinfuhr, Absatz von Eier, Obst, Gemüse, Zucker­rüben, Erhöhung der Anbauflächen für Tabak und Zichorie, Hopfenschutz. Oberregierungsrat Schiller berichtete über die Maßnahmen der württ. Industrie auf dem Gebiet der Han­delspolitik. Die Größenordnung unserer Hauptinteressen zeigt zahlenmäßig nach der deutschen Handelsstatistik im reinen Warenverkehr: Niederlande Einfuhr 383, Ausfuhr 954 Mil­lionen Mark, ergibt ein Saldo von 571 Mill. Die Saldozah- len für Deutschland 1931 sind weiter: Skandinavische Länder! 554 Millionen, Frankreich 492, Schweiz 377, Belgien-Luxem-! bürg 241, Italien 72, Großbritannien 680, Tschechei 180, Öster­reich 161. Das ergibt für Deutschland ein Aktivsaldo von I 3330 Millionen. Innerwirtschaftlich könne die Landwirtschaft I

den Wegfall der Ausfuhr nicht ersetzen. Von den Sozialdemo­kraten und den Nationalsozialisten werden zwei Anträge ein­gebracht. Der erste verlangt einen Bericht über die Schädi­gung der württ. Wirtschaft, die durch die Kontingentsaktion der Reichsregierung entstanden sind, der zweite Antrag ver­langt ein umfassendes, großzügiges Arbeitsbeschaffungspro­gramm. Die Weiterberatung wird bis nach Vortage des Pro­tokolls über die Sitzung vertagt.

Luther überWirtschaft und Währung"

München, 3. Dez. Reichsbankpräsident Dr. Luther sprach am Samstag mittag auf der Jahrestagung des Bundes der Freunde der Technischen Hochschule München überWirtschaft und Währung". Dr. Luther ging davon aus, daß die Ansicht, daß sich der in dem bestehenden Regierungsprogramm enthal­tene privatwirtschaftliche Belebungsgedanke nicht , bewährt habe, ein vorschnelles und unbegründetes Urteil darstelle. Die Steuergutfchcine seien durch die Beschlüsse der Reichsbank für ein Kreditinstitut von besonders hoher, ja einzigartiger Aus­nutzbarkeit gemacht worden. Der Steuergutschein müsse wei­ter in die breite Masse der Steuerzahler eindrinaen. Von den 700 Millionen Mark, die für die öffentliche Arbeitsbeschaffung bereitgesteüt feien, sei bis heute nur etwa die Hälfte durch wirkliche Auftragserteilung verwertet worden. Die Reichsbank habe angeregt, ob nicht gewisse, erst im Frühjahr mögliche Arbeiten zurückgestellt und die dadurch freiwerdenden Kredite für alsbald ausführbare Arbeiten verwendet werden könnten. Die 700 Mill. Mark Lohnprämien in Form von Steuergut­scheinen seien noch so gut wie nnbelegt, da anscheinend nur recht wenig Neueinstellungen im Hinblick auf Prämien- Steuergutscheine erfolgt seien.

Verfälschungen und Verschleierungen des Kreditsystems, so führte Dr. Luther weiter aus, führten notgedrungen zu größ­ten Fehlleitnngen des Kredits. Man wisse ja aus eigener Er­fahrung, daß schon ein zu starker Konjunkturoptimismus und eine dadurch gewährte Uebertreibung in der Kredithergabe genügten, um schwere Fehlleitungen von Kapital zu verur­sachen. Die furchtbare Krise würde an manchem Punkte we­niger schwer gewesen sein, wenn die deutsche Kreditwirtschaft größere Zurückhaltung geübt hätte.

Virllerjahir freigespeochen

vv. Leipzig, 3. Dez. Im Bullerjahn-Prozeß verkün­dete das Reichsgericht heute mittag folgendes Urteil: Der An­geklagte Walter Bullerjahn wird unter Aufhebung des Urteils des vierten Strafsenats des Reichsgerichts vom 11. Dezember 1825 auf Kosten der Reichskaffe freigesprochen.

In seiner Begründung zur Freisprechung des Angeklag­ten Bullerjahn erklärte Senatspräsident Dr. Tünger in erster Linie:Die Freisprechung ist mangels ausreichenden Beweises geschehen. Der Angeklagte bleibt in nicht unerheblichem Maße verdächtig!"

Das Wichtigste beim kaffeekochen ist ein Zusatz -er guten Kaffeewürze

MT

Nach der Urteilsverkündung erlitt die im Zuhörerraum sitzende Mutter Bullerjahns einen Zusammenbruch; sie mußte von dem Bruder des Angeklagten hinausgeführt werden.

See Anmarsch aus Washington

Vor der Eröffnung des Kongresses

vv. Washington, 4. Dez. Während die Parlamentarier beider Häuser sich in Washington zu der morgen beginnenden Tagung des Kongresses versammeln, sind alle Zufahrtsstraßen zur Bundeshauptstadt von starken Polizeiaufgeboten besetzt, da sich aus dem Westen größere Züge von notleidenden Far­mern und aus dem Norden organisierte Trupps von Kommu­nisten teilweise in Rotfrontnniform der Stadt nähern, um bei der Eröffnung des Kongresses vor dem Kapitol zu demon­strieren. Die Polizei ist mit Tränengas ausgerüstet. Das Militär in der Umgebung Washingtons hat ebenfalls einen Vorrat von Tränengasbomben und Polizeiknüppeln erhalten, um notfalls die Polizei verstärken zu können. Die Tradition, daß am 1. Sitzungstag lediglich die Formalien erledigt wer­den und der Kongreß sich dann als Ehrung für die verstor­benen Mitglieder vertagt, dürfte diesmal durchbrochen werden, da der Speaker des Repräsentantenhauses, Garner, sofort den Entwurf zur Aenderung der Prohibitionsvorschriften erbrin­gen und ohne Ansschußberatung durchpeitschen will. Die Er­reichung dieses Zieles ist freilich unwahrscheinlich.

Wirtschaft im Blitzlicht

Rückgang der Milchanlieferung. Nach den Ziffern des soeben erschienenen 2. November-Heftes vonWirtschaft und Statistik" betrug die Milchanlieferung im September nur 92 Prozent des Vormonats. Von Oberschlesien und Süddeutsch­land abgesehen ging überall die Milchanlieferung zurück. In Lübeck war der Rückgang am stärksten.

Immer noch höhere Einnahmen als 1926! Die Steuern - und Zolleinnahmen der öffentlichen Hand erreichten im Rech­nungsjahr 1931/32 eine Höhe von 11,9 Milliarden RM. Das ist noch um ein Siebentel mehr als im Rechnungsjahr 1925/26. Wir vergleichen die sinkenden Einnahmen der öffentlichen Ver­waltungen gerne mit dem Rekordjähr 1929/30, was sicherlich nicht einwandfrei ist. Die Tatsache, daß wir im Rechnungs­jahr 1931/32 immer noch mehr Steuern und Zölle als 1925 aus der Wirtschaft heranspreßten, müßte die öffentlichen Ver­waltungen zu rücksichtslosem Sparen veranlassen, damit die Abgaben endlich ans ein vernünftigeres Maß herabgedrückt werden.

Schwarze Ziffern. Der Geburtenüberschuß Deutschlands sank auf 1000 Einwohner berechnet von 6,9 (i. I. 1930) auf 1,3 in diesem Jahre. Wenngleich Bayern immer noch über dem Reichsdurchschnitt steht, so ist der Zusammenbruch der Geburtenüberschüsse in diesem Lande verhältnismäßig noch schlimmer als im Rcichsdurchschnitt. Jüngst hat ein tschechi- fchcs Blatt seine große Schadenfreude über den Rückgang der deutschen Geburten unverhohlen geäußert. Es sollte doch zu denken geben, wenn mißgünstige Nachbarn sich darüber freuen!

Selbstmord die 7. Todesursache. Die Reichsstatistik zählt rund 21 Todesursachen auf, die einigermaßen Interesse finden könnten. Von 10 000 Einwohnern starben im zweiten Viertel 1932 die meisten, nämlich 14 Personen, an Krebs. Rund 13 erlagen den Herzkrankheiten. Dann folgt die ge­fürchtete Tuberkulose, die Altersschwäche usw. An 7. Stelle sieht unter den 21 Todesursachen der Selbstmord. Fast vier Menschen schieden unter 10 000 Einwohnern im 2. Viertel freiwillig aus dem Leben. Eine unerhört traurige Tatsache.

*

Der Bolschewismus überwunden. H. R. Knickerbocker, der bekannte amerikanische Journalist, bereiste eben Europa. Ueber seine recht bemerkenswerten Eindrücke erzählt er u. a.: Nach Beendigung meiner großen, 6500 Kilometer langen Studienreise durch ganz Europa bin ich der lleberzeugung, daß derzeit der Kapitalismus und der Faschismus führend sind und der Bolschewismus nirgends Vordringen kann. Die Kreditkrise in Europa ist überwunden, der Kapitalmarkt be­lebt sich, die Regierungen sind stabiler, die Warenpreise sind in Aufwärtsbewegung begriffen, in den meisten Ländern sind die Budgets ausbalanziert und ich habe es mit eigenen Augen gesehen die Mehrzahl der vierhundert Millionen Europäer lebt bereits bester als früher." (?)

Roman von Friedrich Lange.

Urheberschutz: Verlag F. Lange, Hohenstein-Er. (Sa.) 37)

Um die Peinliche Tatsache des Diebstahls zu mildern und zu bemänteln, fuhr er lächelnd fort:Die Erfindung muß noch ergänzt werden. Ich habe schon verschiedene Ideen dazu. In der jetzigen Fassung ist die Sache nicht zu verwerten."

Er hatte cs plötzlich fehr eilig.

Wenn ich heute wieder zurück sein will, mnß ich nun aufbrechen. Ich nehme den Merzbacher Weg."

Also Teufelswurzgarten . . ." nickte Toni wissend. Und bittend:Einen Augenblick noch. Rainer. Wir sind gleich fertig, wenn dn mir die Zeichnung aushändigst! Ich habe Kerk- hofs versprochen, sie ihm zu beschaffen."

Vidors Gesicht verfinsterte sich. Zum Teufel sollte er vor diesem Mädel kapitulieren? In seiner Bedrängnis kam ihm eine neue Idee.

Wenn ich znrückkomme, also heute abend, gebe ich dir das Gewünschte. Bis dahin wirst du dich gedulden."

Wenn Toni glaubte, Leben und Seligkeit hinge von dem Wisch ab, sollte sie ihn haben. Aber zuvor wollte er sich droben im Fels in aller Eile eine Kopie davon anfertigen . . . Nachher würde ihm die Rückgabe des fremden Eigentums nicht mehr Weh tun . . .

Toni preßte die Lippen zusammen.

Du wirst dich auf der andern Seite abseilen . . ." zwei­felte sie seine Aufrichtigkeit an. Es zitterte verborgener Schmerz in ihren Worten.

Die Weichheit und halbe Nachgiebigkeit machten Vidor warm. Nun liebte er das Mädel auf seine Art. Aber das genügte nickt, er wollte es auch zeigen.

,L>ier hast du meine gesamte Barschaft zum Pfand!" Er entnahm seiner Brieftasche ein schmales Bündel Bank­noten, mehrere tausend Schilling, schob es über den Tisch. Seine Hand zitterte ein wenig, als er eine Anweisung aus die Jsabelbank in Rio dazulegte.

Das alles gehört dir, wenn ich abstürze . . ." sagte er leise mit merkwürdig belegter Stimme.

Nun sah sich Toni gezwungen, zuzugreifen. Dieser Han­del angesichts des dränenden Berges war ihr keineswegs sympathisch. Um der Situation die gefühlsmäßige Note zu nehmen, lachte sie gezwungen.

Geh. Rainer! Du als guter Bergsteiger wirst wissen, daß man nicht zum Spas; dem Totenkirchl auf den Buckl steigt!"

Er nickte. So ernst hatte ihn Toni noch nicht gesehen. Wortlos kritzelte er ein paar Worte auf ein aus dem Notiz­block gerissenes Blatt, reichte es hinüber.

Da. für alle Fälle."

Toni nahm und las:

Hiermit setze ich Fräulein Geislinger für den Fall meines Absturzes vom Totenkirchl zu meiner Univer­salerbin ein. Rainer Vidor.

Er stand auf, streckte dem Mädel die Hand hin.

Leb Wohl, Toni."

Sie legte ihre kühle Hand in die seine. Ihre Knie zit­terten. Eine nie gekannte Schwäche hielt sie in Schach. Was das nur sein mochte? Vorahnung? Omen?

Im großen und ganzen liebte das nüchterne Mädel die­ser Zeit die Sentimentalität nicht. Bei ihr herrschte mehr der Kopf, als das Herz. Deshalb nahm sie sich jetzt zusam­men.

Auf Wiedersehen heute abend. Ich werde dich erwarten." In ihrer Stimme war nichts von Weichheit. Sie klang hart, kameradschaftlich. So nahmen Männer Abschied von ein­ander.

Vidor setzte den Hut auf und stapfte mit schweren Schrit­ten hinaus. Er drehte sich nicht mehr um, auch nicht dann, als er Minuten später den Pfad jenseits durch die latschen- bewachsenen Felsköpfe emporstieg.

Toni saß vereinsamt. Irgendein Alp hemmte den Schlag ihres Herzens, jagte ihn dann um so toller vorwärts. Ohne Zweifel: Das war Angst, nackte, lächerliche Angst um den Menschen, der sie soeben verlassen hatte. Und dann wieder lebte Hoffnung mächtig auf: Er geht ohne Führer, er kennt sich aus im Gewinkel des Merzbacher Weges!

O, es war doch nicht so einfach, Abschied von einem Menschen nehmen zu müssen, den man geliebt hatte, trotz aller Enttäuschungen, die er einem bereitete!

Das Geld und Vidors Testament brannte in ihrer Hand.

. . . für den Fall meines Absturzes . . .

Toni schloß die Augen, seufzte nnhörbar:Rainer, komm wieder! Ich mag dein Geld nicht. Die Zeichnung will ich, sonst nichts!"

Trotz beherrschte sie. An Kerkhoff wollte sie gutmachen, was sie fehlte. Dazu gehörte notwendigerweise, daß sie Vidor entsagte. Man kann nicht zwei Herren dienen.

Sie wußte nicht, wie lange sie gesessen hatte. Vom Tal herauf kamen immer wieder Touristen, müde und durch­schwitzt,, und doch nicht ruhsbedürftig. Sie alle stürzten nach Abwurf des Rucksackes wieder hinaus vor das Haus. Die Felsen, die Felsen!

Sie erdrückten mit ihrer ungeheuren Wucht, mit ihren titanischen Ausmaßen das Häuschen mitsamt den schwärmen­den Menschlein, die sich von da oben wie Ameisen ausnehmen mochten, vorausgesetzt, daß sie überhaupt zu sehen waren.

Totenkirchl . .

Schon im Namen lag etwas von dem unheimlichen ge­fahrdrohenden Reiz und Zauber dieses Berges, der noch vor kaum einem Mcnscheualter gefürchtet und gemieden wurde von der Gilde der gipfelfrohen Alpinisten. Jetzt aller­dings war er inMode". Besonders die Münchener Klet­terer nahmen ihn alljährlich immer wieder auf's Korn. Es

gehörte sozusagen zum guten Ton, ihngemacht" zu haben

Bewundernde Ausrufe wurden kaut. DieJochfinken" beobachteten durch das Glas die mutigen Kletterer, die an die­sem sonnigen Morgen das Totenkirchl mit ihrem Besuch beehrken. Langsam aber unaufhörlich krabbelten und krab­belten die sehnigen Gestalten den schwierigen Fels hinan, die meisten am Seil eines Führers. Es gab aber auch genug kühne Alleingeher, die terlweise sogar auf bisher unbegange­nem Fels vorwärts zu dringen versuchten. Mauerhaken wurden geschlagen, Karabiner schnappten ein. Alle die mo­dernen, Hilfsmittel traten in Aktion. Seilquergänge wurden geschaffen, besonders steile Wandstellen mittels Pendelauer- gang bezwungen.

Toni raffte sich ans. Eine halbe Stunde später saß sie auf dem Stripsenkopf, suchte das schiefe Rechteck der Toten- kirchl-Nordflanke mit dem Glase ab. Zwei Stunden mochten seit Vidors Aufbruch vergangen sein. Er mußte also die erste Terrasse schon hinter sich haben. Toni wandte alle Aufmerk­samkeit auf den Nordwestgrat.

Ach, es war Wohl ausgeschlossen, den Kletterer in dem Gewirr von Rinnen und Kaminen zu finden! So sehr sie auch in der Nähe der Schmiedrinne suchte, Vidor wollte nicht ins Glas kommen.

Heiße Angst schnürte ihr die Kehle zu. Wieder stand ihr der Passus in Vidors Testament vor Äugen: ... für den Fall meines Absturzes. . .

.Herrgott, schick ihn wohlbehalten zurück!" betete sie mit zuckenden, stummen Lippen.

Es kamen noch mehr Touristen herauf. Sie schwatzten und lachten. Einige hatten die Nase im Baedeker, lasen laut daraus. Es war nicht ausznhalten.

Hinab!

Toni ging den Steig zum Stripsenjoch zurück. Im Haus sicherte sie sich einen der letzten noch freien Matratzenplätze. Es würden heute wieder viele auf Stroh kampieren müssen. Betten und Matratzen langten in der Hochsaison bei weitem nicht. Die Nnterkunftsmöglichkeiten würden erst einmal besser werden, wenn der Anbau fertig war.

Neuankömmlinge brachten die traurige Kunde vom Ab­sturz zweier Münchener Studenten in der Westwand mit.

Toni hörte es. Sic wollte sich nicht anfregen, bändigte ihre Sorge.

Westwand. Na ja, das war das Schwerste. Wenn irgend­wo. dann rächte sich dort jeder Kletter-Lcichtsinn in furcht­barster Weise!

Vidor hatte den Merzbacher Weg gewählt. Der galt als einer der erträglichsten was manerträglich" am Toten­kirchl nennt...

Nachmittags kehrten die ersten Bergsteiger zurück, die meisten mit versiegelten Lippen, ernstem Gesicht und Augen, in denen das Grauen neben einer unbeschreiblichen, tief in­nerlichen Glückseligkeit wohnte.

Toni wandte sich an einige.

(Fortsetzung folgt.)